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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Hilfsbücher und Standardwerke

er alsdann nicht erfüllt hätte. Daß die Unternehmer und Gründer zu viel
auf einmal produzierten, das war ihre eigne Schuld. Wie es aber in Nu߬
land stets geht, wurde der Negierung die Verantwortung aufgebürdet."

Ich habe hiermit den besten Teil des Buches besprochen. Denn im Ab¬
schnitt IV finden sich kritische Bemerkungen des Autors nur vereinzelt. Und
doch hätte er gerade hier an die Ausführungen des Herrn Witschewski an¬
knüpfen können, der -- zufällig ein deutscher Schriftsteller -- eine tiefgründige
Vorstudie für jeden geliefert hat, der die russische Wirtschaft näher kennen
lernen will. (Rußlands Handels-, Zoll- und Jndustriepolitik. Berlin, Mittler
und Sohn, 1905.) Auch über die Landwirtschaft hätte sich Herr Schlesinger
besser aus deutschen Quellen unterrichten können als aus den russischen, die
er nicht angibt. Die Professoren Schultze-Gaevernitz (Studien aus Rußland --
neuerdings auch russisch), Max Weber (Rußlands Übergang zum Schein-
konstitutionalismus, Tübingen, 1906) und Ballod konnten ihm schon etwas
neues sagen. Aber wenn er gegen diese Schriftsteller von Beruf mißtrauisch
war, so brauchte er nur die Monographien der verschiednen Sachverständigen
am deutschen Generalkonsulat zu Se. Petersburg*) durchzusehen, um sich davon
zu überzeugen, daß zur Darstellung der russischen Wirtschaft in einem "Standard¬
werk" mehr Quellen gehören als die von ihm herangezognen. Zwei wichtige
Seiten der russischen Wirtschaft und vor allen Dingen der sozialen und ethischen
Grundlagen des bäuerlichen Lebens tut der Autor mit einigen Worten ab:
Hausindustrie und Wandergewerbe. Was er über die Hausindustrie im Mos¬
kaner Bezirk sagt, ist irreführend, da er das Wort "Kustargewerbe" nicht an¬
wendet. Nägel (S. 60) werden schon lange nicht mehr von Hausindustriellen
gefertigt, sondern von drei oder vier Aktiengesellschaften in mächtigen Fabriken;
allein im Gouvernement Tambow sind 68000 Nagelschmiede zwischen 1894
und 1898 brotlos geworden. Der Autor gibt auch keinen Umfang der Haus¬
gewerbe an; keine zahlenmäßige Angabe über die beschäftigten Arbeitshände
oder den Wert der Produktion lassen den Leser sich ein Bild machen. Und
doch ist die Zahl der wandernden Arbeiter mit zwanzig Millionen sicher nicht
zu hoch geschätzt.

Hiermit genug. Wäre der erste Teil unter dem Titel "Reiseerlebnisse"
erschienen, dann hätte ich geschrieben: "nett, harmlos, amüsant; die Polemik
dürfte ohne Schaden für das Buch fortbleiben; für drei Mark als Lektüre für
solche Leser zu empfehlen, die kein praktisches Interesse mit Rußland ver¬
bindet." Alles andre konnte ohne Verlust für die Wissenschaft und den
deutschen Handel wie für die deutsch-russischen Beziehungen ungedruckt bleiben.



Professor Auhagen, Die Landwirtschaft in Transkaspien (190S), Zur Besiedlung
Sibiriens (1902). A. Borchardt, Der Weizenbau im südwestlichen und zentralen Rußland usw.
(!W2), Die bäuerlichen Verhältnisse daselbst (1902), Aus dem Kaukasus, I. Teil 1906, II. Teil
l907. Schließlich Goebel, Volkswirtschaft Finnlands und Die Messe von Jrbit (1907), alle
in C, Heimanns Verlag.
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er alsdann nicht erfüllt hätte. Daß die Unternehmer und Gründer zu viel
auf einmal produzierten, das war ihre eigne Schuld. Wie es aber in Nu߬
land stets geht, wurde der Negierung die Verantwortung aufgebürdet."

Ich habe hiermit den besten Teil des Buches besprochen. Denn im Ab¬
schnitt IV finden sich kritische Bemerkungen des Autors nur vereinzelt. Und
doch hätte er gerade hier an die Ausführungen des Herrn Witschewski an¬
knüpfen können, der — zufällig ein deutscher Schriftsteller — eine tiefgründige
Vorstudie für jeden geliefert hat, der die russische Wirtschaft näher kennen
lernen will. (Rußlands Handels-, Zoll- und Jndustriepolitik. Berlin, Mittler
und Sohn, 1905.) Auch über die Landwirtschaft hätte sich Herr Schlesinger
besser aus deutschen Quellen unterrichten können als aus den russischen, die
er nicht angibt. Die Professoren Schultze-Gaevernitz (Studien aus Rußland —
neuerdings auch russisch), Max Weber (Rußlands Übergang zum Schein-
konstitutionalismus, Tübingen, 1906) und Ballod konnten ihm schon etwas
neues sagen. Aber wenn er gegen diese Schriftsteller von Beruf mißtrauisch
war, so brauchte er nur die Monographien der verschiednen Sachverständigen
am deutschen Generalkonsulat zu Se. Petersburg*) durchzusehen, um sich davon
zu überzeugen, daß zur Darstellung der russischen Wirtschaft in einem „Standard¬
werk" mehr Quellen gehören als die von ihm herangezognen. Zwei wichtige
Seiten der russischen Wirtschaft und vor allen Dingen der sozialen und ethischen
Grundlagen des bäuerlichen Lebens tut der Autor mit einigen Worten ab:
Hausindustrie und Wandergewerbe. Was er über die Hausindustrie im Mos¬
kaner Bezirk sagt, ist irreführend, da er das Wort „Kustargewerbe" nicht an¬
wendet. Nägel (S. 60) werden schon lange nicht mehr von Hausindustriellen
gefertigt, sondern von drei oder vier Aktiengesellschaften in mächtigen Fabriken;
allein im Gouvernement Tambow sind 68000 Nagelschmiede zwischen 1894
und 1898 brotlos geworden. Der Autor gibt auch keinen Umfang der Haus¬
gewerbe an; keine zahlenmäßige Angabe über die beschäftigten Arbeitshände
oder den Wert der Produktion lassen den Leser sich ein Bild machen. Und
doch ist die Zahl der wandernden Arbeiter mit zwanzig Millionen sicher nicht
zu hoch geschätzt.

Hiermit genug. Wäre der erste Teil unter dem Titel „Reiseerlebnisse"
erschienen, dann hätte ich geschrieben: „nett, harmlos, amüsant; die Polemik
dürfte ohne Schaden für das Buch fortbleiben; für drei Mark als Lektüre für
solche Leser zu empfehlen, die kein praktisches Interesse mit Rußland ver¬
bindet." Alles andre konnte ohne Verlust für die Wissenschaft und den
deutschen Handel wie für die deutsch-russischen Beziehungen ungedruckt bleiben.



Professor Auhagen, Die Landwirtschaft in Transkaspien (190S), Zur Besiedlung
Sibiriens (1902). A. Borchardt, Der Weizenbau im südwestlichen und zentralen Rußland usw.
(!W2), Die bäuerlichen Verhältnisse daselbst (1902), Aus dem Kaukasus, I. Teil 1906, II. Teil
l907. Schließlich Goebel, Volkswirtschaft Finnlands und Die Messe von Jrbit (1907), alle
in C, Heimanns Verlag.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/617>, abgerufen am 22.07.2024.