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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die Frühlingstage der Romantik in Jena

Wilhelm Schlegel fand in seinen ästhetischen Vorlesungen unter den
Studenten nicht den enthusiastischen Widerhall, dessen er bedürfte; er verließ
am Ende des Sommers 1800 das Katheder für immer. Und da rief denn auch
das Parteiblatt, das Athenäum, zum letztenmal zum fröhlichen Jagen.

Zugleich ging Tieck. "Den anmutigen und würdigen Lump", nannte ihn
Karoline einmal mit scharfer Zunge; und ein Freund hat ihm die Worte in den
Mund gelegt:

Friedrich Schlegel suchte auf dem Lehrstuhl den Erfolg, der seinem Bruder
entflohen war. Er hielt im Winter 1800 bis 1801 seine Probevorlesung "Über
den Enthusiasmus oder die Schwärmerei" und kündigte ein Kolleg über die
Transzendentalphilosophie an. Wer aus Interesse für den Dichter der Lucinde
in seine Vorlesung gelaufen war, blieb bald fort, gelangweilt von den zerrißnen
Denkoperationen eines Mannes, dem zum Dozenten nicht weniger als alles
fehlte. Und was wollte er gar neben Schelling, der ihn ohne Mühe tot las!
"Schlegel ohrfeigte die gesunde Vernunft, sagte einer, der ihn hörte; er sprach
so verworren und mit so schlechtem Witz, daß er jetzt keine Zuhörer mehr be¬
kommt." Mit wenig Ehren räumte er endlich das Katheder.

Im Jahre 1803 ging auch Schelling mit Karoline. Das letzte Reliquienstück
der Jenenser Romantik blieb der kleine Gries. Er überdauerte selbst den Kriegs¬
sturm, der über das verlaßne Nest hinfuhr. Steffens fand ihn noch im Jahre 1811
wieder. Schränke, Stühle, Tische, Büsten standen gerade so wie vor langen
Jahren. Dieselbe Magd begrüßte den Fremdling, und der Dichter mit dem gelben
Teint und den schwarzen Augen saß immer noch ans seinem alten Stuhle, eine
einbalsamierte Leiche aus einer schönen lebendigen Zeit.

Die einst im muntern Kreise zu Jena versammelt gewesen waren, gingen
über die ganze Welt zerstreut und lehrten alle Heiden. Tragische Erscheinungen
waren sie; sie haben die Schlacht verloren und haben doch gesiegt. Sie stehn
uns heute wieder ganz nahe. Wir haben uns zu ihnen zurückgearbeitet und
fühlen nun an unserm Herzen, wie laut einst das ihre geklopft hat. Was sie
in ihren Tagen über die Befreiung der Frau, die Veredlung der Kultur, die
Vertiefung des Lebens gesprochen; was sie gedacht und geträumt von einer
großen Religion, die über allen kleinen Religionen, von einer großen Wissen¬
schaft, die über allen kleinen Wissenschaften, von einer großen Menschlichkeit, die
über allen niedern Vorurteilen und Befangenheiten steht -- das ist auch das
Sehnen unsrem Zeit. -




Die Frühlingstage der Romantik in Jena

Wilhelm Schlegel fand in seinen ästhetischen Vorlesungen unter den
Studenten nicht den enthusiastischen Widerhall, dessen er bedürfte; er verließ
am Ende des Sommers 1800 das Katheder für immer. Und da rief denn auch
das Parteiblatt, das Athenäum, zum letztenmal zum fröhlichen Jagen.

Zugleich ging Tieck. „Den anmutigen und würdigen Lump", nannte ihn
Karoline einmal mit scharfer Zunge; und ein Freund hat ihm die Worte in den
Mund gelegt:

Friedrich Schlegel suchte auf dem Lehrstuhl den Erfolg, der seinem Bruder
entflohen war. Er hielt im Winter 1800 bis 1801 seine Probevorlesung „Über
den Enthusiasmus oder die Schwärmerei" und kündigte ein Kolleg über die
Transzendentalphilosophie an. Wer aus Interesse für den Dichter der Lucinde
in seine Vorlesung gelaufen war, blieb bald fort, gelangweilt von den zerrißnen
Denkoperationen eines Mannes, dem zum Dozenten nicht weniger als alles
fehlte. Und was wollte er gar neben Schelling, der ihn ohne Mühe tot las!
„Schlegel ohrfeigte die gesunde Vernunft, sagte einer, der ihn hörte; er sprach
so verworren und mit so schlechtem Witz, daß er jetzt keine Zuhörer mehr be¬
kommt." Mit wenig Ehren räumte er endlich das Katheder.

