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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Äirche und Staat in Frankreich

Prügeln, kreuzigen oder verkehrt aufhängen ließen (was man heute bekanntlich
Masochismns nennt). Wundersucht und Nervenkrampf verbreiteten sich aufs
neue im Lande, und in der Provence kam es infolgedessen beinahe zu einem
Bürgerkriege. Ein junges Mädchen, Fräulein Codiere, hatte Visionen und
wirkte Wunder. Nachdem sie einen Jansenisten zum Beichtvater angenommen
hatte, erhob sie gegen ihren frühern Beichtvater, den Jesuitenpater Girard,
schreckliche Anklagen. Die Vornehmen hielten es mit dem Jesuiten, die ge¬
meinen Leute mit der Cadiere. Die Parteien wurden an manchen Orten
handgemein, und weil es nicht gelang. Girards Verurteilung durchzusetzen,
wurden die Richter, die für ihn gestimmt hatten, insultiert, die andern im
Triumph durch die Straßen getragen; auf öffentlichen Plätzen wurden als
Jesuiten verkleidete Strohpuppen verbrannt, und in Marseille mußte das be¬
drohte Jesuitenkolleg von der Obrigkeit vor dem wütenden Volke, das es in
Brand stecken wollte, geschützt werden.

Desdevises führt richtig aus, daß, während die meisten Mönche durch
nützliche Tätigkeit vor solchen Nerirrungen bewahrt bleiben, die der Mehrzahl
nach zur "Beschaulichkeit" verurteilten Nonnen ihnen unvermeidlich verfallen
und damit dann auch Mädchen anstecken, die außerhalb des Klosters leben.
..Vom normalen Leben abgesperrt, suchen solche Personen im innern Leben,
in der Meditation, in der Askese, in der Ekstase das, was ihnen fehlt. Mit
diesen ungeheuern Anspannungen des Willens gelangen einzelne geniale Naturen
auf den höchsten geistigen Gipfel des Seelenlebens. Die meisten jedoch ver¬
irren sich in ein Labyrinth von Grübeleien und Träumen, und manche fallen
so tief, daß sie das Wort Pascals rechtfertigen, wer den Engel spielen wolle,
werde leicht zur Bestie." Man dürfe der Kirche die Gerechtigkeit nicht versagen,
daß sie die sogenannten Wunder immer mit äußerstem Mißtrauen betrachtet
und behandelt und in den ..Erleuchteten" gewöhnlich zunächst nur Kranke gesehn
habe. Die spanische Inquisition sei mit Wundertäterinnen und Visionärmnen
in der Regel hart verfahren und habe sich keineswegs durch Leichtgläubigkeit
versündigt. Wenn die kirchlichen Obrigkeiten vermeintliche Wunder anerkannten,
so geschah es meist nur deswegen, weil von der Laienschaft ein solcher Druck
auf sie ausgeübt wurde, daß ihnen die Klugheit nachzugeben gebot. Ähnlich
verhielt es sich mit den neuen bedenklichen Andachten, zum Beispiel dem von
der Margaret" Maria Alacoque eingeführten Herz-Jesu-Kult; diesen hat die
Kurie auf das Drüugen des Königs und der Königin von Polen und der
Maria von Modena. Gemahlin des englischen Königs Jakob des Zweiten,
gestattet und empfohlen. . . , .

Phantastische Jesuitenfeinde sehn in der Gesellschaft Jesu eine im Geheimen
arbeitende Verschwörerbande, die in alle Familien- und Staatsgeheimnisse ein¬
dringe und durch ihre im Laienstande verharrenden, als solche dem Publikum
unbekannten Affiliierten ihre Hand in allen öffentlichen und Privatangelegen¬
heiten habe und namentlich die Erbschleicher" betreibe. Wenn man den Quellen,


Grenzboten I 1908
Äirche und Staat in Frankreich

Prügeln, kreuzigen oder verkehrt aufhängen ließen (was man heute bekanntlich
Masochismns nennt). Wundersucht und Nervenkrampf verbreiteten sich aufs
neue im Lande, und in der Provence kam es infolgedessen beinahe zu einem
Bürgerkriege. Ein junges Mädchen, Fräulein Codiere, hatte Visionen und
wirkte Wunder. Nachdem sie einen Jansenisten zum Beichtvater angenommen
hatte, erhob sie gegen ihren frühern Beichtvater, den Jesuitenpater Girard,
schreckliche Anklagen. Die Vornehmen hielten es mit dem Jesuiten, die ge¬
meinen Leute mit der Cadiere. Die Parteien wurden an manchen Orten
handgemein, und weil es nicht gelang. Girards Verurteilung durchzusetzen,
wurden die Richter, die für ihn gestimmt hatten, insultiert, die andern im
Triumph durch die Straßen getragen; auf öffentlichen Plätzen wurden als
Jesuiten verkleidete Strohpuppen verbrannt, und in Marseille mußte das be¬
drohte Jesuitenkolleg von der Obrigkeit vor dem wütenden Volke, das es in
Brand stecken wollte, geschützt werden.

