Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hilfsbücher und Standardwerke

"Gelehrten aller Zweige" einen Leitfaden in die Hand geben wollte. Übrigens
hätte er bei Baron Korff einige wichtige Hilfen gefunden.*) Auf S. 11 ver^
nisse ich die Erwähnung Tschaadajews, der in den vierziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts den katholischen Neigungen der russischen Gesellschaft
so trefflichen Ausdruck gab. Hätte sich der Autor bei der Niederschrift des
Buches vou Schiemann, Nikolaus der Erste, erinnert, dann wäre ihm der
Name Tschciadajew wohl ebensowenig entgangen wie die Schriften des gegen¬
wärtig lebenden Kirejewski, und mancher Vorgang in der russischen Gesell¬
schaft wäre ihm der Beachtung wert geworden. Gerade für uns Deutsche in
unserm doppelten Kampf gegen Rom und gegen die Polen wäre in einem
Standardwerk eine Untersuchung der Frage am Platze gewesen. Schließlich:
wo sind die Narodniki? Sie hätten ganz schön an die Stelle der Nihilisten
gepaßt, wenn sie auch den Leser weniger gruseln machen als jene. Bakunin
ist im Nahmen des Buches viel zu ausführlich behandelt, was aber über ihn
gesagt ist, hat längst in guten "deutschen" Zeitungsartikeln, zum Beispiel in
der Kölnischen Zeitung, gestanden. Hat der Autor nichts von den Volks-
sozialisten gehört? Diese rationalistisch-soziale Partei, die eine so große Rolle
hinter den Kulissen der zweiten Duma wie der Sozialisten überhaupt spielt,
ist eine Tochter jener Bewegung der Narodniki.

Teil I nennt sich "Land und Leute im allgemeinen". Wenn ich mich
nicht irre, habe ich viele der Seiten 39 bis 220 schon als Feuilleton in der
Schlesischen Zeitung gelesen. Warum sagt der Autor davon nichts im Vor¬
wort? Ich komme damit zur Methode des Autors, die ja wohl moderner
sein soll als Leroy-Beaulieus. Mir erscheint das Buch wie eine Sammlung
von vielen miteinander kaum zusammenhängenden Zeitungsartikeln von ver-
schiednen Wert, in denen der Autor entweder persönliche, manchmal ganz
amüsante Erlebnisse schildert oder offizielle Angaben wörtlich mitteilt. In
allen diesen von hundert, tausend andern längst erlebten und hundertmal be-
schriebnen Kleinigkeiten gibt es keine verbindende Linie, sondern einzig die
Person des Autors. Im Kapitel von den Polen (S. 146/63) erzählt der
Autor auf sechs Seiten von den durch die Zeitungen bekannten revolutionären
Exzessen und behauptet schließlich auf S. 153, "die wirtschaftliche Lage der
Arbeiter in Russisch-Polen hat sich infolge des Generalstreiks wesentlich ver¬
bessert". Von einer Darstellung der Parteien, von der religiösen Bewegung
der Mariaviten, von der Schulorganisation der Polen, mit einem Wort von
den positiven Grundlagen politischer Verhältnisse -- nichts! Daß die wohl¬
habenden und gebildeten Juden nicht mit den Narodowce gehn sollten, dürfte
in dieser Verallgemeinerung nicht zutreffen (S. 160). Am Schluß des Ab¬
schnittes wird dann ein Autonomieprojekt ohne Quellenangabe abgedruckt.



*) S. A. Korff, "Der Adel", Se. Petersburg, 1906, vgl. Russische Briefe in den Grenz¬
boten 8 bis II von 1907.
Hilfsbücher und Standardwerke

„Gelehrten aller Zweige" einen Leitfaden in die Hand geben wollte. Übrigens
hätte er bei Baron Korff einige wichtige Hilfen gefunden.*) Auf S. 11 ver^
nisse ich die Erwähnung Tschaadajews, der in den vierziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts den katholischen Neigungen der russischen Gesellschaft
so trefflichen Ausdruck gab. Hätte sich der Autor bei der Niederschrift des
Buches vou Schiemann, Nikolaus der Erste, erinnert, dann wäre ihm der
Name Tschciadajew wohl ebensowenig entgangen wie die Schriften des gegen¬
wärtig lebenden Kirejewski, und mancher Vorgang in der russischen Gesell¬
schaft wäre ihm der Beachtung wert geworden. Gerade für uns Deutsche in
unserm doppelten Kampf gegen Rom und gegen die Polen wäre in einem
Standardwerk eine Untersuchung der Frage am Platze gewesen. Schließlich:
wo sind die Narodniki? Sie hätten ganz schön an die Stelle der Nihilisten
gepaßt, wenn sie auch den Leser weniger gruseln machen als jene. Bakunin
ist im Nahmen des Buches viel zu ausführlich behandelt, was aber über ihn
gesagt ist, hat längst in guten „deutschen" Zeitungsartikeln, zum Beispiel in
der Kölnischen Zeitung, gestanden. Hat der Autor nichts von den Volks-
sozialisten gehört? Diese rationalistisch-soziale Partei, die eine so große Rolle
hinter den Kulissen der zweiten Duma wie der Sozialisten überhaupt spielt,
ist eine Tochter jener Bewegung der Narodniki.

