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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Sie Frühlingstage der Romantik in Jena

Über den Weltenprospekt zog brüllender Völkerkampf, wie dürres Holz zer¬
splitterten alte Reiche -- in dem kleinen Jena störte das alles das Wilhelm-
Meister-Dasein nicht. Aber eine Schlacht zwischen dem Alten und dem Neuen
wurde auch hier gefochten. "Die Poesie ist das Höchste und Letzte", rief Schelling,
der 1799 das System seiner Naturphilosophie baute. Wilhelm Schlegel stand
auf dem Katheder. Zu Hause übersetzte er, dichtete er. Tieck vollendete mit
schnellem Wurf seine Genovevci. Novalis dichterische Kraft wurde wieder lebendig;
er trug sich mit seinem "Heinrich von Ofterdingen". Dorothea schrieb ihren
Roman "Florentin". Und Friedrich Schlegel konnte vor lauter Dichten und
Denken nicht zum Bilden und Schaffen kommen. Ganz wie der junge Bursch
das schönste erste Semester mit Bewußtsein vertändelt, pries er die göttliche
Kunst des Müßiggangs: "O Müßiggang, Müßiggang! Dich atmen die Seligen,
und selig ist, wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! Einziges Fragment
von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb . . . Der Fleiß und
der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dein Menschen
die Rückkehr ins Paradies verwehren."

Merkwürdig, eher kam einmal den Frauen als einem der Männer der
Gedanke, wie phäakenhaft doch eigentlich den Poeten und Ästhetikern hier der Tag
dahinglitt, indes draußen das Genie der Tat die große Weltgeschichte machte.
Karoline erzählte einst ihrer Tochter von dem, was es in der Poesie Neues
gab; plötzlich unterbrach sie sich: "Doch diese Händel gehen dich nichts an, die
Russen und Buonaparte aber sehr viel." Und Dorothea rief einmal Schleier¬
macher zu: "Ihr revolutionären Menschen müßtet erst mit Gut und Blut fechten,
dann könntet ihr, um auszuruhn, schreiben wie Götz von Berlichingen seine
Lebensgeschichte!" Heute saß die Gesellschaft und hörte das Konzert des blinden
Flötenspielers Dülon aus Petersburg; morgen reiste sie in schwerfälligen Chaisen
nach Weimar hinüber, um die erste Aufführung der Piccolomini zu sehen. Denn
an diesen! Wallenstein war ganz Jena interessiert mit einem gewissen Stolz --
war das Drama doch in ihrer Mitte entstanden! "Die Familien der Pro¬
fessoren, sagt Heinrich Steffens, sorgten und der größten Mühe schon bei der
ersten Nachricht von der bevorstehenden Aufführung für Plätze. Man hörte in
der ganzen Stadt von nichts anderm sprechen. Frauen und Töchter intrigierten
gegeneinander, um sich wechselseitig zu verdrängen; wer einen Platz erhalten
hatte, pries sich glücklich. Es entstanden aber auch Feindschaften, die später
nicht ohne Folgen waren." An einem andern Tage führte man selbst daheim
Theaterstücke auf. Einmal war es Goethes Stella, und Karoline spielte die
Rolle der Cäcilie. Ein andermal nahm man Iphigenie, und die las sie noch
herrlicher; man hörte es an dem Klingen ihrer Stimme, wie tief sie in die
Dichtung drang. Friedrich schrieb an Auguste: "Wenn Du wieder da bist,
wollen wir auch etwas agieren, etwas, wie das Stück, von dem Du schreibst.
Du machst die schöne, aber treulose Angelika, Tieck den kleinen beglückten
Schäfer Medoro, Schelling den rasenden Paladin, Orlando den Wütigen, ich


Sie Frühlingstage der Romantik in Jena

Über den Weltenprospekt zog brüllender Völkerkampf, wie dürres Holz zer¬
splitterten alte Reiche — in dem kleinen Jena störte das alles das Wilhelm-
Meister-Dasein nicht. Aber eine Schlacht zwischen dem Alten und dem Neuen
wurde auch hier gefochten. „Die Poesie ist das Höchste und Letzte", rief Schelling,
der 1799 das System seiner Naturphilosophie baute. Wilhelm Schlegel stand
auf dem Katheder. Zu Hause übersetzte er, dichtete er. Tieck vollendete mit
schnellem Wurf seine Genovevci. Novalis dichterische Kraft wurde wieder lebendig;
er trug sich mit seinem „Heinrich von Ofterdingen". Dorothea schrieb ihren
Roman „Florentin". Und Friedrich Schlegel konnte vor lauter Dichten und
Denken nicht zum Bilden und Schaffen kommen. Ganz wie der junge Bursch
das schönste erste Semester mit Bewußtsein vertändelt, pries er die göttliche
Kunst des Müßiggangs: „O Müßiggang, Müßiggang! Dich atmen die Seligen,
und selig ist, wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! Einziges Fragment
von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb . . . Der Fleiß und
der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dein Menschen
die Rückkehr ins Paradies verwehren."

