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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die Wahrheit über die deutsche Expansion

Gegenden nicht freier sein, als sie jetzt ist. Und diese Freiheit ist durch die
Nheinschiffahrtsakte zwischen den interessierten Staaten durch Vertrag festgelegt.
Auch der deutsche Seehandel leidet durch den Transport der Produkte der
Rheinlande auf dem Rhein keinen Schaden, da diese deutschen Waren in den
Häfen der Rheinmündungen von deutscheu Schiffen nach der Übersee verfrachtet
werden.

Demnach beruhen die Gründe, die Deutschland dazu zwingen sollen, die
beiden Nachbarstaaten zu annektieren, auf falschen Voraussetzungen. Wenn
man aber noch näher zusieht und unabhängig von den speziellen Behauptungen,
die ich im Eingang angeführt habe, die Lage der drei Staaten im allgemeinen
betrachtet, so entdeckt mau, daß solche Gründe, aus denen heraus Deutschland
eine Annexion oder auch nur einen wirtschaftlichen Zusammenschluß erstreben
müßte, überhaupt nicht existieren, Wohl aber eine ganze Anzahl andrer, die
einer Annexion oder einem wirtschaftlichen Zusammenschluß entgegenstehn. Was
zunächst die Rohmaterialien betrifft, deren die deutsche Industrie bedarf, so
produziert Holland überhaupt keine solchen, Belgien nur Kohle und Eisen, also
gerade die Rohmaterialien, die in Deutschland im Überfluß, und ohne ganz
ausgebeutet werden zu können, vorhanden sind. In Belgien hat sich zudem
noch, gestützt auf den Kohlen- und Eisenbergbau, eine blühende Eisenindustrie
entwickelt, die durch Zölle geschützt für das belgische Inland und haupt¬
sächlich für überseeischen Export arbeitet. Bei einem Wegfall der deutsch¬
belgischen Grenzen würden die Produkte dieser Industrie auf den deutschen Jn-
tandsmarkt drücken, der jetzt von der deutschen Eisenindustrie beherrscht wird;
und umgekehrt würden die deutschen Konkurrenzerzeugnisse auf den belgischen
Jnlandsmarkt drücken, sodaß also der deutschen wie der belgischen Industrie
vielleicht eine Erhöhung der Zölle, ganz gewiß aber nicht ihr Wegfall erwünscht
wäre. Denn ganz wie mit der Eisenindustrie steht es mit andern konkurrierenden
Industrien der beiden Länder. So denkt kein Mensch weder in Deutschland
noch in Belgien an eine Zollunion der beiden Länder. Und das Gespenst einer
Annexion, mit dem eine Gruppe gewisser ausländischer politischer Schriftsteller
gern den Belgiern Angst vor Deutschland einjagen möchte, schreckt in Belgien
auch die vernünftigen Kinder nicht.

Mit Holland steht es nicht viel anders. Holland produziert ebenfalls keine
Rohmaterialien, die die deutsche Industrie gebrauchen könnte. Es ist ein frei¬
händlerisches Land, dessen Zolltarif durch finanzielle, nicht durch Protektionistische
Rücksichten bedingt ist; soweit die deutsche Produktion von dem holländischen Absatz¬
gebiet Nutzen ziehen kann, bedarf sie keiner Zollunion. Im Gegenteil hat die deutsche
Landwirtschaft die deutsch-niederländische Zollgrenze nötig. Holland ist ein agra¬
risches Land, das Getreide ein- und Vieh ausführt. Eine freie Einfuhr von nieder¬
ländischen Vieh, die jetzt durch die deutschen Seuchenschutzmaßregelu verhindert wird,
würde das ostdeutsche Vieh von den Märkten des dichtbevölkerten Westens ver¬
drängen und dem landwirtschaftlichen Osten Deutschlands schweren Schaden zufügen.


Die Wahrheit über die deutsche Expansion

Gegenden nicht freier sein, als sie jetzt ist. Und diese Freiheit ist durch die
Nheinschiffahrtsakte zwischen den interessierten Staaten durch Vertrag festgelegt.
Auch der deutsche Seehandel leidet durch den Transport der Produkte der
Rheinlande auf dem Rhein keinen Schaden, da diese deutschen Waren in den
Häfen der Rheinmündungen von deutscheu Schiffen nach der Übersee verfrachtet
werden.

Demnach beruhen die Gründe, die Deutschland dazu zwingen sollen, die
beiden Nachbarstaaten zu annektieren, auf falschen Voraussetzungen. Wenn
man aber noch näher zusieht und unabhängig von den speziellen Behauptungen,
die ich im Eingang angeführt habe, die Lage der drei Staaten im allgemeinen
betrachtet, so entdeckt mau, daß solche Gründe, aus denen heraus Deutschland
eine Annexion oder auch nur einen wirtschaftlichen Zusammenschluß erstreben
müßte, überhaupt nicht existieren, Wohl aber eine ganze Anzahl andrer, die
einer Annexion oder einem wirtschaftlichen Zusammenschluß entgegenstehn. Was
zunächst die Rohmaterialien betrifft, deren die deutsche Industrie bedarf, so
produziert Holland überhaupt keine solchen, Belgien nur Kohle und Eisen, also
gerade die Rohmaterialien, die in Deutschland im Überfluß, und ohne ganz
ausgebeutet werden zu können, vorhanden sind. In Belgien hat sich zudem
noch, gestützt auf den Kohlen- und Eisenbergbau, eine blühende Eisenindustrie
entwickelt, die durch Zölle geschützt für das belgische Inland und haupt¬
sächlich für überseeischen Export arbeitet. Bei einem Wegfall der deutsch¬
belgischen Grenzen würden die Produkte dieser Industrie auf den deutschen Jn-
tandsmarkt drücken, der jetzt von der deutschen Eisenindustrie beherrscht wird;
und umgekehrt würden die deutschen Konkurrenzerzeugnisse auf den belgischen
Jnlandsmarkt drücken, sodaß also der deutschen wie der belgischen Industrie
vielleicht eine Erhöhung der Zölle, ganz gewiß aber nicht ihr Wegfall erwünscht
wäre. Denn ganz wie mit der Eisenindustrie steht es mit andern konkurrierenden
Industrien der beiden Länder. So denkt kein Mensch weder in Deutschland
noch in Belgien an eine Zollunion der beiden Länder. Und das Gespenst einer
Annexion, mit dem eine Gruppe gewisser ausländischer politischer Schriftsteller
gern den Belgiern Angst vor Deutschland einjagen möchte, schreckt in Belgien
auch die vernünftigen Kinder nicht.

