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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Biologischer Unterricht i"t den Zehnten

und erregtem Herzen. Aber wie klein ist außerhalb der Reihen der Fach¬
gelehrten die Zahl derer, die von der Sache etwas sicheres wissen! Bei weitem
die meisten haben nur dies und jenes von ihr erfahren aus populären Vor¬
trägen oder Aufsätzen, vielleicht gar nur aus gelegentlichen Erwähnungen; eine
zusammenhängende Kenntnis hat fast niemand. Das aber, was am weitesten
dringt und am leichtesten haftet, das sind die Schlagworte, die gewagten Be¬
hauptungen und blendenden Halbwahrheiten, in denen die populären Dar¬
stellungen ihren Hauptreiz zu suchen pflegen, und die -- im Tone der Wissen¬
schaftlichkeit als sichere Ergebnisse exakter Forschung hingestellt -- den vollen
Beweis für die neue Lehre -- "Darwinismus" nennt sie der Laie -- zu er¬
bringen scheinen. Der Banause greift das alles begierig auf und trägt die
gefährliche Saat in fröhlicher Torheit weiter, der Ernsthafte sucht wohl zu
prüfen, findet sich aber nicht zurecht und meint nach einigem Sträuben in seiner
Hochachtung vor der Wissenschaft bescheiden, mit der Entwicklungslehre habe
es doch wohl seine Nichtigkeit. Damit aber gerät sein religiöser Glaube ins
Schwanken, denn daß Entwicklungslehre und Glaubenslehre unvereinbar seien,
das scheint ihm leider festzustehn. So wurde es ja auch in den sechziger und
siebziger Jahren von der kirchenfeindlichen deutschen Gelehrtenwelt, die sich voll
Eifer dem in seiner Heimat befehdeten Darwin zuwandte, verkündet; die Kirche
selbst, oder doch ein großer Teil ihrer ängstlichen Diener, meinte dasselbe, und
daß inzwischen eine andre Meinung Platz gegriffen hätte, davon hat man kaum
etwas gehört. Die im Publikum am meisten bekannten Biologen erklären denn
ja auch heute noch, daß sie durch ihre Wissenschaft den alten Glauben über¬
wunden, Gott ein für allemal abgetan hätten.

In Wirklichkeit aber liegt die Sache anders. Die biologische Forschung
hat in den letzten Jahrzehnten dem Schatz des menschlichen Wissens viel neues
zugeführt. Sie hat namentlich über das Werden, Sein und Vergehen der
organischen Gebilde Entdeckungen gemacht, die ungeahnte Einblicke in das
Schaffen der Natur und in den Zusammenhang ihrer drei Reiche gewähren-
Zu diesen Entdeckungen gehört die, daß sich die Natur zum Aufbau jener Ge¬
bilde der Zelle bedient, die sie mit einer Wunderbaren Fähigkeit der Vermehrung
und Gruppenbildung (Gestaltung) ausgestattet hat. Aber die ernste und auf¬
richtige Wissenschaft ist weit entfernt von der Behauptung, daß sie die Ent¬
stehung ("Entwicklung") der Arten aus einer Urzelle und die Abstammung der
einen Art von der andern nachgewiesen, die Herkunft des Menschen gefunden
oder die Fähigkeit der Materie zur Hervorbringung seelischen Lebens, ins¬
besondre des Bewußtseins, dargetan hätte. Sie lehnt es ab, Häckelsche Ab¬
stammungstafeln und ähnliche effektvolle Phantasien als wissenschaftliche Wahr¬
heiten zu vertreten, und bedauert, daß ihre vorlaute, um nicht zu sagen
niarktschreierische Anpreisung dem Ruhme der deutschen Gelehrsamkeit Abbruch
tut. Gewissenhaft erkennt sie vielmehr an, daß sie über die Entstehung der
Organismen bisher nur eine Reihe rasch einander ablösender Hypothesen und


Biologischer Unterricht i»t den Zehnten

und erregtem Herzen. Aber wie klein ist außerhalb der Reihen der Fach¬
gelehrten die Zahl derer, die von der Sache etwas sicheres wissen! Bei weitem
die meisten haben nur dies und jenes von ihr erfahren aus populären Vor¬
trägen oder Aufsätzen, vielleicht gar nur aus gelegentlichen Erwähnungen; eine
zusammenhängende Kenntnis hat fast niemand. Das aber, was am weitesten
dringt und am leichtesten haftet, das sind die Schlagworte, die gewagten Be¬
hauptungen und blendenden Halbwahrheiten, in denen die populären Dar¬
stellungen ihren Hauptreiz zu suchen pflegen, und die — im Tone der Wissen¬
schaftlichkeit als sichere Ergebnisse exakter Forschung hingestellt — den vollen
Beweis für die neue Lehre — „Darwinismus" nennt sie der Laie — zu er¬
bringen scheinen. Der Banause greift das alles begierig auf und trägt die
gefährliche Saat in fröhlicher Torheit weiter, der Ernsthafte sucht wohl zu
prüfen, findet sich aber nicht zurecht und meint nach einigem Sträuben in seiner
Hochachtung vor der Wissenschaft bescheiden, mit der Entwicklungslehre habe
es doch wohl seine Nichtigkeit. Damit aber gerät sein religiöser Glaube ins
Schwanken, denn daß Entwicklungslehre und Glaubenslehre unvereinbar seien,
das scheint ihm leider festzustehn. So wurde es ja auch in den sechziger und
siebziger Jahren von der kirchenfeindlichen deutschen Gelehrtenwelt, die sich voll
Eifer dem in seiner Heimat befehdeten Darwin zuwandte, verkündet; die Kirche
selbst, oder doch ein großer Teil ihrer ängstlichen Diener, meinte dasselbe, und
daß inzwischen eine andre Meinung Platz gegriffen hätte, davon hat man kaum
etwas gehört. Die im Publikum am meisten bekannten Biologen erklären denn
ja auch heute noch, daß sie durch ihre Wissenschaft den alten Glauben über¬
wunden, Gott ein für allemal abgetan hätten.

