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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Hilfsbücher und Standardwerke

Das gehört auch zur Methode des Autors. "Man" sagt, "hervorragende Ge¬
lehrte" teilen mit, aber Professor Kruszewski versteht nichts von der Nuthenen-
bewegung! Bitte Belege! Wie soll uns ein Werk führen, wenn es keine Weg¬
weiser, nämlich Literaturnachweise enthält?

Ebenso ist die Wirtschaft behandelt. Das kurze Kapitel "Landwirtschaft"
ist nicht ungewandt geschrieben, vielleicht ein wenig zu rosig. Es verhüllt die
außerordentlich große Notlage der Landwirtschaft hinter einigen großen Zahlen,
wie wir es bei Veröffentlichungen der russischen Regierung gewohnt sind. Wir
wenden uns daher dem Kapitel "Die Bauern" (S. 457 bis 461) zu, das eine Er¬
gänzung bilden könnte. Leider finden wir dort nichts über die wirtschaftliche
Lage dieser 87 Prozent der Bevölkerung. Dagegen wird der deutsche Unter¬
nehmer zweifellos große Gewinne erzielen, wenn er sich merkt, daß die russischen
Bauern "offen und jedem Betrüge abgeneigt sind" <S. 525). Die wenigen
Zahlen sagen zwar, daß die Produktion zurückgegangen sei, aber der Autor
folgert daraus, daß der Wohlstand des Landes wachse. Er hat es ja mit eignen
Augen beobachtet, wie er wächst! Die Angabe, daß die Landpacht den Bauern
zwischen sechs und zehn Rubel koste (S- 406), ist wohl nur im äußersten Norden
zutreffend. In Litauen gibt wohl kein Besitzer unter zwölf Rubel sein Land
ab, und im Schwarzerdegebiet sind Pachtzahlungen von zwanzig bis vierund¬
zwanzig Rubel keine Seltenheit. Daß der Mir "ungemein elastisch ist", ist
neu. Gewiß konnte er nach dem Wortlaut der Gesetze jederzeit abgeändert
werden, doch nur mit Einwilligung der Mächtigen im Dorfe. Die aber
willigten gewöhnlich nicht ein, sondern sorgten beim Landhauptmann dafür,
daß die "Neuerer" ausgesiedelt wurden.

Die Abschnitte Industrie und Handel, die auf sechs Seiten (410 bis 416) ab¬
getan werden, enthalten einige längst bekannte Zahlen, etwa in der Art zu¬
sammengestellt, wie es in Herrn Kowalewskis berüchtigten Buche "Die
Produktivkräfte Rußlands" geschehen ist. Hübsch ist auch die Belehrung an
die Kapitalisten wegen ihres Verhaltens gegenüber dem Finanzminister auf
Seite 415 bis 416:'

"Auf den plötzlichen unvermittelter Aufschwung, der eine Überproduktion
zur Folge hatte, heißt es da, folgte eine Krisis. Eine große Anzahl der un¬
solider Gründungen vermochte das Sinken der Preise nicht auszuhalten. In
andern Gesellschaften waren die Berwaltungskosten so hoch gestiegen, daß keine
Dividenden gezahlt werden konnten. Gewisse für sicher geltende Unternehmungen
hatten durch Erweiterungsbauten und sonstige kostspielige Neueinrichtungen
ihren Etat so überlastet, daß sie ihre Zahlungen einstellen mußten. Nun
wurden gegen den Finanzminister, als die Krisis im Winter 1899 eintrat,
Vorwürfe erhoben, daß er durch Versprechungen die Fabrikanten zu Neu¬
gründungen veranlaßt und die Versprechungen dann nicht innegehalten habe.
Es ist aber nicht anzunehmen, daß der Finanzminister, ein tüchtiger Geschäfts¬
mann, irgendwelche Regierungsaufträge positiv in Aussicht gestellt habe, die


Hilfsbücher und Standardwerke

Das gehört auch zur Methode des Autors. „Man" sagt, „hervorragende Ge¬
lehrte" teilen mit, aber Professor Kruszewski versteht nichts von der Nuthenen-
bewegung! Bitte Belege! Wie soll uns ein Werk führen, wenn es keine Weg¬
weiser, nämlich Literaturnachweise enthält?

Ebenso ist die Wirtschaft behandelt. Das kurze Kapitel „Landwirtschaft"
ist nicht ungewandt geschrieben, vielleicht ein wenig zu rosig. Es verhüllt die
außerordentlich große Notlage der Landwirtschaft hinter einigen großen Zahlen,
wie wir es bei Veröffentlichungen der russischen Regierung gewohnt sind. Wir
wenden uns daher dem Kapitel „Die Bauern" (S. 457 bis 461) zu, das eine Er¬
gänzung bilden könnte. Leider finden wir dort nichts über die wirtschaftliche
Lage dieser 87 Prozent der Bevölkerung. Dagegen wird der deutsche Unter¬
nehmer zweifellos große Gewinne erzielen, wenn er sich merkt, daß die russischen
Bauern „offen und jedem Betrüge abgeneigt sind" <S. 525). Die wenigen
Zahlen sagen zwar, daß die Produktion zurückgegangen sei, aber der Autor
folgert daraus, daß der Wohlstand des Landes wachse. Er hat es ja mit eignen
Augen beobachtet, wie er wächst! Die Angabe, daß die Landpacht den Bauern
zwischen sechs und zehn Rubel koste (S- 406), ist wohl nur im äußersten Norden
zutreffend. In Litauen gibt wohl kein Besitzer unter zwölf Rubel sein Land
ab, und im Schwarzerdegebiet sind Pachtzahlungen von zwanzig bis vierund¬
zwanzig Rubel keine Seltenheit. Daß der Mir „ungemein elastisch ist", ist
neu. Gewiß konnte er nach dem Wortlaut der Gesetze jederzeit abgeändert
werden, doch nur mit Einwilligung der Mächtigen im Dorfe. Die aber
willigten gewöhnlich nicht ein, sondern sorgten beim Landhauptmann dafür,
daß die „Neuerer" ausgesiedelt wurden.

