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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Seite; das ist kein Widerspruch, sondern eine Tatsache, die wir richtig verstehn
wollen. Gerade das schafft den Reichtum des Lebens, daß jeder nach dieser
zweifachen Richtung sein Leben geltend macht; und wo einer von diesen beiden
Grundzügen der menschlichen Natur allzusehr überwiegt, da sehen wir das
Gleichgewicht gestört und sind mit der Erscheinung unzufrieden. Ernst ohne
künstlerische Heiterkeit artet aus in verdrießliche Grämlichkeit und unfruchtbaren
Asketismus; künstlerische Heiterkeit ohne moralischen Ernst schlüge um nach
frecher Leichtfertigkeit und schamloser Frivolität. Was ist es nun, das wir
alle am Menschen am höchsten schätzen, was ist der wahre Adel, der immer
und immer wieder trotz der unendlich verschieden Wertschätzungen der Lebens¬
güter den Ausschlag gibt; was ist das wirklich Wertvolle, das Bleibende in
der Flucht der Erscheinungen? Was ist es, das den Menschen erst wirklich
zum Menschen macht, was ihm den Stempel der Individualität, der Persönlich¬
keit aufdrückt? Es ist der Charakter. Damit bezeichnen wir die Einheit und
Stetigkeit in der Willensrichtung, wie sie jeder einzelne in seinen Handlungen,
in der ganzen Art und Betätigung seines Lebens zum Ausdruck bringt. Jeder
weiß das, jeder fühlt es; es ist das unzerstörbare Bewußtsein der Verant¬
wortlichkeit, das jeder im eignen Herzen trägt, das Bewußtsein der Verantwort¬
lichkeit -- vor sich selbst!

Ja, aber dem Moralischen gegenüber verhalten sich die Menschen doch sehr
verschieden. Es gibt solche, die moralisch indifferent sind, die das Gefühl der
Verantwortlichkeit überhaupt nicht kennen.

Ganz richtig. Diese stehn gewissermaßen auf dem ^0-Standpunkt. Man
nennt sie charakterlos.

Dann gibt es aber auch solche, die wohl das Gefühl der Verantwortlich¬
keit haben, es aber nicht beachten oder sogar mit Absicht dagegen handeln.

Sie stehn also, wenn ich den mathematischen Ausdruck beibehalten darf,
auf dem Minusstandpunkt, es sind gewissermaßen negative Naturen, obgleich
sie im einzelnen sehr positiv wirken können und sogar in der Regel wirken.
Es sind das die schlechten Charaktere.

Folgerichtig würde sich dann eine dritte Klasse anschließen von solchen, die
das Gefühl der Verantwortlichkeit anerkennen und sich freiwillig seiner Leitung
unterwerfen. Die stünden also nach Ihrer Ausdrucksweise auf dem Plusstand¬
punkt; es wären die positiven Naturen, die guten Charaktere.

Diese Einteilung scheint mir unanfechtbar zu sein, wobei wir allerdings
bedenken müssen, daß eine absolute Reinkultur auf diesem Gebiete wohl un¬
möglich ist, daß das bewegliche Wesen des Menschen wohl fast immer aus
diesen drei Gemütsäußerungen zusammengesetzt sein wird, doch so, daß eine
deutlich überwiegt.

Doch gibt es auch wohl Naturen, bei denen nicht einmal das festzu¬
stellen sein dürfte, die vielmehr willenlos zwischen diesen drei Ecken eines
ethischen Dreiecks -- Sie sehen, ich suche Ihre mathematische Ausdrucksweise


Politik in der Schule

Seite; das ist kein Widerspruch, sondern eine Tatsache, die wir richtig verstehn
wollen. Gerade das schafft den Reichtum des Lebens, daß jeder nach dieser
zweifachen Richtung sein Leben geltend macht; und wo einer von diesen beiden
Grundzügen der menschlichen Natur allzusehr überwiegt, da sehen wir das
Gleichgewicht gestört und sind mit der Erscheinung unzufrieden. Ernst ohne
künstlerische Heiterkeit artet aus in verdrießliche Grämlichkeit und unfruchtbaren
Asketismus; künstlerische Heiterkeit ohne moralischen Ernst schlüge um nach
frecher Leichtfertigkeit und schamloser Frivolität. Was ist es nun, das wir
alle am Menschen am höchsten schätzen, was ist der wahre Adel, der immer
und immer wieder trotz der unendlich verschieden Wertschätzungen der Lebens¬
güter den Ausschlag gibt; was ist das wirklich Wertvolle, das Bleibende in
der Flucht der Erscheinungen? Was ist es, das den Menschen erst wirklich
zum Menschen macht, was ihm den Stempel der Individualität, der Persönlich¬
keit aufdrückt? Es ist der Charakter. Damit bezeichnen wir die Einheit und
Stetigkeit in der Willensrichtung, wie sie jeder einzelne in seinen Handlungen,
in der ganzen Art und Betätigung seines Lebens zum Ausdruck bringt. Jeder
weiß das, jeder fühlt es; es ist das unzerstörbare Bewußtsein der Verant¬
wortlichkeit, das jeder im eignen Herzen trägt, das Bewußtsein der Verantwort¬
lichkeit — vor sich selbst!

