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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Rußland im fernen Vsten nach dem Kriege

Was hat nun Rußland in Wirklichkeit verloren? Erstens die Liautung-
halbinsel mit dem Kwangtuug-Pachtgebiet und Port Arthur, jenes Gebiet, das
Rußland den Zugang zum eisfreien Weltmeer gestatten sollte, ihm aber keine
Vorteile gebracht hat, sondern nur zur Hauptursache des Krieges geworden ist.
Weiter büßte es 660 Werst der mandschurischen Eisenbahn und die Herrschaft
über eine der mandschurischen Provinzen, Feng-Tim, ein, indem die russischen
Heere nach der Schlacht von Mukden bis an die Grenzen der zweiten mandschurischen
Provinz, Kinn, zurückwichen. Für Nußland fiel außerdem die Möglichkeit weg,
Korea vom rechten Jaluufer aus zu bedrohen. Andrerseits stand diesen absoluten
Verlusten immer noch ein recht bedeutendes Guthaben gegenüber. Der größere
Teil der mandschurischen Bahn (1713 Werst) war in russischer Gewalt geblieben,
und nach wie vor herrscht der russische Einfluß in den beiden nördlichen mandschu¬
rischen Provinzen, Kirin und Heilung-chiang. Mit andern Worten: Nußland
beherrscht noch vier Fünftel des Eisenbahnsystems und etwa sechs Siebentel
des mandschurischen Bodens. Wenn auch die nördliche Mandschurei vielfach noch
unbebautes Land ist, so findet doch eine stetig zunehmende Einwcmdrnng von
Chinesen in die Ebenen des Sungari- und des Nonniflusses statt, und schon die
nächsten Jahrzehnte werden die Erschließung dieser fruchtbaren Gebiete sehn. In
bezug auf die Ertragfühigkeit an Korn und andern Lebensmitteln sind diese
Gebiete unerschöpflich, wie die Tatsache beweist, daß die russische Feldarmee fast
ausschließlich aus dem Lande verpflegt wurde.

Rußlands militärische Stellung im Osten ist ebenfalls sehr verbessert worden.
Durch die Räumung der erwähnten Gebiete ist es vor Überraschungen, wie die,
die es anfangs 1904 erlebte, gesichert. Die russische Position in der zentralen
Mandschurei ist sehr stark, da es Zeit genug haben wird, dort seine Streitkräfte
zu versammeln, wo sie am Ende des Krieges standen. Der Schutz der laugen
und gefährlichen Küstenlinie ist nicht mehr nötig, Nußland stützt sich in Zukunft
allein auf die transkontinentale Eisenbahnverbindung mit dem europäischen
Rußland und die neuen Bahnen, die es zu bauen beabsichtigt, nicht auf eine
etwa neu zu erbauende Flotte.

Eine Betrachtung dieser neuen russischen Eisenbahnpläne zeigt, daß sich
Rußland durchaus nicht als "geschlagen" betrachtet und den Ausgang des
Krieges keineswegs als eine endgiltige Lösung seiner Herrschaft im Osten ansieht.

Diese Bahnprojelte sind geeignet, die Lage im Osten von Grund auf um¬
zugestalten. Erstens soll die sibirische Bahn nach und nach auf ihrer ganzen
Länge doppelgleisig ausgebaut werden. Die Orenburg-Taschkentbahn und damit
auch die' transkaspische Linie sollen mit der sibirischen Bahn bei Tomsk ver¬
bunden werden. Die nicht unbedeutenden Hilfsquellen Turrestäns und der
Mongolei würden damit für den Osten erschlossen. Da die militärische Lage
Rußlands in Zentralasien durch den Vertrag mit England eine vorläufige
Regelung erfahren hat, so steht einer Heranziehung zentralasiatischer Truppen
nichts im Wege.


Rußland im fernen Vsten nach dem Kriege

Was hat nun Rußland in Wirklichkeit verloren? Erstens die Liautung-
halbinsel mit dem Kwangtuug-Pachtgebiet und Port Arthur, jenes Gebiet, das
Rußland den Zugang zum eisfreien Weltmeer gestatten sollte, ihm aber keine
Vorteile gebracht hat, sondern nur zur Hauptursache des Krieges geworden ist.
Weiter büßte es 660 Werst der mandschurischen Eisenbahn und die Herrschaft
über eine der mandschurischen Provinzen, Feng-Tim, ein, indem die russischen
Heere nach der Schlacht von Mukden bis an die Grenzen der zweiten mandschurischen
Provinz, Kinn, zurückwichen. Für Nußland fiel außerdem die Möglichkeit weg,
Korea vom rechten Jaluufer aus zu bedrohen. Andrerseits stand diesen absoluten
Verlusten immer noch ein recht bedeutendes Guthaben gegenüber. Der größere
Teil der mandschurischen Bahn (1713 Werst) war in russischer Gewalt geblieben,
und nach wie vor herrscht der russische Einfluß in den beiden nördlichen mandschu¬
rischen Provinzen, Kirin und Heilung-chiang. Mit andern Worten: Nußland
beherrscht noch vier Fünftel des Eisenbahnsystems und etwa sechs Siebentel
des mandschurischen Bodens. Wenn auch die nördliche Mandschurei vielfach noch
unbebautes Land ist, so findet doch eine stetig zunehmende Einwcmdrnng von
Chinesen in die Ebenen des Sungari- und des Nonniflusses statt, und schon die
nächsten Jahrzehnte werden die Erschließung dieser fruchtbaren Gebiete sehn. In
bezug auf die Ertragfühigkeit an Korn und andern Lebensmitteln sind diese
Gebiete unerschöpflich, wie die Tatsache beweist, daß die russische Feldarmee fast
ausschließlich aus dem Lande verpflegt wurde.

