Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches eine Todsünde war; sie haben für bestimmte Landesteile ein Sonder- und Aus¬ "Zwanzig Jahre ist eine lange Frist; ich glaube, bei Festlegung dieser Frist In der Tat erinnert die Fristbestimmung stark an die berühmten Pachtungen Das Kompromiß taugt also nicht viel und bedeutet eine viel zu weitgehende Und darum unser Schlußurteil: Zu bedauern ist, daß die Regierung während Maßgebliches und Unmaßgebliches eine Todsünde war; sie haben für bestimmte Landesteile ein Sonder- und Aus¬ „Zwanzig Jahre ist eine lange Frist; ich glaube, bei Festlegung dieser Frist In der Tat erinnert die Fristbestimmung stark an die berühmten Pachtungen Das Kompromiß taugt also nicht viel und bedeutet eine viel zu weitgehende Und darum unser Schlußurteil: Zu bedauern ist, daß die Regierung während <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0647" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311730"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_3104" prev="#ID_3103"> eine Todsünde war; sie haben für bestimmte Landesteile ein Sonder- und Aus¬<lb/> nahmerecht geschaffen. Damit ist zum erstenmal nach österreichischem Muster die<lb/> Einheit des Staatsgebiets offiziell zerrissen. Wenn man bisher von Polnischen und<lb/> dänischen Kreisen sprach, so war das ein Sprachgebrauch des Alltagslebens, der<lb/> niemand politisch verpflichtete; in der Gesetzgebung hatte er nichts zu bedeuten,<lb/> denn im Gesetz gab es nur Staatsgebiete mit einheitlichem öffentlichem Recht.<lb/> Sogar die Bestimmungen und Kundgebungen, auf die sich die Polen zur Begrün¬<lb/> dung ihrer Sonderrechte so gern berufen, enthalten wohl gewisse Zusicherungen an<lb/> die „polnischen Untertanen" des preußischen Staats, kennen aber innerhalb des<lb/> preußischen Staats keine „polnischen Landesteile". Das soll jetzt anders werden.<lb/> Wir werden jetzt gesetzlich anerkannte polnische und dänische Bezirke mit Sonderrecht<lb/> haben, und die Deutschen dieser Bezirke sind unter ein Ausnahmegesetz gestellt. Wo<lb/> bleibt die gewohnte liberale Entrüstung über Ausnahmegesetze? Keine Sorge!<lb/> Dieses Ausnahmegesetz haben ja die Liberalen selbst gemacht. Freilich „nur" auf<lb/> zwanzig Jahre! Hören wir, was Herr von Payer in der hier mehrfach zitierten<lb/> Rede über die Bemessung dieses Zeitraumes ausgeführt hat! Er sagte:</p><lb/> <p xml:id="ID_3105"> „Zwanzig Jahre ist eine lange Frist; ich glaube, bei Festlegung dieser Frist<lb/> liegt eher eine starke Konzession der Regierung und der Herren auf der rechten<lb/> Seite vor. Wenn ich schon einmal ein Kampfmittel haben möchte, so würde ich<lb/> es nicht als großen Erfolg betrachten, daß man mir heute die Kanone gibt rin der<lb/> Ermächtigung, sie, wenn nichts dazwischen kommt, in zwanzig Jahren loszuschießen.<lb/> Wir haben geglaubt, wenn das, was das Kompromiß in Aussicht nimmt, auch nur<lb/> auf zwanzig Jahre gerettet ist, so ist es doch sür eine beträchtlich lange Zeit hinaus<lb/> gerettet. Das Weitere wird sich dann finden."</p><lb/> <p xml:id="ID_3106"> In der Tat erinnert die Fristbestimmung stark an die berühmten Pachtungen<lb/> „auf 99 Jahre", und so ist es auch von unsrer bürgerlichen Linken gemeint. Wer<lb/> kann wissen, wie die Welt in zwanzig Jahren aussieht? Herr von Payer kann<lb/> mit einigem Recht glauben, daß seine politischen Freunde ihren Ruhm als „Retter"<lb/> aller staatsfeindlichen, auf Hoch- und Landesverrat hinarbeitenden Elemente im<lb/> Reich fest genug begründet haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_3107"> Das Kompromiß taugt also nicht viel und bedeutet eine viel zu weitgehende<lb/> Nachgiebigkeit der Regierung und der andern Blockparteien gegenüber der bürger¬<lb/> lichen Linken. Herr von Payer wundert sich, wie wir gesehen haben, daß die<lb/> Polen es lieber sehen würden, wenn das Reichsvereinsgesetz am Paragraphen 7<lb/> scheiterte und die Sprachenfrage der Landesgesetzgebung überlassen bleibe. Diese<lb/> Verwunderung steht auf der gleichen Linie wie das naive Erstaunen harmloser Leute,<lb/> daß die Sozialdemokraten gegen alle sozialpolitischen Reform- und Fürsorgegesetze<lb/> stimmen. Für die Polen ist ihr angebliches Martyrium, bei dem ja niemand innerlich<lb/> und äußerlich Schaden leidet, Lebensbedürfnis. Es macht ihnen in Wirklichkeit gar<lb/> nichts aus, wenn sie gezwungen werden, in öffentlichen Versammlungen deutsch zu<lb/> sprechen. Aber was ihnen wirklich nützen und eine kräftige Stütze geben würde,<lb/> das wäre die Erfahrung, daß die deutschen Liberalen sogar das langersehnte frei¬<lb/> heitlichere Vereinsrecht zu Fall bringen, weil sie der Meinung sind, daß den Polen<lb/> Unrecht geschieht. Diese Seite der Sache darf man ja nicht übersehen, und aus<lb/> diesem Grunde haben Regierung und Mehrheit der Blockparteien Recht, wenn sie<lb/> die Nachteile des Kompromisses nicht so hoch einschätzen, um daran das ganze Gesetz<lb/> scheitern zu lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_3108" next="#ID_3109"> Und darum unser Schlußurteil: Zu bedauern ist, daß die Regierung während<lb/> der Kompromißverhandlungen nicht doch noch mehr Rückgratfestigkeit gezeigt hat,<lb/> um das Ergebnis etwas besser zu gestalten. Nachdem aber die Freisinnigen im</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0647]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
eine Todsünde war; sie haben für bestimmte Landesteile ein Sonder- und Aus¬
nahmerecht geschaffen. Damit ist zum erstenmal nach österreichischem Muster die
Einheit des Staatsgebiets offiziell zerrissen. Wenn man bisher von Polnischen und
dänischen Kreisen sprach, so war das ein Sprachgebrauch des Alltagslebens, der
niemand politisch verpflichtete; in der Gesetzgebung hatte er nichts zu bedeuten,
denn im Gesetz gab es nur Staatsgebiete mit einheitlichem öffentlichem Recht.