In Wirklichkeit aber liegt die Sache anders. Die biologische Forschung
hat in den letzten Jahrzehnten dem Schatz des menschlichen Wissens viel neues
zugeführt. Sie hat namentlich über das Werden, Sein und Vergehen der
organischen Gebilde Entdeckungen gemacht, die ungeahnte Einblicke in das
Schaffen der Natur und in den Zusammenhang ihrer drei Reiche gewähren-
Zu diesen Entdeckungen gehört die, daß sich die Natur zum Aufbau jener Ge¬
bilde der Zelle bedient, die sie mit einer Wunderbaren Fähigkeit der Vermehrung
und Gruppenbildung (Gestaltung) ausgestattet hat. Aber die ernste und auf¬
richtige Wissenschaft ist weit entfernt von der Behauptung, daß sie die Ent¬
stehung („Entwicklung") der Arten aus einer Urzelle und die Abstammung der
einen Art von der andern nachgewiesen, die Herkunft des Menschen gefunden
oder die Fähigkeit der Materie zur Hervorbringung seelischen Lebens, ins¬
besondre des Bewußtseins, dargetan hätte. Sie lehnt es ab, Häckelsche Ab¬
stammungstafeln und ähnliche effektvolle Phantasien als wissenschaftliche Wahr¬
heiten zu vertreten, und bedauert, daß ihre vorlaute, um nicht zu sagen
niarktschreierische Anpreisung dem Ruhme der deutschen Gelehrsamkeit Abbruch
tut. Gewissenhaft erkennt sie vielmehr an, daß sie über die Entstehung der
Organismen bisher nur eine Reihe rasch einander ablösender Hypothesen und


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[0564] Biologischer Unterricht i»t den Zehnten und erregtem Herzen. Aber wie klein ist außerhalb der Reihen der Fach¬ gelehrten die Zahl derer, die von der Sache etwas sicheres wissen! Bei weitem die meisten haben nur dies und jenes von ihr erfahren aus populären Vor¬ trägen oder Aufsätzen, vielleicht gar nur aus gelegentlichen Erwähnungen; eine zusammenhängende Kenntnis hat fast niemand. Das aber, was am weitesten dringt und am leichtesten haftet, das sind die Schlagworte, die gewagten Be¬ hauptungen und blendenden Halbwahrheiten, in denen die populären Dar¬ stellungen ihren Hauptreiz zu suchen pflegen, und die — im Tone der Wissen¬ schaftlichkeit als sichere Ergebnisse exakter Forschung hingestellt — den vollen Beweis für die neue Lehre — „Darwinismus" nennt sie der Laie — zu er¬ bringen scheinen. Der Banause greift das alles begierig auf und trägt die gefährliche Saat in fröhlicher Torheit weiter, der Ernsthafte sucht wohl zu prüfen, findet sich aber nicht zurecht und meint nach einigem Sträuben in seiner Hochachtung vor der Wissenschaft bescheiden, mit der Entwicklungslehre habe es doch wohl seine Nichtigkeit. Damit aber gerät sein religiöser Glaube ins Schwanken, denn daß Entwicklungslehre und Glaubenslehre unvereinbar seien, das scheint ihm leider festzustehn. So wurde es ja auch in den sechziger und siebziger Jahren von der kirchenfeindlichen deutschen Gelehrtenwelt, die sich voll Eifer dem in seiner Heimat befehdeten Darwin zuwandte, verkündet; die Kirche selbst, oder doch ein großer Teil ihrer ängstlichen Diener, meinte dasselbe, und daß inzwischen eine andre Meinung Platz gegriffen hätte, davon hat man kaum etwas gehört. Die im Publikum am meisten bekannten Biologen erklären denn ja auch heute noch, daß sie durch ihre Wissenschaft den alten Glauben über¬ wunden, Gott ein für allemal abgetan hätten. In Wirklichkeit aber liegt die Sache anders. Die biologische Forschung hat in den letzten Jahrzehnten dem Schatz des menschlichen Wissens viel neues zugeführt. Sie hat namentlich über das Werden, Sein und Vergehen der organischen Gebilde Entdeckungen gemacht, die ungeahnte Einblicke in das Schaffen der Natur und in den Zusammenhang ihrer drei Reiche gewähren- Zu diesen Entdeckungen gehört die, daß sich die Natur zum Aufbau jener Ge¬ bilde der Zelle bedient, die sie mit einer Wunderbaren Fähigkeit der Vermehrung und Gruppenbildung (Gestaltung) ausgestattet hat. Aber die ernste und auf¬ richtige Wissenschaft ist weit entfernt von der Behauptung, daß sie die Ent¬ stehung („Entwicklung") der Arten aus einer Urzelle und die Abstammung der einen Art von der andern nachgewiesen, die Herkunft des Menschen gefunden oder die Fähigkeit der Materie zur Hervorbringung seelischen Lebens, ins¬ besondre des Bewußtseins, dargetan hätte. Sie lehnt es ab, Häckelsche Ab¬ stammungstafeln und ähnliche effektvolle Phantasien als wissenschaftliche Wahr¬ heiten zu vertreten, und bedauert, daß ihre vorlaute, um nicht zu sagen niarktschreierische Anpreisung dem Ruhme der deutschen Gelehrsamkeit Abbruch tut. Gewissenhaft erkennt sie vielmehr an, daß sie über die Entstehung der Organismen bisher nur eine Reihe rasch einander ablösender Hypothesen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/564>, abgerufen am 22.07.2024.