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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Als vor einigen Jahren das großartige Kanalprojekt der preußischen Regierung,
das den Osten durch eine Wasserstraße mit dem Westen verbinden sollte, dem
Preußischen Landtag zur Genehmigung vorgelegt wurde, brachten die mächtige kon¬
servative Partei und die übrigen Vertreter agrarischer Interessen die Vorlage
zu Fall, weil, wie man glaubte, eine solche neue Verbindung die Einfuhr agra¬
rischer Produkte begünstigen und die Landwirtschaft des Ostens schädigen würde.
Die gleichen Widerstände würden sich nur noch in weit höheren Grade gegen
einen Wegfall der deutsch-niederländischen Grenzen geltend machen.

Man könnte jedoch meinen, daß zwar keine wirtschaftlichen, wohl aber po¬
litische Annexionsmotive bestehn könnten. Glauben kann man ja mancherlei,
was man nicht beweisen kann. Wie die Verhältnisse in Europa jetzt liegen,
kommen die Niederlande, die einst der gewöhnliche Kriegsschauplatz waren, in
strategisch-geographischer Beziehung nicht mehr in Betracht. In den Zeiten, wo
England noch kontinentale Kriege führte und seine Heere an der Seite der
Deutschen gegen das raublustige Frankreich Ludwigs des Vierzehnten und Napo¬
leons des Ersten fochten, waren die Niederlande Kriegsschauplatz. Aber diese
Zeiten sind vorbei. Selbst wenn wider alle Voraussicht der Friede auf dem
europäischen Kontinent einmal gestört werden sollte, so liegen die Niederlande
doch abseits von allen wahrscheinlichen Kriegsschauplätzen. strategische Rücksichten
also können es nicht sein. Oder bilden etwa die freien Niederlande eine poli¬
tische Gefahr für das Deutsche Reich, eine Gefahr, der Deutschland durch
Annexion zuvorkommen müßte? Es gibt weder in Deutschland noch in den
Niederlanden ein Kind, das glaubt, es würde jemals eine politische Kombination
möglich werden, in der die Niederlande in einem europäischen Konflikt etwa an
der Seite Englands oder Frankreichs gegen das Deutsche Reich kämpfen wurden.
Nur der, der die Verhältnisse der beiden Völker, ihre Nassen- und Kultur¬
verwandtschaft, ihre natürliche Interessengemeinschaft nicht kennt, kann in einem
freien Niederlande die eventuelle Möglichkeit eines politischen Nächtens für das
Deutsche Reich fürchten. Die andern wissen, daß Deutschland der Neutralität
der Niederlande sicher ist und mehr als die Neutralität nicht braucht.

Im übrigen verkeimen ganz allgemein die Leute, die, trotzdem die Hand¬
lungen der deutschen Politik immer wieder das Gegenteil beweisen, von deutschen
Annexionsgelüsten, sei es nun gegen Holland oder Dänemark oder gegen die
deutschen Provinzen Österreich-Ungarns sprechen, gänzlich Sinn und Art der
Verfassung des Deutschen Reichs. Deutschland ist keineswegs ein Vundesstaat,
dem sich beliebig viele andre Staaten ohne weiteres angliedern lassen. Die
Einzelstaaten, die diesen Gesamtstaat bilden, sind von sehr verschiedner Größe
und Bedeutung und sind demnach in dem Ausschuß der verbündeten Regierungen,
dem Bundesrat, in verschiedner Stimmenzahl vertreten. Preußen als weitaus
der größte der Bundesstaaten hat die meisten Stimmen und behält so im Bundes¬
rate die historische Führung, die es in der deutschen Geschichte in der Gründung
des Reichs gehabt hat. Auf dieser preußischen Führerrolle ist das Reich auf-


Grenzboten I 1908 "2

Als vor einigen Jahren das großartige Kanalprojekt der preußischen Regierung,
das den Osten durch eine Wasserstraße mit dem Westen verbinden sollte, dem
Preußischen Landtag zur Genehmigung vorgelegt wurde, brachten die mächtige kon¬
servative Partei und die übrigen Vertreter agrarischer Interessen die Vorlage
zu Fall, weil, wie man glaubte, eine solche neue Verbindung die Einfuhr agra¬
rischer Produkte begünstigen und die Landwirtschaft des Ostens schädigen würde.
Die gleichen Widerstände würden sich nur noch in weit höheren Grade gegen
einen Wegfall der deutsch-niederländischen Grenzen geltend machen.

Man könnte jedoch meinen, daß zwar keine wirtschaftlichen, wohl aber po¬
litische Annexionsmotive bestehn könnten. Glauben kann man ja mancherlei,
was man nicht beweisen kann. Wie die Verhältnisse in Europa jetzt liegen,
kommen die Niederlande, die einst der gewöhnliche Kriegsschauplatz waren, in
strategisch-geographischer Beziehung nicht mehr in Betracht. In den Zeiten, wo
England noch kontinentale Kriege führte und seine Heere an der Seite der
Deutschen gegen das raublustige Frankreich Ludwigs des Vierzehnten und Napo¬
leons des Ersten fochten, waren die Niederlande Kriegsschauplatz. Aber diese
Zeiten sind vorbei. Selbst wenn wider alle Voraussicht der Friede auf dem
europäischen Kontinent einmal gestört werden sollte, so liegen die Niederlande
doch abseits von allen wahrscheinlichen Kriegsschauplätzen. strategische Rücksichten
also können es nicht sein. Oder bilden etwa die freien Niederlande eine poli¬
tische Gefahr für das Deutsche Reich, eine Gefahr, der Deutschland durch
Annexion zuvorkommen müßte? Es gibt weder in Deutschland noch in den
Niederlanden ein Kind, das glaubt, es würde jemals eine politische Kombination
möglich werden, in der die Niederlande in einem europäischen Konflikt etwa an
der Seite Englands oder Frankreichs gegen das Deutsche Reich kämpfen wurden.
Nur der, der die Verhältnisse der beiden Völker, ihre Nassen- und Kultur¬
verwandtschaft, ihre natürliche Interessengemeinschaft nicht kennt, kann in einem
freien Niederlande die eventuelle Möglichkeit eines politischen Nächtens für das
Deutsche Reich fürchten. Die andern wissen, daß Deutschland der Neutralität
der Niederlande sicher ist und mehr als die Neutralität nicht braucht.

