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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Gibraltar

Jawohl, die anglo-germanische Kultur darf stolz sein, sie hat alle leicht¬
sinnigen Devisen der Sonne aus dem Sinn dieser Menschen verdrängt und
ihr solides nutzbringendes more^-malum^ an deren Stelle gesetzt. Man fühlt
sich wie auf einer vortrefflich inszenierten Maskerade: Trachten, Gesichter,
Stimmen, Umgebung -- alles erscheint echt orientalisch, aber hinter jeder Ver¬
kleidung steckt ein maskierter John Bull in seiner Korrektheit. Ich sah eines
Tags etwas recht Typisches. Ein Mann kam die Straße herabgestürzt, ihm
nach ein Polizist, der mit den Armen focht und rief: Haltet den Dieb! Ein
Araber stellte dem Flüchtling ein Bein, sodaß er zu Fall kam und in die Hände
der Polizei geriet. Bei uns daheim hätten die Leute genau ebenso gehandelt,
in Spanien oder Marokko dagegen hätten sie dem Polizisten ein Bein gestellt.

Gibraltar ist eine Festung. Kommandantenwohnungen mit Schildwachen,
Offizierklubs, Kasernen, Militärkneipen, Soldatenheime und Garnisonkirchen
lösen einander ab. solang die Straße läuft. Und wo sie in der tiefen Tor¬
öffnung der Stadtmauer verschwindet, da fängt die Strandpromenade an und
läuft weiter hinaus, an Exerzierplätzen, Arsenälen und mächtigen Baracken vor¬
bei. Unter der afrikanischen Vegetation spielen französische und schweizerische
Bonnen mit den kleinen englischen Babies -- Milch- und Blutgesichtchen mit
Engelslocken; rotwangige knochige Engländer schleppen ihre Plattfüße und
Säbelbeine neben dunkeläugiger spanischen Senoritas einher, deren Gang wie
Musik ist; solide Engländerinnen schreiten auf soliden Füßen einher, allein oder
in Gesellschaft eines halberwachsnen Jünglings in Kadettenuniform. Sie wirken
wie eine Verkörperlichung von bseck und xortsi; spannen sie nur ihren Sonnen¬
schirm auf, so geschieht es mit einer kleinen Kraftexplosion; der kalte Blick birgt
die ganze Uneinnehmbarkeit der Festung, auf der sie wohnen.

Ihr derber Gang, ihre grauen und braunen Kleider und ihr ganzer monotoner
Gesichtsausdruck wirken peinlich, fast erstickend in dieser leichten funkelnden
Sommerluft. Aber sie passen gut zu dem gepanzerten Felsen, zu der langen
Reihe von Kanonen, die sich mit wenig Ellen Zwischenraum die ganze Promenade
entlang ziehn. zu den Pyramiden von Bomben und Granaten, die die Anlagen
schmücken und auf eine schier überwältigende Art andern Kunstwerken den Platz
versperren. Sie stehn aber auch auf hinlänglich solidem Grunde; er ist aus
Felsblöcken und Zement und birgt in seinem Innern eine zweite Reihe Kanonen,
die die ganze Wasserfläche der Bucht zu bestreichen imstande sind.

Aufwärts von diesem Doppelgliede des vielreihigen "Gebisses" hebt sich der
Felsen etwa 1500 Fuß hoch, ungefähr von der Form eines langen schmalen
Buches, das ein wenig geöffnet und mit dem Rücken nach oben aufgestellt ist.
Er ist von drei Seiten unzugänglich, und auf der inwendigen vierten steht eine
Häuserreihe mit den Zehen auf dem Nacken der andern. Aber dies währt nur
eine kleine Strecke lang, dann köunen sie nicht mehr Fuß fassen. Trocknes
Gras und Gestrüpp nimmt ihre Stelle em> der Pfad, von magern Agaven
befranst, windet sich in starkem Zickzack zwischen großen bläulichen i Felsflächew