Im Jahre 1803 ging auch Schelling mit Karoline. Das letzte Reliquienstück
der Jenenser Romantik blieb der kleine Gries. Er überdauerte selbst den Kriegs¬
sturm, der über das verlaßne Nest hinfuhr. Steffens fand ihn noch im Jahre 1811
wieder. Schränke, Stühle, Tische, Büsten standen gerade so wie vor langen
Jahren. Dieselbe Magd begrüßte den Fremdling, und der Dichter mit dem gelben
Teint und den schwarzen Augen saß immer noch ans seinem alten Stuhle, eine
einbalsamierte Leiche aus einer schönen lebendigen Zeit.

Die einst im muntern Kreise zu Jena versammelt gewesen waren, gingen
über die ganze Welt zerstreut und lehrten alle Heiden. Tragische Erscheinungen
waren sie; sie haben die Schlacht verloren und haben doch gesiegt. Sie stehn
uns heute wieder ganz nahe. Wir haben uns zu ihnen zurückgearbeitet und
fühlen nun an unserm Herzen, wie laut einst das ihre geklopft hat. Was sie
in ihren Tagen über die Befreiung der Frau, die Veredlung der Kultur, die
Vertiefung des Lebens gesprochen; was sie gedacht und geträumt von einer
großen Religion, die über allen kleinen Religionen, von einer großen Wissen¬
schaft, die über allen kleinen Wissenschaften, von einer großen Menschlichkeit, die
über allen niedern Vorurteilen und Befangenheiten steht — das ist auch das
Sehnen unsrem Zeit. -




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[0624] Die Frühlingstage der Romantik in Jena Wilhelm Schlegel fand in seinen ästhetischen Vorlesungen unter den Studenten nicht den enthusiastischen Widerhall, dessen er bedürfte; er verließ am Ende des Sommers 1800 das Katheder für immer. Und da rief denn auch das Parteiblatt, das Athenäum, zum letztenmal zum fröhlichen Jagen. Zugleich ging Tieck. „Den anmutigen und würdigen Lump", nannte ihn Karoline einmal mit scharfer Zunge; und ein Freund hat ihm die Worte in den Mund gelegt: Friedrich Schlegel suchte auf dem Lehrstuhl den Erfolg, der seinem Bruder entflohen war. Er hielt im Winter 1800 bis 1801 seine Probevorlesung „Über den Enthusiasmus oder die Schwärmerei" und kündigte ein Kolleg über die Transzendentalphilosophie an. Wer aus Interesse für den Dichter der Lucinde in seine Vorlesung gelaufen war, blieb bald fort, gelangweilt von den zerrißnen Denkoperationen eines Mannes, dem zum Dozenten nicht weniger als alles fehlte. Und was wollte er gar neben Schelling, der ihn ohne Mühe tot las! „Schlegel ohrfeigte die gesunde Vernunft, sagte einer, der ihn hörte; er sprach so verworren und mit so schlechtem Witz, daß er jetzt keine Zuhörer mehr be¬ kommt." Mit wenig Ehren räumte er endlich das Katheder. Im Jahre 1803 ging auch Schelling mit Karoline. Das letzte Reliquienstück der Jenenser Romantik blieb der kleine Gries. Er überdauerte selbst den Kriegs¬ sturm, der über das verlaßne Nest hinfuhr. Steffens fand ihn noch im Jahre 1811 wieder. Schränke, Stühle, Tische, Büsten standen gerade so wie vor langen Jahren. Dieselbe Magd begrüßte den Fremdling, und der Dichter mit dem gelben Teint und den schwarzen Augen saß immer noch ans seinem alten Stuhle, eine einbalsamierte Leiche aus einer schönen lebendigen Zeit. Die einst im muntern Kreise zu Jena versammelt gewesen waren, gingen über die ganze Welt zerstreut und lehrten alle Heiden. Tragische Erscheinungen waren sie; sie haben die Schlacht verloren und haben doch gesiegt. Sie stehn uns heute wieder ganz nahe. Wir haben uns zu ihnen zurückgearbeitet und fühlen nun an unserm Herzen, wie laut einst das ihre geklopft hat. Was sie in ihren Tagen über die Befreiung der Frau, die Veredlung der Kultur, die Vertiefung des Lebens gesprochen; was sie gedacht und geträumt von einer großen Religion, die über allen kleinen Religionen, von einer großen Wissen¬ schaft, die über allen kleinen Wissenschaften, von einer großen Menschlichkeit, die über allen niedern Vorurteilen und Befangenheiten steht — das ist auch das Sehnen unsrem Zeit. -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/624>, abgerufen am 24.08.2024.