Rußlands militärische Stellung im Osten ist ebenfalls sehr verbessert worden.
Durch die Räumung der erwähnten Gebiete ist es vor Überraschungen, wie die,
die es anfangs 1904 erlebte, gesichert. Die russische Position in der zentralen
Mandschurei ist sehr stark, da es Zeit genug haben wird, dort seine Streitkräfte
zu versammeln, wo sie am Ende des Krieges standen. Der Schutz der laugen
und gefährlichen Küstenlinie ist nicht mehr nötig, Nußland stützt sich in Zukunft
allein auf die transkontinentale Eisenbahnverbindung mit dem europäischen
Rußland und die neuen Bahnen, die es zu bauen beabsichtigt, nicht auf eine
etwa neu zu erbauende Flotte.

Eine Betrachtung dieser neuen russischen Eisenbahnpläne zeigt, daß sich
Rußland durchaus nicht als „geschlagen" betrachtet und den Ausgang des
Krieges keineswegs als eine endgiltige Lösung seiner Herrschaft im Osten ansieht.

Diese Bahnprojelte sind geeignet, die Lage im Osten von Grund auf um¬
zugestalten. Erstens soll die sibirische Bahn nach und nach auf ihrer ganzen
Länge doppelgleisig ausgebaut werden. Die Orenburg-Taschkentbahn und damit
auch die' transkaspische Linie sollen mit der sibirischen Bahn bei Tomsk ver¬
bunden werden. Die nicht unbedeutenden Hilfsquellen Turrestäns und der
Mongolei würden damit für den Osten erschlossen. Da die militärische Lage
Rußlands in Zentralasien durch den Vertrag mit England eine vorläufige
Regelung erfahren hat, so steht einer Heranziehung zentralasiatischer Truppen
nichts im Wege.


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[0558] Rußland im fernen Vsten nach dem Kriege Was hat nun Rußland in Wirklichkeit verloren? Erstens die Liautung- halbinsel mit dem Kwangtuug-Pachtgebiet und Port Arthur, jenes Gebiet, das Rußland den Zugang zum eisfreien Weltmeer gestatten sollte, ihm aber keine Vorteile gebracht hat, sondern nur zur Hauptursache des Krieges geworden ist. Weiter büßte es 660 Werst der mandschurischen Eisenbahn und die Herrschaft über eine der mandschurischen Provinzen, Feng-Tim, ein, indem die russischen Heere nach der Schlacht von Mukden bis an die Grenzen der zweiten mandschurischen Provinz, Kinn, zurückwichen. Für Nußland fiel außerdem die Möglichkeit weg, Korea vom rechten Jaluufer aus zu bedrohen. Andrerseits stand diesen absoluten Verlusten immer noch ein recht bedeutendes Guthaben gegenüber. Der größere Teil der mandschurischen Bahn (1713 Werst) war in russischer Gewalt geblieben, und nach wie vor herrscht der russische Einfluß in den beiden nördlichen mandschu¬ rischen Provinzen, Kirin und Heilung-chiang. Mit andern Worten: Nußland beherrscht noch vier Fünftel des Eisenbahnsystems und etwa sechs Siebentel des mandschurischen Bodens. Wenn auch die nördliche Mandschurei vielfach noch unbebautes Land ist, so findet doch eine stetig zunehmende Einwcmdrnng von Chinesen in die Ebenen des Sungari- und des Nonniflusses statt, und schon die nächsten Jahrzehnte werden die Erschließung dieser fruchtbaren Gebiete sehn. In bezug auf die Ertragfühigkeit an Korn und andern Lebensmitteln sind diese Gebiete unerschöpflich, wie die Tatsache beweist, daß die russische Feldarmee fast ausschließlich aus dem Lande verpflegt wurde. Rußlands militärische Stellung im Osten ist ebenfalls sehr verbessert worden. Durch die Räumung der erwähnten Gebiete ist es vor Überraschungen, wie die, die es anfangs 1904 erlebte, gesichert. Die russische Position in der zentralen Mandschurei ist sehr stark, da es Zeit genug haben wird, dort seine Streitkräfte zu versammeln, wo sie am Ende des Krieges standen. Der Schutz der laugen und gefährlichen Küstenlinie ist nicht mehr nötig, Nußland stützt sich in Zukunft allein auf die transkontinentale Eisenbahnverbindung mit dem europäischen Rußland und die neuen Bahnen, die es zu bauen beabsichtigt, nicht auf eine etwa neu zu erbauende Flotte. Eine Betrachtung dieser neuen russischen Eisenbahnpläne zeigt, daß sich Rußland durchaus nicht als „geschlagen" betrachtet und den Ausgang des Krieges keineswegs als eine endgiltige Lösung seiner Herrschaft im Osten ansieht. Diese Bahnprojelte sind geeignet, die Lage im Osten von Grund auf um¬ zugestalten. Erstens soll die sibirische Bahn nach und nach auf ihrer ganzen Länge doppelgleisig ausgebaut werden. Die Orenburg-Taschkentbahn und damit auch die' transkaspische Linie sollen mit der sibirischen Bahn bei Tomsk ver¬ bunden werden. Die nicht unbedeutenden Hilfsquellen Turrestäns und der Mongolei würden damit für den Osten erschlossen. Da die militärische Lage Rußlands in Zentralasien durch den Vertrag mit England eine vorläufige Regelung erfahren hat, so steht einer Heranziehung zentralasiatischer Truppen nichts im Wege.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/558>, abgerufen am 22.07.2024.