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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Vie neue Baugesinnung

im besten Sinne, ein Zentralorgan für die Erörterung der wichtigsten Fragen
städtischer Ausgestaltung nach künstlerischen Grundsätzen, nicht mehr nur nach
den Anforderungen der Ingenieure und Techniker. Das ist der Unterschied,
und er ist bedeutsam: der Baumeister tritt wiederum auf das Arbeitsfeld, weil
die Ingenieurkunst baumeisterliche Aufgaben der Städte nicht würdig lösen
kann. Die Phantasie, die nicht nur Hindernisse der Natur zu überwältigen
und unschädlich zu machen trachtet, sondern die vom Lebensgefühl des Menschen
ausgeht, die den Raum und die Dinge im Raum so gestalten will, daß das
Leben freudenreich und lebenswert wird -- diese lang gehemmte Bildkraft des
Architekten macht wiederum ihre Ansprüche geltend. Die Zeitschrift ist bestrebt,
sie mit wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen ihres Wirkens in Ein¬
klang zu setzen. Es handelt sich also um werdende Dinge, die Ergebnisse von
Wettbewerben werden im Bilde gezeigt und besprochen, neue Möglichkeiten in
allen Fragen des Städtebaues werden angeregt, kurz, ein wirklich lebendiges
Organ der neuen Baugesinnung. Es sollte auf keinem öffentlichen Bau¬
amte fehlen.

Kritische, meist recht bitter kritische Wanderungen durch Wien unternimmt
Joseph August Lux unter dem etwas preziösen Titel "Wenn du vom Kahlen-
berg . . ." (Wien/Akademischer Verlag). Er gibt kleine architektonische Zustands¬
bilder ans dem alten und aus dem neuen Wien, Bilder, die sich unwillkürlich
wie Beispiele und Gegenbeispiele ausnehmen. "Für einheimische und auswärtige
Fremde", bemerkt Lux sarkastisch. Als ich durch die alte Kaiserstadt schlenderte,
habe ich ein solches Buch gesucht und nicht gefunden, das den Fremden über
die ledern kunsthistorische Stilunterscheidung hinaus und in den Geist der alten,
auch der bescheiden bürgerlichen Baudenkmäler einführen könnte. Es hätte nichts
geschadet, wenn die Streifzüge den erinnerungsreichen Boden noch etwas
systematischer aufgeklärt Hütten. Anstatt dessen haben wir nun kunstpolitische
Entrüstung, auch ehrlichen Zorn, immer durchsetzt von positiven Vorschlägen,
die man meist unterschreiben kann. Sie entstammen demselben Widerwillen gegen
die hohle Phrase, gegen die Lästigkeit und den Ungeschmack, mit dem wir ähn¬
lichen Zuständen unsrer ästhetischen und künstlerischen Kultur im Reiche ent¬
gegentreten. Dabei ist Wien aber immer noch ein Ort, wo künstlerische Keime
zu gedeihen scheinen. Blättert man zum Beispiel die Ergebnisse aus der Wiener
Kunstgewerbeschule durch, die als besondre Monographie "Jung-Wien" gesammelt
sind (Darmstadt, Alexander Koch, 10 Mary, so staunt man über die oft recht
glücklichen Einfälle von Talenten, unter denen die weiblichen fast überwiegen.
Im guten Sinne dekorativ sind diese Schularbeiten alle, sie erstrecken sich von
der Haus- und Gartenarchitektur bis zu Stickereien, Geweben und Buchschmuck¬
versuchen. Wieweit die jungen Baumeister ihre hübschen Wohnhausmodelle
allerdings konstruktiv durchdacht und nach bestimmten Naumansprüchen gestaltet
haben, ist aus den mitgeteilten Abbildungen nicht erkennbar; auch aus dem
Texte von Lux nicht, in dem mit Recht eine angemessene Grundrißanlage als


Vie neue Baugesinnung

im besten Sinne, ein Zentralorgan für die Erörterung der wichtigsten Fragen
städtischer Ausgestaltung nach künstlerischen Grundsätzen, nicht mehr nur nach
den Anforderungen der Ingenieure und Techniker. Das ist der Unterschied,
und er ist bedeutsam: der Baumeister tritt wiederum auf das Arbeitsfeld, weil
die Ingenieurkunst baumeisterliche Aufgaben der Städte nicht würdig lösen
kann. Die Phantasie, die nicht nur Hindernisse der Natur zu überwältigen
und unschädlich zu machen trachtet, sondern die vom Lebensgefühl des Menschen
ausgeht, die den Raum und die Dinge im Raum so gestalten will, daß das
Leben freudenreich und lebenswert wird — diese lang gehemmte Bildkraft des
Architekten macht wiederum ihre Ansprüche geltend. Die Zeitschrift ist bestrebt,
sie mit wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen ihres Wirkens in Ein¬
klang zu setzen. Es handelt sich also um werdende Dinge, die Ergebnisse von
Wettbewerben werden im Bilde gezeigt und besprochen, neue Möglichkeiten in
allen Fragen des Städtebaues werden angeregt, kurz, ein wirklich lebendiges
Organ der neuen Baugesinnung. Es sollte auf keinem öffentlichen Bau¬
amte fehlen.

