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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Er und Sie

dem vertraulichen Du anreden; diese Gepflogenheit hat sich auch das ungarische
Abgeordnetenhaus zu eigen gemacht. Alle dessen Mitglieder reden einander
mit Du an, auch wenn der eine Ministerpräsident, der andre ein bescheidner
Advokat ist. Alle Schauspieler duzen sich; die Mitglieder des Deutschen und
Österreichischen Alpenvereins stehen auf Du und Du. Bis zur Mitte des
vorigen Jahrhunderts redeten sich auf kleinen Universitäten alle Studenten mit
Du an, ob Bekannte oder nicht. Was Wunder? Sie waren Pairs.

Wenn dagegen ein Unterschied bestand, so hatte der geringe Mann den
gnädigen Herrn im Plural anzureden und zu ihrzen; dieser höfliche Plural er¬
scheint zuerst im neunten Jahrhundert. Er sollte den großen Abstand des
Redenden von der geheiligten Person des Angeredeten markieren, die gleichsam
in der Mehrzahl vorhanden war. Aus demselben Grunde sprachen die römischen
Kaiser seit Konstantin dem Großen und danach die deutschen Könige von sich
im Plural, was man den Majestätsplural nennt: Wir Ludwig von Gottes
Gnaden römischer Kaiser v. 1336). Der Untertan sagte also zu seinem
König Ihr und gab ihm, wie es der Italiener nennt, das Vol, desgleichen
sagte der Engländer ?on und der Franzose Vou8, während der Herr dem
Knechte gegenüber das Du beibehielt. Die Pairs ihrzten sich gegenseitig,
wenigstens solange der Höflichkeitskodex vorhielt. Kaiser Friedrich Barbarossa
ihrzte den Papst Alexander; wenn er aber gereizt war, nannte er ihn Du, wie
umgekehrt der Papst das Ihr gebrauchte, wenn er dem Kaiser schmeicheln wollte.
Das geschah im zwölften Jahrhundert.

In England und in Frankreich ließ man es nun bei Von8 und lou be¬
wenden; in Deutschland und in Italien ging die Höflichkeit und die Untertänigkeit
noch weiter. Hier kam Ende des sechzehnten Jahrhunderts eine neue Anrede
auf, die die Kluft zwischen den beiden Personen noch erweiterte: statt des Du
erschien das Er, oder, wenn man einer vornehmen Frau gegenüberstand, das
Sie. Also die dritte Person Singularis, verbunden mit dem Verbum in der
dritten Person Singularis. Es ist klar, daß diese Pronomina die Titel, zu
denen die dritte Person eigentlich gehört, und die man nicht immer wiederholen
will, vertreten; das Er vertritt ein respektvolles: der Herr, das man ja heute
noch gern für die angeredete Person zu setzen pflegt, indem man von derselben
wie von einer dritten Person spricht: Wünscht der Herr noch etwas? Ist der
Herr Doktor schon in Wien gewesen? Das Sie steht für die Gnädige Frau
oder die Madame. Man kann von sich selbst in der dritten Person sprechen,
dann tut man es aber, um sich klein zu machen, als armer Mann oder als
ergebenster Diener; ein armer Mann bittet um eine kleine Gabe, sagt der Bettler.
Es wird also mit Er und Sie nur fortgefahren, nachdem ein Hauptwort voraus¬
gegangen ist; dieses Hauptwort wird wenigstens stillschweigend vorausgesetzt.
Im Italienischen ist der stehende Begriff, der für jede Person von Stande,
Herr oder Dame, gesetzt zu werden pflegt, LiKnoria sua oder vostra, Ihre
oder Eure Herrlichkeit, worauf dann korrekterweise mit Ma oder I.si, das heißt
mit Sie fortgefahren wird; das gilt in Italien für vornehmer als das


Er und Sie

dem vertraulichen Du anreden; diese Gepflogenheit hat sich auch das ungarische
Abgeordnetenhaus zu eigen gemacht. Alle dessen Mitglieder reden einander
mit Du an, auch wenn der eine Ministerpräsident, der andre ein bescheidner
Advokat ist. Alle Schauspieler duzen sich; die Mitglieder des Deutschen und
Österreichischen Alpenvereins stehen auf Du und Du. Bis zur Mitte des
vorigen Jahrhunderts redeten sich auf kleinen Universitäten alle Studenten mit
Du an, ob Bekannte oder nicht. Was Wunder? Sie waren Pairs.

Wenn dagegen ein Unterschied bestand, so hatte der geringe Mann den
gnädigen Herrn im Plural anzureden und zu ihrzen; dieser höfliche Plural er¬
scheint zuerst im neunten Jahrhundert. Er sollte den großen Abstand des
Redenden von der geheiligten Person des Angeredeten markieren, die gleichsam
in der Mehrzahl vorhanden war. Aus demselben Grunde sprachen die römischen
Kaiser seit Konstantin dem Großen und danach die deutschen Könige von sich
im Plural, was man den Majestätsplural nennt: Wir Ludwig von Gottes
Gnaden römischer Kaiser v. 1336). Der Untertan sagte also zu seinem
König Ihr und gab ihm, wie es der Italiener nennt, das Vol, desgleichen
sagte der Engländer ?on und der Franzose Vou8, während der Herr dem
Knechte gegenüber das Du beibehielt. Die Pairs ihrzten sich gegenseitig,
wenigstens solange der Höflichkeitskodex vorhielt. Kaiser Friedrich Barbarossa
ihrzte den Papst Alexander; wenn er aber gereizt war, nannte er ihn Du, wie
umgekehrt der Papst das Ihr gebrauchte, wenn er dem Kaiser schmeicheln wollte.
Das geschah im zwölften Jahrhundert.

In England und in Frankreich ließ man es nun bei Von8 und lou be¬
wenden; in Deutschland und in Italien ging die Höflichkeit und die Untertänigkeit
noch weiter. Hier kam Ende des sechzehnten Jahrhunderts eine neue Anrede
auf, die die Kluft zwischen den beiden Personen noch erweiterte: statt des Du
erschien das Er, oder, wenn man einer vornehmen Frau gegenüberstand, das
Sie. Also die dritte Person Singularis, verbunden mit dem Verbum in der
dritten Person Singularis. Es ist klar, daß diese Pronomina die Titel, zu
denen die dritte Person eigentlich gehört, und die man nicht immer wiederholen
will, vertreten; das Er vertritt ein respektvolles: der Herr, das man ja heute
noch gern für die angeredete Person zu setzen pflegt, indem man von derselben
wie von einer dritten Person spricht: Wünscht der Herr noch etwas? Ist der
Herr Doktor schon in Wien gewesen? Das Sie steht für die Gnädige Frau
oder die Madame. Man kann von sich selbst in der dritten Person sprechen,
dann tut man es aber, um sich klein zu machen, als armer Mann oder als
ergebenster Diener; ein armer Mann bittet um eine kleine Gabe, sagt der Bettler.
Es wird also mit Er und Sie nur fortgefahren, nachdem ein Hauptwort voraus¬
gegangen ist; dieses Hauptwort wird wenigstens stillschweigend vorausgesetzt.
Im Italienischen ist der stehende Begriff, der für jede Person von Stande,
Herr oder Dame, gesetzt zu werden pflegt, LiKnoria sua oder vostra, Ihre
oder Eure Herrlichkeit, worauf dann korrekterweise mit Ma oder I.si, das heißt
mit Sie fortgefahren wird; das gilt in Italien für vornehmer als das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/95>, abgerufen am 24.07.2024.