Gibraltar

Jawohl, die anglo-germanische Kultur darf stolz sein, sie hat alle leicht¬
sinnigen Devisen der Sonne aus dem Sinn dieser Menschen verdrängt und
ihr solides nutzbringendes more^-malum^ an deren Stelle gesetzt. Man fühlt
sich wie auf einer vortrefflich inszenierten Maskerade: Trachten, Gesichter,
Stimmen, Umgebung — alles erscheint echt orientalisch, aber hinter jeder Ver¬
kleidung steckt ein maskierter John Bull in seiner Korrektheit. Ich sah eines
Tags etwas recht Typisches. Ein Mann kam die Straße herabgestürzt, ihm
nach ein Polizist, der mit den Armen focht und rief: Haltet den Dieb! Ein
Araber stellte dem Flüchtling ein Bein, sodaß er zu Fall kam und in die Hände
der Polizei geriet. Bei uns daheim hätten die Leute genau ebenso gehandelt,
in Spanien oder Marokko dagegen hätten sie dem Polizisten ein Bein gestellt.

Gibraltar ist eine Festung. Kommandantenwohnungen mit Schildwachen,
Offizierklubs, Kasernen, Militärkneipen, Soldatenheime und Garnisonkirchen
lösen einander ab. solang die Straße läuft. Und wo sie in der tiefen Tor¬
öffnung der Stadtmauer verschwindet, da fängt die Strandpromenade an und
läuft weiter hinaus, an Exerzierplätzen, Arsenälen und mächtigen Baracken vor¬
bei. Unter der afrikanischen Vegetation spielen französische und schweizerische
Bonnen mit den kleinen englischen Babies — Milch- und Blutgesichtchen mit
Engelslocken; rotwangige knochige Engländer schleppen ihre Plattfüße und
Säbelbeine neben dunkeläugiger spanischen Senoritas einher, deren Gang wie
Musik ist; solide Engländerinnen schreiten auf soliden Füßen einher, allein oder
in Gesellschaft eines halberwachsnen Jünglings in Kadettenuniform. Sie wirken
wie eine Verkörperlichung von bseck und xortsi; spannen sie nur ihren Sonnen¬
schirm auf, so geschieht es mit einer kleinen Kraftexplosion; der kalte Blick birgt
die ganze Uneinnehmbarkeit der Festung, auf der sie wohnen.

Ihr derber Gang, ihre grauen und braunen Kleider und ihr ganzer monotoner
Gesichtsausdruck wirken peinlich, fast erstickend in dieser leichten funkelnden
Sommerluft. Aber sie passen gut zu dem gepanzerten Felsen, zu der langen
Reihe von Kanonen, die sich mit wenig Ellen Zwischenraum die ganze Promenade
entlang ziehn. zu den Pyramiden von Bomben und Granaten, die die Anlagen
schmücken und auf eine schier überwältigende Art andern Kunstwerken den Platz
versperren. Sie stehn aber auch auf hinlänglich solidem Grunde; er ist aus
Felsblöcken und Zement und birgt in seinem Innern eine zweite Reihe Kanonen,
die die ganze Wasserfläche der Bucht zu bestreichen imstande sind.

Aufwärts von diesem Doppelgliede des vielreihigen „Gebisses" hebt sich der
Felsen etwa 1500 Fuß hoch, ungefähr von der Form eines langen schmalen
Buches, das ein wenig geöffnet und mit dem Rücken nach oben aufgestellt ist.
Er ist von drei Seiten unzugänglich, und auf der inwendigen vierten steht eine
Häuserreihe mit den Zehen auf dem Nacken der andern. Aber dies währt nur
eine kleine Strecke lang, dann köunen sie nicht mehr Fuß fassen. Trocknes
Gras und Gestrüpp nimmt ihre Stelle em> der Pfad, von magern Agaven
befranst, windet sich in starkem Zickzack zwischen großen bläulichen i Felsflächew