Ja, aber dem Moralischen gegenüber verhalten sich die Menschen doch sehr
verschieden. Es gibt solche, die moralisch indifferent sind, die das Gefühl der
Verantwortlichkeit überhaupt nicht kennen.

Ganz richtig. Diese stehn gewissermaßen auf dem ^0-Standpunkt. Man
nennt sie charakterlos.

Dann gibt es aber auch solche, die wohl das Gefühl der Verantwortlich¬
keit haben, es aber nicht beachten oder sogar mit Absicht dagegen handeln.

Sie stehn also, wenn ich den mathematischen Ausdruck beibehalten darf,
auf dem Minusstandpunkt, es sind gewissermaßen negative Naturen, obgleich
sie im einzelnen sehr positiv wirken können und sogar in der Regel wirken.
Es sind das die schlechten Charaktere.

Folgerichtig würde sich dann eine dritte Klasse anschließen von solchen, die
das Gefühl der Verantwortlichkeit anerkennen und sich freiwillig seiner Leitung
unterwerfen. Die stünden also nach Ihrer Ausdrucksweise auf dem Plusstand¬
punkt; es wären die positiven Naturen, die guten Charaktere.

Diese Einteilung scheint mir unanfechtbar zu sein, wobei wir allerdings
bedenken müssen, daß eine absolute Reinkultur auf diesem Gebiete wohl un¬
möglich ist, daß das bewegliche Wesen des Menschen wohl fast immer aus
diesen drei Gemütsäußerungen zusammengesetzt sein wird, doch so, daß eine
deutlich überwiegt.

Doch gibt es auch wohl Naturen, bei denen nicht einmal das festzu¬
stellen sein dürfte, die vielmehr willenlos zwischen diesen drei Ecken eines
ethischen Dreiecks — Sie sehen, ich suche Ihre mathematische Ausdrucksweise


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[0180] Politik in der Schule Seite; das ist kein Widerspruch, sondern eine Tatsache, die wir richtig verstehn wollen. Gerade das schafft den Reichtum des Lebens, daß jeder nach dieser zweifachen Richtung sein Leben geltend macht; und wo einer von diesen beiden Grundzügen der menschlichen Natur allzusehr überwiegt, da sehen wir das Gleichgewicht gestört und sind mit der Erscheinung unzufrieden. Ernst ohne künstlerische Heiterkeit artet aus in verdrießliche Grämlichkeit und unfruchtbaren Asketismus; künstlerische Heiterkeit ohne moralischen Ernst schlüge um nach frecher Leichtfertigkeit und schamloser Frivolität. Was ist es nun, das wir alle am Menschen am höchsten schätzen, was ist der wahre Adel, der immer und immer wieder trotz der unendlich verschieden Wertschätzungen der Lebens¬ güter den Ausschlag gibt; was ist das wirklich Wertvolle, das Bleibende in der Flucht der Erscheinungen? Was ist es, das den Menschen erst wirklich zum Menschen macht, was ihm den Stempel der Individualität, der Persönlich¬ keit aufdrückt? Es ist der Charakter. Damit bezeichnen wir die Einheit und Stetigkeit in der Willensrichtung, wie sie jeder einzelne in seinen Handlungen, in der ganzen Art und Betätigung seines Lebens zum Ausdruck bringt. Jeder weiß das, jeder fühlt es; es ist das unzerstörbare Bewußtsein der Verant¬ wortlichkeit, das jeder im eignen Herzen trägt, das Bewußtsein der Verantwort¬ lichkeit — vor sich selbst! Ja, aber dem Moralischen gegenüber verhalten sich die Menschen doch sehr verschieden. Es gibt solche, die moralisch indifferent sind, die das Gefühl der Verantwortlichkeit überhaupt nicht kennen. Ganz richtig. Diese stehn gewissermaßen auf dem ^0-Standpunkt. Man nennt sie charakterlos. Dann gibt es aber auch solche, die wohl das Gefühl der Verantwortlich¬ keit haben, es aber nicht beachten oder sogar mit Absicht dagegen handeln. Sie stehn also, wenn ich den mathematischen Ausdruck beibehalten darf, auf dem Minusstandpunkt, es sind gewissermaßen negative Naturen, obgleich sie im einzelnen sehr positiv wirken können und sogar in der Regel wirken. Es sind das die schlechten Charaktere. Folgerichtig würde sich dann eine dritte Klasse anschließen von solchen, die das Gefühl der Verantwortlichkeit anerkennen und sich freiwillig seiner Leitung unterwerfen. Die stünden also nach Ihrer Ausdrucksweise auf dem Plusstand¬ punkt; es wären die positiven Naturen, die guten Charaktere. Diese Einteilung scheint mir unanfechtbar zu sein, wobei wir allerdings bedenken müssen, daß eine absolute Reinkultur auf diesem Gebiete wohl un¬ möglich ist, daß das bewegliche Wesen des Menschen wohl fast immer aus diesen drei Gemütsäußerungen zusammengesetzt sein wird, doch so, daß eine deutlich überwiegt. Doch gibt es auch wohl Naturen, bei denen nicht einmal das festzu¬ stellen sein dürfte, die vielmehr willenlos zwischen diesen drei Ecken eines ethischen Dreiecks — Sie sehen, ich suche Ihre mathematische Ausdrucksweise

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/180>, abgerufen am 24.07.2024.