Sogar die Bestimmungen und Kundgebungen, auf die sich die Polen zur Begrün¬
dung ihrer Sonderrechte so gern berufen, enthalten wohl gewisse Zusicherungen an
die „polnischen Untertanen" des preußischen Staats, kennen aber innerhalb des
preußischen Staats keine „polnischen Landesteile". Das soll jetzt anders werden.
Wir werden jetzt gesetzlich anerkannte polnische und dänische Bezirke mit Sonderrecht
haben, und die Deutschen dieser Bezirke sind unter ein Ausnahmegesetz gestellt. Wo
bleibt die gewohnte liberale Entrüstung über Ausnahmegesetze? Keine Sorge!
Dieses Ausnahmegesetz haben ja die Liberalen selbst gemacht. Freilich „nur" auf
zwanzig Jahre! Hören wir, was Herr von Payer in der hier mehrfach zitierten
Rede über die Bemessung dieses Zeitraumes ausgeführt hat! Er sagte:
„Zwanzig Jahre ist eine lange Frist; ich glaube, bei Festlegung dieser Frist
liegt eher eine starke Konzession der Regierung und der Herren auf der rechten
Seite vor. Wenn ich schon einmal ein Kampfmittel haben möchte, so würde ich
es nicht als großen Erfolg betrachten, daß man mir heute die Kanone gibt rin der
Ermächtigung, sie, wenn nichts dazwischen kommt, in zwanzig Jahren loszuschießen.
Wir haben geglaubt, wenn das, was das Kompromiß in Aussicht nimmt, auch nur
auf zwanzig Jahre gerettet ist, so ist es doch sür eine beträchtlich lange Zeit hinaus
gerettet. Das Weitere wird sich dann finden."
In der Tat erinnert die Fristbestimmung stark an die berühmten Pachtungen
„auf 99 Jahre", und so ist es auch von unsrer bürgerlichen Linken gemeint. Wer
kann wissen, wie die Welt in zwanzig Jahren aussieht? Herr von Payer kann
mit einigem Recht glauben, daß seine politischen Freunde ihren Ruhm als „Retter"
aller staatsfeindlichen, auf Hoch- und Landesverrat hinarbeitenden Elemente im
Reich fest genug begründet haben.
Das Kompromiß taugt also nicht viel und bedeutet eine viel zu weitgehende
Nachgiebigkeit der Regierung und der andern Blockparteien gegenüber der bürger¬
lichen Linken. Herr von Payer wundert sich, wie wir gesehen haben, daß die
Polen es lieber sehen würden, wenn das Reichsvereinsgesetz am Paragraphen 7
scheiterte und die Sprachenfrage der Landesgesetzgebung überlassen bleibe. Diese
Verwunderung steht auf der gleichen Linie wie das naive Erstaunen harmloser Leute,
daß die Sozialdemokraten gegen alle sozialpolitischen Reform- und Fürsorgegesetze
stimmen. Für die Polen ist ihr angebliches Martyrium, bei dem ja niemand innerlich
und äußerlich Schaden leidet, Lebensbedürfnis. Es macht ihnen in Wirklichkeit gar
nichts aus, wenn sie gezwungen werden, in öffentlichen Versammlungen deutsch zu
sprechen. Aber was ihnen wirklich nützen und eine kräftige Stütze geben würde,
das wäre die Erfahrung, daß die deutschen Liberalen sogar das langersehnte frei¬
heitlichere Vereinsrecht zu Fall bringen, weil sie der Meinung sind, daß den Polen
Unrecht geschieht. Diese Seite der Sache darf man ja nicht übersehen, und aus
diesem Grunde haben Regierung und Mehrheit der Blockparteien Recht, wenn sie
die Nachteile des Kompromisses nicht so hoch einschätzen, um daran das ganze Gesetz
scheitern zu lassen.
Und darum unser Schlußurteil: Zu bedauern ist, daß die Regierung während
der Kompromißverhandlungen nicht doch noch mehr Rückgratfestigkeit gezeigt hat,
um das Ergebnis etwas besser zu gestalten. Nachdem aber die Freisinnigen im
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