Teil I nennt sich „Land und Leute im allgemeinen". Wenn ich mich
nicht irre, habe ich viele der Seiten 39 bis 220 schon als Feuilleton in der
Schlesischen Zeitung gelesen. Warum sagt der Autor davon nichts im Vor¬
wort? Ich komme damit zur Methode des Autors, die ja wohl moderner
sein soll als Leroy-Beaulieus. Mir erscheint das Buch wie eine Sammlung
von vielen miteinander kaum zusammenhängenden Zeitungsartikeln von ver-
schiednen Wert, in denen der Autor entweder persönliche, manchmal ganz
amüsante Erlebnisse schildert oder offizielle Angaben wörtlich mitteilt. In
allen diesen von hundert, tausend andern längst erlebten und hundertmal be-
schriebnen Kleinigkeiten gibt es keine verbindende Linie, sondern einzig die
Person des Autors. Im Kapitel von den Polen (S. 146/63) erzählt der
Autor auf sechs Seiten von den durch die Zeitungen bekannten revolutionären
Exzessen und behauptet schließlich auf S. 153, „die wirtschaftliche Lage der
Arbeiter in Russisch-Polen hat sich infolge des Generalstreiks wesentlich ver¬
bessert". Von einer Darstellung der Parteien, von der religiösen Bewegung
der Mariaviten, von der Schulorganisation der Polen, mit einem Wort von
den positiven Grundlagen politischer Verhältnisse — nichts! Daß die wohl¬
habenden und gebildeten Juden nicht mit den Narodowce gehn sollten, dürfte
in dieser Verallgemeinerung nicht zutreffen (S. 160). Am Schluß des Ab¬
schnittes wird dann ein Autonomieprojekt ohne Quellenangabe abgedruckt.



