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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der preußische Staat und die polnische Frage

als einzige Pflicht die des Gehorsams einzuschärfen. Unter solchen Umständen
mußte nach dem Aufhören der politischen Selbständigkeit Polens die rechtlose
polnische Volksmasse allen nationalen Empfindungen gegenüber völlig neutral
erscheinen. Ihr Verhalten gestaltete sich verschieden, je nachdem die gewohnte
Führung ihres nationalen Adels oder die fremde Staatsgewalt, der sie unter¬
worfen war, ihr auf irgendeine Weise näher trat. Der Adel aber blieb zunächst
in seinem Wesen derselbe, der er in den letzten Zeiten der Republik gewesen
war, das heißt er teilte sich in einen leidenschaftlich empfindenden Teil, der
durch die tiefe Schmach des Vaterlandes in seinem tiefsten Innern ergriffen
und zur Einkehr und Umkehr getrieben wurde, und einen andern, der in
hoffnungsloser Entsagung an der Wiedererstehung Polens verzweifelte und
seinen Frieden mit den neuen Verhältnissen machte. Man könnte noch eine
dritte Kategorie erwähnen, die sich aus denen zusammensetzte, die in dem alten
nationalen Leichtsinn und der oberflächlichen Gedankenlosigkeit und Unzuver-
lässigkeit verharrten. Es waren Leute, die über die Sache nicht allzuviel nach¬
dachten, sondern sich abwechselnd je nach den Umständen bald der ersten bald
der zweiten Gruppe anschlössen. Für die tatsächliche Entwicklung des Polentums
kommen also nur die ersten beiden Kategorien in Betracht. Aber die zweite
mußte schon dadurch immer mehr zusammenschmelzen, daß im Laufe mehrerer
Menschenalter von dem Polentum dieser Adlichen -- der "ralliierten Polen",
wie Bismarck sie nannte -- nichts mehr übrig blieb als der Name. Die
erste Gruppe, die wir soeben gekennzeichnet haben, mußte je länger je mehr
allein das Feld behaupten, und sie konnte der Natur der Sache nach nicht
loyal im strengen Sinne des Worts sein. Sie arbeitete zielbewußt an der
Wiedergeburt ihres Volks, zuerst in gelegentlichem wildem und verzweifeltem
Rütteln an den Ketten, dann in revolutionärem Intrigen- und Verschwörungs¬
spiel, dann, allmählich besonnen gemacht durch schlimme Erfahrungen und er¬
zogen und verinnerlicht dnrch eine aufstrebende Nationalliteratur und die
fortschreitende nationale Sammlung, in der intensiven Pflege einer nationalen
Organisation, die in harter Arbeit allmählich immer reichere und stärkere Mittel
zu nationaler Erziehung, Sammlung und Ausbreitung gewinnt. Unter den
preußischen Polen gelang es dem Adel, unterstützt durch den Gerechtigkeitssinn
der preußischen Verwaltung und durch eine Gesetzgebung, die sie an allen
Wohltaten einer tüchtigen, festgegründeten Staatsordnung unbeschränkt nach dem
Grade ihrer eignen Tüchtigkeit teilnehmen ließ, immer weitere Kreise des
polnischen Volks für sich und die nationalpolnische Idee zu gewinnen. Der
Marcinkowskiverein half den polnischen Mittelstand schaffen und aus ihm ein
gebildetes polnisches Großbürgertum. Neben den Adel und dieses führende
Bürgertum trat die katholische Geistlichkeit, um zuerst den Bauernstand, später
das Proletariat für die nationalen Ideen empfänglich zu machen. An Stelle
des alten polnischen Adels, der einer gleichgiltigen Volksmasse gegenüberstand,
haben wir seit langer Zeit eine führende, zielbewußte polnische "Intelligenz"


Der preußische Staat und die polnische Frage

als einzige Pflicht die des Gehorsams einzuschärfen. Unter solchen Umständen
mußte nach dem Aufhören der politischen Selbständigkeit Polens die rechtlose
polnische Volksmasse allen nationalen Empfindungen gegenüber völlig neutral
erscheinen. Ihr Verhalten gestaltete sich verschieden, je nachdem die gewohnte
Führung ihres nationalen Adels oder die fremde Staatsgewalt, der sie unter¬
worfen war, ihr auf irgendeine Weise näher trat. Der Adel aber blieb zunächst
in seinem Wesen derselbe, der er in den letzten Zeiten der Republik gewesen
war, das heißt er teilte sich in einen leidenschaftlich empfindenden Teil, der
durch die tiefe Schmach des Vaterlandes in seinem tiefsten Innern ergriffen
und zur Einkehr und Umkehr getrieben wurde, und einen andern, der in
hoffnungsloser Entsagung an der Wiedererstehung Polens verzweifelte und
seinen Frieden mit den neuen Verhältnissen machte. Man könnte noch eine
dritte Kategorie erwähnen, die sich aus denen zusammensetzte, die in dem alten
nationalen Leichtsinn und der oberflächlichen Gedankenlosigkeit und Unzuver-
lässigkeit verharrten. Es waren Leute, die über die Sache nicht allzuviel nach¬
dachten, sondern sich abwechselnd je nach den Umständen bald der ersten bald
der zweiten Gruppe anschlössen. Für die tatsächliche Entwicklung des Polentums
kommen also nur die ersten beiden Kategorien in Betracht. Aber die zweite
mußte schon dadurch immer mehr zusammenschmelzen, daß im Laufe mehrerer
Menschenalter von dem Polentum dieser Adlichen — der „ralliierten Polen",
wie Bismarck sie nannte — nichts mehr übrig blieb als der Name. Die
erste Gruppe, die wir soeben gekennzeichnet haben, mußte je länger je mehr
allein das Feld behaupten, und sie konnte der Natur der Sache nach nicht
loyal im strengen Sinne des Worts sein. Sie arbeitete zielbewußt an der
Wiedergeburt ihres Volks, zuerst in gelegentlichem wildem und verzweifeltem
Rütteln an den Ketten, dann in revolutionärem Intrigen- und Verschwörungs¬
spiel, dann, allmählich besonnen gemacht durch schlimme Erfahrungen und er¬
zogen und verinnerlicht dnrch eine aufstrebende Nationalliteratur und die
fortschreitende nationale Sammlung, in der intensiven Pflege einer nationalen
Organisation, die in harter Arbeit allmählich immer reichere und stärkere Mittel
zu nationaler Erziehung, Sammlung und Ausbreitung gewinnt. Unter den
preußischen Polen gelang es dem Adel, unterstützt durch den Gerechtigkeitssinn
der preußischen Verwaltung und durch eine Gesetzgebung, die sie an allen
Wohltaten einer tüchtigen, festgegründeten Staatsordnung unbeschränkt nach dem
Grade ihrer eignen Tüchtigkeit teilnehmen ließ, immer weitere Kreise des
polnischen Volks für sich und die nationalpolnische Idee zu gewinnen. Der
Marcinkowskiverein half den polnischen Mittelstand schaffen und aus ihm ein
gebildetes polnisches Großbürgertum. Neben den Adel und dieses führende
Bürgertum trat die katholische Geistlichkeit, um zuerst den Bauernstand, später
das Proletariat für die nationalen Ideen empfänglich zu machen. An Stelle
des alten polnischen Adels, der einer gleichgiltigen Volksmasse gegenüberstand,
haben wir seit langer Zeit eine führende, zielbewußte polnische „Intelligenz"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/66>, abgerufen am 24.08.2024.