Merkwürdig, eher kam einmal den Frauen als einem der Männer der
Gedanke, wie phäakenhaft doch eigentlich den Poeten und Ästhetikern hier der Tag
dahinglitt, indes draußen das Genie der Tat die große Weltgeschichte machte.
Karoline erzählte einst ihrer Tochter von dem, was es in der Poesie Neues
gab; plötzlich unterbrach sie sich: „Doch diese Händel gehen dich nichts an, die
Russen und Buonaparte aber sehr viel." Und Dorothea rief einmal Schleier¬
macher zu: „Ihr revolutionären Menschen müßtet erst mit Gut und Blut fechten,
dann könntet ihr, um auszuruhn, schreiben wie Götz von Berlichingen seine
Lebensgeschichte!" Heute saß die Gesellschaft und hörte das Konzert des blinden
Flötenspielers Dülon aus Petersburg; morgen reiste sie in schwerfälligen Chaisen
nach Weimar hinüber, um die erste Aufführung der Piccolomini zu sehen. Denn
an diesen! Wallenstein war ganz Jena interessiert mit einem gewissen Stolz —
war das Drama doch in ihrer Mitte entstanden! „Die Familien der Pro¬
fessoren, sagt Heinrich Steffens, sorgten und der größten Mühe schon bei der
ersten Nachricht von der bevorstehenden Aufführung für Plätze. Man hörte in
der ganzen Stadt von nichts anderm sprechen. Frauen und Töchter intrigierten
gegeneinander, um sich wechselseitig zu verdrängen; wer einen Platz erhalten
hatte, pries sich glücklich. Es entstanden aber auch Feindschaften, die später
nicht ohne Folgen waren." An einem andern Tage führte man selbst daheim
Theaterstücke auf. Einmal war es Goethes Stella, und Karoline spielte die
Rolle der Cäcilie. Ein andermal nahm man Iphigenie, und die las sie noch
herrlicher; man hörte es an dem Klingen ihrer Stimme, wie tief sie in die
Dichtung drang. Friedrich schrieb an Auguste: „Wenn Du wieder da bist,
wollen wir auch etwas agieren, etwas, wie das Stück, von dem Du schreibst.
Du machst die schöne, aber treulose Angelika, Tieck den kleinen beglückten
Schäfer Medoro, Schelling den rasenden Paladin, Orlando den Wütigen, ich


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[0620] Sie Frühlingstage der Romantik in Jena Über den Weltenprospekt zog brüllender Völkerkampf, wie dürres Holz zer¬ splitterten alte Reiche — in dem kleinen Jena störte das alles das Wilhelm- Meister-Dasein nicht. Aber eine Schlacht zwischen dem Alten und dem Neuen wurde auch hier gefochten. „Die Poesie ist das Höchste und Letzte", rief Schelling, der 1799 das System seiner Naturphilosophie baute. Wilhelm Schlegel stand auf dem Katheder. Zu Hause übersetzte er, dichtete er. Tieck vollendete mit schnellem Wurf seine Genovevci. Novalis dichterische Kraft wurde wieder lebendig; er trug sich mit seinem „Heinrich von Ofterdingen". Dorothea schrieb ihren Roman „Florentin". Und Friedrich Schlegel konnte vor lauter Dichten und Denken nicht zum Bilden und Schaffen kommen. Ganz wie der junge Bursch das schönste erste Semester mit Bewußtsein vertändelt, pries er die göttliche Kunst des Müßiggangs: „O Müßiggang, Müßiggang! Dich atmen die Seligen, und selig ist, wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! Einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb . . . Der Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dein Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehren." Merkwürdig, eher kam einmal den Frauen als einem der Männer der Gedanke, wie phäakenhaft doch eigentlich den Poeten und Ästhetikern hier der Tag dahinglitt, indes draußen das Genie der Tat die große Weltgeschichte machte. Karoline erzählte einst ihrer Tochter von dem, was es in der Poesie Neues gab; plötzlich unterbrach sie sich: „Doch diese Händel gehen dich nichts an, die Russen und Buonaparte aber sehr viel." Und Dorothea rief einmal Schleier¬ macher zu: „Ihr revolutionären Menschen müßtet erst mit Gut und Blut fechten, dann könntet ihr, um auszuruhn, schreiben wie Götz von Berlichingen seine Lebensgeschichte!" Heute saß die Gesellschaft und hörte das Konzert des blinden Flötenspielers Dülon aus Petersburg; morgen reiste sie in schwerfälligen Chaisen nach Weimar hinüber, um die erste Aufführung der Piccolomini zu sehen. Denn an diesen! Wallenstein war ganz Jena interessiert mit einem gewissen Stolz — war das Drama doch in ihrer Mitte entstanden! „Die Familien der Pro¬ fessoren, sagt Heinrich Steffens, sorgten und der größten Mühe schon bei der ersten Nachricht von der bevorstehenden Aufführung für Plätze. Man hörte in der ganzen Stadt von nichts anderm sprechen. Frauen und Töchter intrigierten gegeneinander, um sich wechselseitig zu verdrängen; wer einen Platz erhalten hatte, pries sich glücklich. Es entstanden aber auch Feindschaften, die später nicht ohne Folgen waren." An einem andern Tage führte man selbst daheim Theaterstücke auf. Einmal war es Goethes Stella, und Karoline spielte die Rolle der Cäcilie. Ein andermal nahm man Iphigenie, und die las sie noch herrlicher; man hörte es an dem Klingen ihrer Stimme, wie tief sie in die Dichtung drang. Friedrich schrieb an Auguste: „Wenn Du wieder da bist, wollen wir auch etwas agieren, etwas, wie das Stück, von dem Du schreibst. Du machst die schöne, aber treulose Angelika, Tieck den kleinen beglückten Schäfer Medoro, Schelling den rasenden Paladin, Orlando den Wütigen, ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/620>, abgerufen am 22.07.2024.