Kritische, meist recht bitter kritische Wanderungen durch Wien unternimmt
Joseph August Lux unter dem etwas preziösen Titel „Wenn du vom Kahlen-
berg . . ." (Wien/Akademischer Verlag). Er gibt kleine architektonische Zustands¬
bilder ans dem alten und aus dem neuen Wien, Bilder, die sich unwillkürlich
wie Beispiele und Gegenbeispiele ausnehmen. „Für einheimische und auswärtige
Fremde", bemerkt Lux sarkastisch. Als ich durch die alte Kaiserstadt schlenderte,
habe ich ein solches Buch gesucht und nicht gefunden, das den Fremden über
die ledern kunsthistorische Stilunterscheidung hinaus und in den Geist der alten,
auch der bescheiden bürgerlichen Baudenkmäler einführen könnte. Es hätte nichts
geschadet, wenn die Streifzüge den erinnerungsreichen Boden noch etwas
systematischer aufgeklärt Hütten. Anstatt dessen haben wir nun kunstpolitische
Entrüstung, auch ehrlichen Zorn, immer durchsetzt von positiven Vorschlägen,
die man meist unterschreiben kann. Sie entstammen demselben Widerwillen gegen
die hohle Phrase, gegen die Lästigkeit und den Ungeschmack, mit dem wir ähn¬
lichen Zuständen unsrer ästhetischen und künstlerischen Kultur im Reiche ent¬
gegentreten. Dabei ist Wien aber immer noch ein Ort, wo künstlerische Keime
zu gedeihen scheinen. Blättert man zum Beispiel die Ergebnisse aus der Wiener
Kunstgewerbeschule durch, die als besondre Monographie „Jung-Wien" gesammelt
sind (Darmstadt, Alexander Koch, 10 Mary, so staunt man über die oft recht
glücklichen Einfälle von Talenten, unter denen die weiblichen fast überwiegen.
Im guten Sinne dekorativ sind diese Schularbeiten alle, sie erstrecken sich von
der Haus- und Gartenarchitektur bis zu Stickereien, Geweben und Buchschmuck¬
versuchen. Wieweit die jungen Baumeister ihre hübschen Wohnhausmodelle
allerdings konstruktiv durchdacht und nach bestimmten Naumansprüchen gestaltet
haben, ist aus den mitgeteilten Abbildungen nicht erkennbar; auch aus dem
Texte von Lux nicht, in dem mit Recht eine angemessene Grundrißanlage als


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[0148] Vie neue Baugesinnung im besten Sinne, ein Zentralorgan für die Erörterung der wichtigsten Fragen städtischer Ausgestaltung nach künstlerischen Grundsätzen, nicht mehr nur nach den Anforderungen der Ingenieure und Techniker. Das ist der Unterschied, und er ist bedeutsam: der Baumeister tritt wiederum auf das Arbeitsfeld, weil die Ingenieurkunst baumeisterliche Aufgaben der Städte nicht würdig lösen kann. Die Phantasie, die nicht nur Hindernisse der Natur zu überwältigen und unschädlich zu machen trachtet, sondern die vom Lebensgefühl des Menschen ausgeht, die den Raum und die Dinge im Raum so gestalten will, daß das Leben freudenreich und lebenswert wird — diese lang gehemmte Bildkraft des Architekten macht wiederum ihre Ansprüche geltend. Die Zeitschrift ist bestrebt, sie mit wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen ihres Wirkens in Ein¬ klang zu setzen. Es handelt sich also um werdende Dinge, die Ergebnisse von Wettbewerben werden im Bilde gezeigt und besprochen, neue Möglichkeiten in allen Fragen des Städtebaues werden angeregt, kurz, ein wirklich lebendiges Organ der neuen Baugesinnung. Es sollte auf keinem öffentlichen Bau¬ amte fehlen. Kritische, meist recht bitter kritische Wanderungen durch Wien unternimmt Joseph August Lux unter dem etwas preziösen Titel „Wenn du vom Kahlen- berg . . ." (Wien/Akademischer Verlag). Er gibt kleine architektonische Zustands¬ bilder ans dem alten und aus dem neuen Wien, Bilder, die sich unwillkürlich wie Beispiele und Gegenbeispiele ausnehmen. „Für einheimische und auswärtige Fremde", bemerkt Lux sarkastisch. Als ich durch die alte Kaiserstadt schlenderte, habe ich ein solches Buch gesucht und nicht gefunden, das den Fremden über die ledern kunsthistorische Stilunterscheidung hinaus und in den Geist der alten, auch der bescheiden bürgerlichen Baudenkmäler einführen könnte. Es hätte nichts geschadet, wenn die Streifzüge den erinnerungsreichen Boden noch etwas systematischer aufgeklärt Hütten. Anstatt dessen haben wir nun kunstpolitische Entrüstung, auch ehrlichen Zorn, immer durchsetzt von positiven Vorschlägen, die man meist unterschreiben kann. Sie entstammen demselben Widerwillen gegen die hohle Phrase, gegen die Lästigkeit und den Ungeschmack, mit dem wir ähn¬ lichen Zuständen unsrer ästhetischen und künstlerischen Kultur im Reiche ent¬ gegentreten. Dabei ist Wien aber immer noch ein Ort, wo künstlerische Keime zu gedeihen scheinen. Blättert man zum Beispiel die Ergebnisse aus der Wiener Kunstgewerbeschule durch, die als besondre Monographie „Jung-Wien" gesammelt sind (Darmstadt, Alexander Koch, 10 Mary, so staunt man über die oft recht glücklichen Einfälle von Talenten, unter denen die weiblichen fast überwiegen. Im guten Sinne dekorativ sind diese Schularbeiten alle, sie erstrecken sich von der Haus- und Gartenarchitektur bis zu Stickereien, Geweben und Buchschmuck¬ versuchen. Wieweit die jungen Baumeister ihre hübschen Wohnhausmodelle allerdings konstruktiv durchdacht und nach bestimmten Naumansprüchen gestaltet haben, ist aus den mitgeteilten Abbildungen nicht erkennbar; auch aus dem Texte von Lux nicht, in dem mit Recht eine angemessene Grundrißanlage als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/148>, abgerufen am 24.07.2024.