Im übrigen verkeimen ganz allgemein die Leute, die, trotzdem die Hand¬
lungen der deutschen Politik immer wieder das Gegenteil beweisen, von deutschen
Annexionsgelüsten, sei es nun gegen Holland oder Dänemark oder gegen die
deutschen Provinzen Österreich-Ungarns sprechen, gänzlich Sinn und Art der
Verfassung des Deutschen Reichs. Deutschland ist keineswegs ein Vundesstaat,
dem sich beliebig viele andre Staaten ohne weiteres angliedern lassen. Die
Einzelstaaten, die diesen Gesamtstaat bilden, sind von sehr verschiedner Größe
und Bedeutung und sind demnach in dem Ausschuß der verbündeten Regierungen,
dem Bundesrat, in verschiedner Stimmenzahl vertreten. Preußen als weitaus
der größte der Bundesstaaten hat die meisten Stimmen und behält so im Bundes¬
rate die historische Führung, die es in der deutschen Geschichte in der Gründung
des Reichs gehabt hat. Auf dieser preußischen Führerrolle ist das Reich auf-


Grenzboten I 1908 «2
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[0485] Als vor einigen Jahren das großartige Kanalprojekt der preußischen Regierung, das den Osten durch eine Wasserstraße mit dem Westen verbinden sollte, dem Preußischen Landtag zur Genehmigung vorgelegt wurde, brachten die mächtige kon¬ servative Partei und die übrigen Vertreter agrarischer Interessen die Vorlage zu Fall, weil, wie man glaubte, eine solche neue Verbindung die Einfuhr agra¬ rischer Produkte begünstigen und die Landwirtschaft des Ostens schädigen würde. Die gleichen Widerstände würden sich nur noch in weit höheren Grade gegen einen Wegfall der deutsch-niederländischen Grenzen geltend machen. Man könnte jedoch meinen, daß zwar keine wirtschaftlichen, wohl aber po¬ litische Annexionsmotive bestehn könnten. Glauben kann man ja mancherlei, was man nicht beweisen kann. Wie die Verhältnisse in Europa jetzt liegen, kommen die Niederlande, die einst der gewöhnliche Kriegsschauplatz waren, in strategisch-geographischer Beziehung nicht mehr in Betracht. In den Zeiten, wo England noch kontinentale Kriege führte und seine Heere an der Seite der Deutschen gegen das raublustige Frankreich Ludwigs des Vierzehnten und Napo¬ leons des Ersten fochten, waren die Niederlande Kriegsschauplatz. Aber diese Zeiten sind vorbei. Selbst wenn wider alle Voraussicht der Friede auf dem europäischen Kontinent einmal gestört werden sollte, so liegen die Niederlande doch abseits von allen wahrscheinlichen Kriegsschauplätzen. strategische Rücksichten also können es nicht sein. Oder bilden etwa die freien Niederlande eine poli¬ tische Gefahr für das Deutsche Reich, eine Gefahr, der Deutschland durch Annexion zuvorkommen müßte? Es gibt weder in Deutschland noch in den Niederlanden ein Kind, das glaubt, es würde jemals eine politische Kombination möglich werden, in der die Niederlande in einem europäischen Konflikt etwa an der Seite Englands oder Frankreichs gegen das Deutsche Reich kämpfen wurden. Nur der, der die Verhältnisse der beiden Völker, ihre Nassen- und Kultur¬ verwandtschaft, ihre natürliche Interessengemeinschaft nicht kennt, kann in einem freien Niederlande die eventuelle Möglichkeit eines politischen Nächtens für das Deutsche Reich fürchten. Die andern wissen, daß Deutschland der Neutralität der Niederlande sicher ist und mehr als die Neutralität nicht braucht. Im übrigen verkeimen ganz allgemein die Leute, die, trotzdem die Hand¬ lungen der deutschen Politik immer wieder das Gegenteil beweisen, von deutschen Annexionsgelüsten, sei es nun gegen Holland oder Dänemark oder gegen die deutschen Provinzen Österreich-Ungarns sprechen, gänzlich Sinn und Art der Verfassung des Deutschen Reichs. Deutschland ist keineswegs ein Vundesstaat, dem sich beliebig viele andre Staaten ohne weiteres angliedern lassen. Die Einzelstaaten, die diesen Gesamtstaat bilden, sind von sehr verschiedner Größe und Bedeutung und sind demnach in dem Ausschuß der verbündeten Regierungen, dem Bundesrat, in verschiedner Stimmenzahl vertreten. Preußen als weitaus der größte der Bundesstaaten hat die meisten Stimmen und behält so im Bundes¬ rate die historische Führung, die es in der deutschen Geschichte in der Gründung des Reichs gehabt hat. Auf dieser preußischen Führerrolle ist das Reich auf- Grenzboten I 1908 «2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/485>, abgerufen am 22.07.2024.