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[0631] Gibraltar Jawohl, die anglo-germanische Kultur darf stolz sein, sie hat alle leicht¬ sinnigen Devisen der Sonne aus dem Sinn dieser Menschen verdrängt und ihr solides nutzbringendes more^-malum^ an deren Stelle gesetzt. Man fühlt sich wie auf einer vortrefflich inszenierten Maskerade: Trachten, Gesichter, Stimmen, Umgebung — alles erscheint echt orientalisch, aber hinter jeder Ver¬ kleidung steckt ein maskierter John Bull in seiner Korrektheit. Ich sah eines Tags etwas recht Typisches. Ein Mann kam die Straße herabgestürzt, ihm nach ein Polizist, der mit den Armen focht und rief: Haltet den Dieb! Ein Araber stellte dem Flüchtling ein Bein, sodaß er zu Fall kam und in die Hände der Polizei geriet. Bei uns daheim hätten die Leute genau ebenso gehandelt, in Spanien oder Marokko dagegen hätten sie dem Polizisten ein Bein gestellt. Gibraltar ist eine Festung. Kommandantenwohnungen mit Schildwachen, Offizierklubs, Kasernen, Militärkneipen, Soldatenheime und Garnisonkirchen lösen einander ab. solang die Straße läuft. Und wo sie in der tiefen Tor¬ öffnung der Stadtmauer verschwindet, da fängt die Strandpromenade an und läuft weiter hinaus, an Exerzierplätzen, Arsenälen und mächtigen Baracken vor¬ bei. Unter der afrikanischen Vegetation spielen französische und schweizerische Bonnen mit den kleinen englischen Babies — Milch- und Blutgesichtchen mit Engelslocken; rotwangige knochige Engländer schleppen ihre Plattfüße und Säbelbeine neben dunkeläugiger spanischen Senoritas einher, deren Gang wie Musik ist; solide Engländerinnen schreiten auf soliden Füßen einher, allein oder in Gesellschaft eines halberwachsnen Jünglings in Kadettenuniform. Sie wirken wie eine Verkörperlichung von bseck und xortsi; spannen sie nur ihren Sonnen¬ schirm auf, so geschieht es mit einer kleinen Kraftexplosion; der kalte Blick birgt die ganze Uneinnehmbarkeit der Festung, auf der sie wohnen. Ihr derber Gang, ihre grauen und braunen Kleider und ihr ganzer monotoner Gesichtsausdruck wirken peinlich, fast erstickend in dieser leichten funkelnden Sommerluft. Aber sie passen gut zu dem gepanzerten Felsen, zu der langen Reihe von Kanonen, die sich mit wenig Ellen Zwischenraum die ganze Promenade entlang ziehn. zu den Pyramiden von Bomben und Granaten, die die Anlagen schmücken und auf eine schier überwältigende Art andern Kunstwerken den Platz versperren. Sie stehn aber auch auf hinlänglich solidem Grunde; er ist aus Felsblöcken und Zement und birgt in seinem Innern eine zweite Reihe Kanonen, die die ganze Wasserfläche der Bucht zu bestreichen imstande sind. Aufwärts von diesem Doppelgliede des vielreihigen „Gebisses" hebt sich der Felsen etwa 1500 Fuß hoch, ungefähr von der Form eines langen schmalen Buches, das ein wenig geöffnet und mit dem Rücken nach oben aufgestellt ist. Er ist von drei Seiten unzugänglich, und auf der inwendigen vierten steht eine Häuserreihe mit den Zehen auf dem Nacken der andern. Aber dies währt nur eine kleine Strecke lang, dann köunen sie nicht mehr Fuß fassen. Trocknes Gras und Gestrüpp nimmt ihre Stelle em> der Pfad, von magern Agaven befranst, windet sich in starkem Zickzack zwischen großen bläulichen i Felsflächew

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/631>, abgerufen am 24.07.2024.