Desdevises führt richtig aus, daß, während die meisten Mönche durch
nützliche Tätigkeit vor solchen Nerirrungen bewahrt bleiben, die der Mehrzahl
nach zur „Beschaulichkeit" verurteilten Nonnen ihnen unvermeidlich verfallen
und damit dann auch Mädchen anstecken, die außerhalb des Klosters leben.
..Vom normalen Leben abgesperrt, suchen solche Personen im innern Leben,
in der Meditation, in der Askese, in der Ekstase das, was ihnen fehlt. Mit
diesen ungeheuern Anspannungen des Willens gelangen einzelne geniale Naturen
auf den höchsten geistigen Gipfel des Seelenlebens. Die meisten jedoch ver¬
irren sich in ein Labyrinth von Grübeleien und Träumen, und manche fallen
so tief, daß sie das Wort Pascals rechtfertigen, wer den Engel spielen wolle,
werde leicht zur Bestie." Man dürfe der Kirche die Gerechtigkeit nicht versagen,
daß sie die sogenannten Wunder immer mit äußerstem Mißtrauen betrachtet
und behandelt und in den ..Erleuchteten" gewöhnlich zunächst nur Kranke gesehn
habe. Die spanische Inquisition sei mit Wundertäterinnen und Visionärmnen
in der Regel hart verfahren und habe sich keineswegs durch Leichtgläubigkeit
versündigt. Wenn die kirchlichen Obrigkeiten vermeintliche Wunder anerkannten,
so geschah es meist nur deswegen, weil von der Laienschaft ein solcher Druck
auf sie ausgeübt wurde, daß ihnen die Klugheit nachzugeben gebot. Ähnlich
verhielt es sich mit den neuen bedenklichen Andachten, zum Beispiel dem von
der Margaret« Maria Alacoque eingeführten Herz-Jesu-Kult; diesen hat die
Kurie auf das Drüugen des Königs und der Königin von Polen und der
Maria von Modena. Gemahlin des englischen Königs Jakob des Zweiten,
gestattet und empfohlen. . . , .

Phantastische Jesuitenfeinde sehn in der Gesellschaft Jesu eine im Geheimen
arbeitende Verschwörerbande, die in alle Familien- und Staatsgeheimnisse ein¬
dringe und durch ihre im Laienstande verharrenden, als solche dem Publikum
unbekannten Affiliierten ihre Hand in allen öffentlichen und Privatangelegen¬
heiten habe und namentlich die Erbschleicher« betreibe. Wenn man den Quellen,


Grenzboten I 1908
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[0525] Äirche und Staat in Frankreich Prügeln, kreuzigen oder verkehrt aufhängen ließen (was man heute bekanntlich Masochismns nennt). Wundersucht und Nervenkrampf verbreiteten sich aufs neue im Lande, und in der Provence kam es infolgedessen beinahe zu einem Bürgerkriege. Ein junges Mädchen, Fräulein Codiere, hatte Visionen und wirkte Wunder. Nachdem sie einen Jansenisten zum Beichtvater angenommen hatte, erhob sie gegen ihren frühern Beichtvater, den Jesuitenpater Girard, schreckliche Anklagen. Die Vornehmen hielten es mit dem Jesuiten, die ge¬ meinen Leute mit der Cadiere. Die Parteien wurden an manchen Orten handgemein, und weil es nicht gelang. Girards Verurteilung durchzusetzen, wurden die Richter, die für ihn gestimmt hatten, insultiert, die andern im Triumph durch die Straßen getragen; auf öffentlichen Plätzen wurden als Jesuiten verkleidete Strohpuppen verbrannt, und in Marseille mußte das be¬ drohte Jesuitenkolleg von der Obrigkeit vor dem wütenden Volke, das es in Brand stecken wollte, geschützt werden. Desdevises führt richtig aus, daß, während die meisten Mönche durch nützliche Tätigkeit vor solchen Nerirrungen bewahrt bleiben, die der Mehrzahl nach zur „Beschaulichkeit" verurteilten Nonnen ihnen unvermeidlich verfallen und damit dann auch Mädchen anstecken, die außerhalb des Klosters leben. ..Vom normalen Leben abgesperrt, suchen solche Personen im innern Leben, in der Meditation, in der Askese, in der Ekstase das, was ihnen fehlt. Mit diesen ungeheuern Anspannungen des Willens gelangen einzelne geniale Naturen auf den höchsten geistigen Gipfel des Seelenlebens. Die meisten jedoch ver¬ irren sich in ein Labyrinth von Grübeleien und Träumen, und manche fallen so tief, daß sie das Wort Pascals rechtfertigen, wer den Engel spielen wolle, werde leicht zur Bestie." Man dürfe der Kirche die Gerechtigkeit nicht versagen, daß sie die sogenannten Wunder immer mit äußerstem Mißtrauen betrachtet und behandelt und in den ..Erleuchteten" gewöhnlich zunächst nur Kranke gesehn habe. Die spanische Inquisition sei mit Wundertäterinnen und Visionärmnen in der Regel hart verfahren und habe sich keineswegs durch Leichtgläubigkeit versündigt. Wenn die kirchlichen Obrigkeiten vermeintliche Wunder anerkannten, so geschah es meist nur deswegen, weil von der Laienschaft ein solcher Druck auf sie ausgeübt wurde, daß ihnen die Klugheit nachzugeben gebot. Ähnlich verhielt es sich mit den neuen bedenklichen Andachten, zum Beispiel dem von der Margaret« Maria Alacoque eingeführten Herz-Jesu-Kult; diesen hat die Kurie auf das Drüugen des Königs und der Königin von Polen und der Maria von Modena. Gemahlin des englischen Königs Jakob des Zweiten, gestattet und empfohlen. . . , . Phantastische Jesuitenfeinde sehn in der Gesellschaft Jesu eine im Geheimen arbeitende Verschwörerbande, die in alle Familien- und Staatsgeheimnisse ein¬ dringe und durch ihre im Laienstande verharrenden, als solche dem Publikum unbekannten Affiliierten ihre Hand in allen öffentlichen und Privatangelegen¬ heiten habe und namentlich die Erbschleicher« betreibe. Wenn man den Quellen, Grenzboten I 1908

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/525>, abgerufen am 22.07.2024.