*) S. A. Korff, „Der Adel", Se. Petersburg, 1906, vgl. Russische Briefe in den Grenz¬
boten 8 bis II von 1907.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0615" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311698"/>
          <fw type="header" place="top"> Hilfsbücher und Standardwerke</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2880" prev="#ID_2879"> &#x201E;Gelehrten aller Zweige" einen Leitfaden in die Hand geben wollte. Übrigens<lb/>
hätte er bei Baron Korff einige wichtige Hilfen gefunden.*) Auf S. 11 ver^<lb/>
nisse ich die Erwähnung Tschaadajews, der in den vierziger Jahren des<lb/>
vorigen Jahrhunderts den katholischen Neigungen der russischen Gesellschaft<lb/>
so trefflichen Ausdruck gab. Hätte sich der Autor bei der Niederschrift des<lb/>
Buches vou Schiemann, Nikolaus der Erste, erinnert, dann wäre ihm der<lb/>
Name Tschciadajew wohl ebensowenig entgangen wie die Schriften des gegen¬<lb/>
wärtig lebenden Kirejewski, und mancher Vorgang in der russischen Gesell¬<lb/>
schaft wäre ihm der Beachtung wert geworden. Gerade für uns Deutsche in<lb/>
unserm doppelten Kampf gegen Rom und gegen die Polen wäre in einem<lb/>
Standardwerk eine Untersuchung der Frage am Platze gewesen. Schließlich:<lb/>
wo sind die Narodniki? Sie hätten ganz schön an die Stelle der Nihilisten<lb/>
gepaßt, wenn sie auch den Leser weniger gruseln machen als jene. Bakunin<lb/>
ist im Nahmen des Buches viel zu ausführlich behandelt, was aber über ihn<lb/>
gesagt ist, hat längst in guten &#x201E;deutschen" Zeitungsartikeln, zum Beispiel in<lb/>
der Kölnischen Zeitung, gestanden. Hat der Autor nichts von den Volks-<lb/>
sozialisten gehört? Diese rationalistisch-soziale Partei, die eine so große Rolle<lb/>
hinter den Kulissen der zweiten Duma wie der Sozialisten überhaupt spielt,<lb/>
ist eine Tochter jener Bewegung der Narodniki.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2881" next="#ID_2882"> Teil I nennt sich &#x201E;Land und Leute im allgemeinen". Wenn ich mich<lb/>
nicht irre, habe ich viele der Seiten 39 bis 220 schon als Feuilleton in der<lb/>
Schlesischen Zeitung gelesen. Warum sagt der Autor davon nichts im Vor¬<lb/>
wort? Ich komme damit zur Methode des Autors, die ja wohl moderner<lb/>
sein soll als Leroy-Beaulieus. Mir erscheint das Buch wie eine Sammlung<lb/>
von vielen miteinander kaum zusammenhängenden Zeitungsartikeln von ver-<lb/>
schiednen Wert, in denen der Autor entweder persönliche, manchmal ganz<lb/>
amüsante Erlebnisse schildert oder offizielle Angaben wörtlich mitteilt. In<lb/>
allen diesen von hundert, tausend andern längst erlebten und hundertmal be-<lb/>
schriebnen Kleinigkeiten gibt es keine verbindende Linie, sondern einzig die<lb/>
Person des Autors. Im Kapitel von den Polen (S. 146/63) erzählt der<lb/>
Autor auf sechs Seiten von den durch die Zeitungen bekannten revolutionären<lb/>
Exzessen und behauptet schließlich auf S. 153, &#x201E;die wirtschaftliche Lage der<lb/>
Arbeiter in Russisch-Polen hat sich infolge des Generalstreiks wesentlich ver¬<lb/>
bessert". Von einer Darstellung der Parteien, von der religiösen Bewegung<lb/>
der Mariaviten, von der Schulorganisation der Polen, mit einem Wort von<lb/>
den positiven Grundlagen politischer Verhältnisse &#x2014; nichts! Daß die wohl¬<lb/>
habenden und gebildeten Juden nicht mit den Narodowce gehn sollten, dürfte<lb/>
in dieser Verallgemeinerung nicht zutreffen (S. 160). Am Schluß des Ab¬<lb/>
schnittes wird dann ein Autonomieprojekt ohne Quellenangabe abgedruckt.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_53" place="foot"> *) S. A. Korff, &#x201E;Der Adel", Se. Petersburg, 1906, vgl. Russische Briefe in den Grenz¬<lb/>
boten 8 bis II von 1907.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0615] Hilfsbücher und Standardwerke „Gelehrten aller Zweige" einen Leitfaden in die Hand geben wollte. Übrigens hätte er bei Baron Korff einige wichtige Hilfen gefunden.*) Auf S. 11 ver^ nisse ich die Erwähnung Tschaadajews, der in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den katholischen Neigungen der russischen Gesellschaft so trefflichen Ausdruck gab. Hätte sich der Autor bei der Niederschrift des Buches vou Schiemann, Nikolaus der Erste, erinnert, dann wäre ihm der Name Tschciadajew wohl ebensowenig entgangen wie die Schriften des gegen¬ wärtig lebenden Kirejewski, und mancher Vorgang in der russischen Gesell¬ schaft wäre ihm der Beachtung wert geworden. Gerade für uns Deutsche in unserm doppelten Kampf gegen Rom und gegen die Polen wäre in einem Standardwerk eine Untersuchung der Frage am Platze gewesen. Schließlich: wo sind die Narodniki? Sie hätten ganz schön an die Stelle der Nihilisten gepaßt, wenn sie auch den Leser weniger gruseln machen als jene. Bakunin ist im Nahmen des Buches viel zu ausführlich behandelt, was aber über ihn gesagt ist, hat längst in guten „deutschen" Zeitungsartikeln, zum Beispiel in der Kölnischen Zeitung, gestanden. Hat der Autor nichts von den Volks- sozialisten gehört? Diese rationalistisch-soziale Partei, die eine so große Rolle hinter den Kulissen der zweiten Duma wie der Sozialisten überhaupt spielt, ist eine Tochter jener Bewegung der Narodniki. Teil I nennt sich „Land und Leute im allgemeinen". Wenn ich mich nicht irre, habe ich viele der Seiten 39 bis 220 schon als Feuilleton in der Schlesischen Zeitung gelesen. Warum sagt der Autor davon nichts im Vor¬ wort? Ich komme damit zur Methode des Autors, die ja wohl moderner sein soll als Leroy-Beaulieus. Mir erscheint das Buch wie eine Sammlung von vielen miteinander kaum zusammenhängenden Zeitungsartikeln von ver- schiednen Wert, in denen der Autor entweder persönliche, manchmal ganz amüsante Erlebnisse schildert oder offizielle Angaben wörtlich mitteilt. In allen diesen von hundert, tausend andern längst erlebten und hundertmal be- schriebnen Kleinigkeiten gibt es keine verbindende Linie, sondern einzig die Person des Autors. Im Kapitel von den Polen (S. 146/63) erzählt der Autor auf sechs Seiten von den durch die Zeitungen bekannten revolutionären Exzessen und behauptet schließlich auf S. 153, „die wirtschaftliche Lage der Arbeiter in Russisch-Polen hat sich infolge des Generalstreiks wesentlich ver¬ bessert". Von einer Darstellung der Parteien, von der religiösen Bewegung der Mariaviten, von der Schulorganisation der Polen, mit einem Wort von den positiven Grundlagen politischer Verhältnisse — nichts! Daß die wohl¬ habenden und gebildeten Juden nicht mit den Narodowce gehn sollten, dürfte in dieser Verallgemeinerung nicht zutreffen (S. 160). Am Schluß des Ab¬ schnittes wird dann ein Autonomieprojekt ohne Quellenangabe abgedruckt. *) S. A. Korff, „Der Adel", Se. Petersburg, 1906, vgl. Russische Briefe in den Grenz¬ boten 8 bis II von 1907.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/615
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/615>, abgerufen am 22.07.2024.