Mit Holland steht es nicht viel anders. Holland produziert ebenfalls keine
Rohmaterialien, die die deutsche Industrie gebrauchen könnte. Es ist ein frei¬
händlerisches Land, dessen Zolltarif durch finanzielle, nicht durch Protektionistische
Rücksichten bedingt ist; soweit die deutsche Produktion von dem holländischen Absatz¬
gebiet Nutzen ziehen kann, bedarf sie keiner Zollunion. Im Gegenteil hat die deutsche
Landwirtschaft die deutsch-niederländische Zollgrenze nötig. Holland ist ein agra¬
risches Land, das Getreide ein- und Vieh ausführt. Eine freie Einfuhr von nieder¬
ländischen Vieh, die jetzt durch die deutschen Seuchenschutzmaßregelu verhindert wird,
würde das ostdeutsche Vieh von den Märkten des dichtbevölkerten Westens ver¬
drängen und dem landwirtschaftlichen Osten Deutschlands schweren Schaden zufügen.


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[0484] Die Wahrheit über die deutsche Expansion Gegenden nicht freier sein, als sie jetzt ist. Und diese Freiheit ist durch die Nheinschiffahrtsakte zwischen den interessierten Staaten durch Vertrag festgelegt. Auch der deutsche Seehandel leidet durch den Transport der Produkte der Rheinlande auf dem Rhein keinen Schaden, da diese deutschen Waren in den Häfen der Rheinmündungen von deutscheu Schiffen nach der Übersee verfrachtet werden. Demnach beruhen die Gründe, die Deutschland dazu zwingen sollen, die beiden Nachbarstaaten zu annektieren, auf falschen Voraussetzungen. Wenn man aber noch näher zusieht und unabhängig von den speziellen Behauptungen, die ich im Eingang angeführt habe, die Lage der drei Staaten im allgemeinen betrachtet, so entdeckt mau, daß solche Gründe, aus denen heraus Deutschland eine Annexion oder auch nur einen wirtschaftlichen Zusammenschluß erstreben müßte, überhaupt nicht existieren, Wohl aber eine ganze Anzahl andrer, die einer Annexion oder einem wirtschaftlichen Zusammenschluß entgegenstehn. Was zunächst die Rohmaterialien betrifft, deren die deutsche Industrie bedarf, so produziert Holland überhaupt keine solchen, Belgien nur Kohle und Eisen, also gerade die Rohmaterialien, die in Deutschland im Überfluß, und ohne ganz ausgebeutet werden zu können, vorhanden sind. In Belgien hat sich zudem noch, gestützt auf den Kohlen- und Eisenbergbau, eine blühende Eisenindustrie entwickelt, die durch Zölle geschützt für das belgische Inland und haupt¬ sächlich für überseeischen Export arbeitet. Bei einem Wegfall der deutsch¬ belgischen Grenzen würden die Produkte dieser Industrie auf den deutschen Jn- tandsmarkt drücken, der jetzt von der deutschen Eisenindustrie beherrscht wird; und umgekehrt würden die deutschen Konkurrenzerzeugnisse auf den belgischen Jnlandsmarkt drücken, sodaß also der deutschen wie der belgischen Industrie vielleicht eine Erhöhung der Zölle, ganz gewiß aber nicht ihr Wegfall erwünscht wäre. Denn ganz wie mit der Eisenindustrie steht es mit andern konkurrierenden Industrien der beiden Länder. So denkt kein Mensch weder in Deutschland noch in Belgien an eine Zollunion der beiden Länder. Und das Gespenst einer Annexion, mit dem eine Gruppe gewisser ausländischer politischer Schriftsteller gern den Belgiern Angst vor Deutschland einjagen möchte, schreckt in Belgien auch die vernünftigen Kinder nicht. Mit Holland steht es nicht viel anders. Holland produziert ebenfalls keine Rohmaterialien, die die deutsche Industrie gebrauchen könnte. Es ist ein frei¬ händlerisches Land, dessen Zolltarif durch finanzielle, nicht durch Protektionistische Rücksichten bedingt ist; soweit die deutsche Produktion von dem holländischen Absatz¬ gebiet Nutzen ziehen kann, bedarf sie keiner Zollunion. Im Gegenteil hat die deutsche Landwirtschaft die deutsch-niederländische Zollgrenze nötig. Holland ist ein agra¬ risches Land, das Getreide ein- und Vieh ausführt. Eine freie Einfuhr von nieder¬ ländischen Vieh, die jetzt durch die deutschen Seuchenschutzmaßregelu verhindert wird, würde das ostdeutsche Vieh von den Märkten des dichtbevölkerten Westens ver¬ drängen und dem landwirtschaftlichen Osten Deutschlands schweren Schaden zufügen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/484>, abgerufen am 22.07.2024.