Die Abschnitte Industrie und Handel, die auf sechs Seiten (410 bis 416) ab¬
getan werden, enthalten einige längst bekannte Zahlen, etwa in der Art zu¬
sammengestellt, wie es in Herrn Kowalewskis berüchtigten Buche „Die
Produktivkräfte Rußlands" geschehen ist. Hübsch ist auch die Belehrung an
die Kapitalisten wegen ihres Verhaltens gegenüber dem Finanzminister auf
Seite 415 bis 416:'

„Auf den plötzlichen unvermittelter Aufschwung, der eine Überproduktion
zur Folge hatte, heißt es da, folgte eine Krisis. Eine große Anzahl der un¬
solider Gründungen vermochte das Sinken der Preise nicht auszuhalten. In
andern Gesellschaften waren die Berwaltungskosten so hoch gestiegen, daß keine
Dividenden gezahlt werden konnten. Gewisse für sicher geltende Unternehmungen
hatten durch Erweiterungsbauten und sonstige kostspielige Neueinrichtungen
ihren Etat so überlastet, daß sie ihre Zahlungen einstellen mußten. Nun
wurden gegen den Finanzminister, als die Krisis im Winter 1899 eintrat,
Vorwürfe erhoben, daß er durch Versprechungen die Fabrikanten zu Neu¬
gründungen veranlaßt und die Versprechungen dann nicht innegehalten habe.
Es ist aber nicht anzunehmen, daß der Finanzminister, ein tüchtiger Geschäfts¬
mann, irgendwelche Regierungsaufträge positiv in Aussicht gestellt habe, die


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[0616] Hilfsbücher und Standardwerke Das gehört auch zur Methode des Autors. „Man" sagt, „hervorragende Ge¬ lehrte" teilen mit, aber Professor Kruszewski versteht nichts von der Nuthenen- bewegung! Bitte Belege! Wie soll uns ein Werk führen, wenn es keine Weg¬ weiser, nämlich Literaturnachweise enthält? Ebenso ist die Wirtschaft behandelt. Das kurze Kapitel „Landwirtschaft" ist nicht ungewandt geschrieben, vielleicht ein wenig zu rosig. Es verhüllt die außerordentlich große Notlage der Landwirtschaft hinter einigen großen Zahlen, wie wir es bei Veröffentlichungen der russischen Regierung gewohnt sind. Wir wenden uns daher dem Kapitel „Die Bauern" (S. 457 bis 461) zu, das eine Er¬ gänzung bilden könnte. Leider finden wir dort nichts über die wirtschaftliche Lage dieser 87 Prozent der Bevölkerung. Dagegen wird der deutsche Unter¬ nehmer zweifellos große Gewinne erzielen, wenn er sich merkt, daß die russischen Bauern „offen und jedem Betrüge abgeneigt sind" <S. 525). Die wenigen Zahlen sagen zwar, daß die Produktion zurückgegangen sei, aber der Autor folgert daraus, daß der Wohlstand des Landes wachse. Er hat es ja mit eignen Augen beobachtet, wie er wächst! Die Angabe, daß die Landpacht den Bauern zwischen sechs und zehn Rubel koste (S- 406), ist wohl nur im äußersten Norden zutreffend. In Litauen gibt wohl kein Besitzer unter zwölf Rubel sein Land ab, und im Schwarzerdegebiet sind Pachtzahlungen von zwanzig bis vierund¬ zwanzig Rubel keine Seltenheit. Daß der Mir „ungemein elastisch ist", ist neu. Gewiß konnte er nach dem Wortlaut der Gesetze jederzeit abgeändert werden, doch nur mit Einwilligung der Mächtigen im Dorfe. Die aber willigten gewöhnlich nicht ein, sondern sorgten beim Landhauptmann dafür, daß die „Neuerer" ausgesiedelt wurden. Die Abschnitte Industrie und Handel, die auf sechs Seiten (410 bis 416) ab¬ getan werden, enthalten einige längst bekannte Zahlen, etwa in der Art zu¬ sammengestellt, wie es in Herrn Kowalewskis berüchtigten Buche „Die Produktivkräfte Rußlands" geschehen ist. Hübsch ist auch die Belehrung an die Kapitalisten wegen ihres Verhaltens gegenüber dem Finanzminister auf Seite 415 bis 416:' „Auf den plötzlichen unvermittelter Aufschwung, der eine Überproduktion zur Folge hatte, heißt es da, folgte eine Krisis. Eine große Anzahl der un¬ solider Gründungen vermochte das Sinken der Preise nicht auszuhalten. In andern Gesellschaften waren die Berwaltungskosten so hoch gestiegen, daß keine Dividenden gezahlt werden konnten. Gewisse für sicher geltende Unternehmungen hatten durch Erweiterungsbauten und sonstige kostspielige Neueinrichtungen ihren Etat so überlastet, daß sie ihre Zahlungen einstellen mußten. Nun wurden gegen den Finanzminister, als die Krisis im Winter 1899 eintrat, Vorwürfe erhoben, daß er durch Versprechungen die Fabrikanten zu Neu¬ gründungen veranlaßt und die Versprechungen dann nicht innegehalten habe. Es ist aber nicht anzunehmen, daß der Finanzminister, ein tüchtiger Geschäfts¬ mann, irgendwelche Regierungsaufträge positiv in Aussicht gestellt habe, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/616>, abgerufen am 22.07.2024.