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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Gustav Freytags Soll und Habe"

Abwärts sprechen. Freytag ist, der Grundlage seines Wesens gemäß, bei dem
ältesten der genannten Geisteshelden stehn geblieben. Nicht die mächtig zu¬
packende Hand, nicht die selige Ruhe des Auges oder der hinreißende Seelen¬
schwung, sondern das treue Herzklopfen des mutigen Mönchleins haben es ihm
angetan, und es ist vielleicht etwas von Luthers bäuerlicher Reaktion gegen
den Geist der Renaissance in Freytags gelegentlich ablehnender Haltung gegen
Goethe zu fühlen. Und doch lernen wir das Große Goethes wie Bismarcks
durch die Beschäftigung mit Freytags Werken noch inniger schätzen und ent¬
decken vielleicht neue Gefühlswege, um den Wert dieser deutschen Heroen tiefer
zu fassen, die Quellen ihrer Kraft im allgemein Menschlichen deutlicher wahr¬
zunehmen. Bei Goethe wird die Bedeutung alles Sammelns -- worin er
Darwin und Fechner verwandt ist -- durch Freytags lichte Würdigung, die
aus der Richtüngsgleichheit der Bestrebungen hervorgeht, verständlicher als
zuvor. Bismarcks mächtige Gestalt dagegen erscheint dem Leser der alten
Grenzbotenklagen fortwährend in der Ferne sichtbar als der Vollstrecker vater¬
ländischer Wünsche, der der rauhen Wirklichkeit ersehntes Traumland abgewinnt
in täglichem Kampfe mit der entgegenwogenden ewig chaotischen Unvernunft
der Elemente, die dem Willen noch nicht unterworfen sind." Der Historiker
hätte es sich füglich nicht entgehn lassen, den gemeinsamen Ursprung Luthers
und Freytags aus dem einfachen Volke zur Stützung des Vergleichs mit heran¬
zuziehen. Trügen doch auch die Züge beider Männer unverkennbar das Ge¬
präge solcher Herkunft, und ich erinnere mich, wie Eduard Simson, als ihn
Gustav Freytag in den neunziger Jahren einmal in Wiesbaden empfangen
hatte, erzählte: Er sah in Mütze und Joppe genau aus wie ein alter
tüchtiger deutscher Bauer. Für das Verhältnis zu Goethe aber ist am meisten
bezeichnend der Dank Freytags an Salomon Hirzel für Hirzels bekanntes
Buch "Der junge Goethe": "Nie habe ich so lebhafte Befriedigung darüber
empfunden, daß ich kein Goethe bin, als bei der Durchsicht dieser ausgezeichneten
drei Bände. Denn ich kann und will dafür sorgen, daß etwaigen spätern
Lesern nicht empfindlich werde, wie nahe das Richtige, das ich einmal getroffen,
lieben Abgeschmacktem und Schwachen lag. Das Werk wird, wie ich hoffe,
viele Freunde und warme Würdigung finden, ob es dem größten deutschen Dichter
die Freunde vermehren und erwärmen wird, darüber bin ich unsicher."

Die nach Gerechtigkeit strebende Vertiefung des Philosophen hat es Hans
Lindau leichter gemacht, bei dem Verhalten Freytags und seiner Gesinnungs¬
genossen zu Bismarck in der Konfliktszeit mit wenigen durchaus zutreffenden
Sätzen den Zusammenhang jener grellen Widersprüche mit der innern Natur
der Ereignisse und der Menschen aufzudecken. Wir dürfen bei der Beurteilung
jener Zeit nicht vergessen, daß wir nach dem Kriege gebornen nicht nur die
Erben einer uns ohne unser Zutun zugewachsnen Entwicklung, sondern auch
die einer, wie wir hoffen, ewig giltigen Anschauung von Bismarcks Gestalt
und Größe sind. Warum jene Männer Freytagscher Gesinnung, unter ihnen


Gustav Freytags Soll und Habe»

Abwärts sprechen. Freytag ist, der Grundlage seines Wesens gemäß, bei dem
ältesten der genannten Geisteshelden stehn geblieben. Nicht die mächtig zu¬
packende Hand, nicht die selige Ruhe des Auges oder der hinreißende Seelen¬
schwung, sondern das treue Herzklopfen des mutigen Mönchleins haben es ihm
angetan, und es ist vielleicht etwas von Luthers bäuerlicher Reaktion gegen
den Geist der Renaissance in Freytags gelegentlich ablehnender Haltung gegen
Goethe zu fühlen. Und doch lernen wir das Große Goethes wie Bismarcks
durch die Beschäftigung mit Freytags Werken noch inniger schätzen und ent¬
decken vielleicht neue Gefühlswege, um den Wert dieser deutschen Heroen tiefer
zu fassen, die Quellen ihrer Kraft im allgemein Menschlichen deutlicher wahr¬
zunehmen. Bei Goethe wird die Bedeutung alles Sammelns — worin er
Darwin und Fechner verwandt ist — durch Freytags lichte Würdigung, die
aus der Richtüngsgleichheit der Bestrebungen hervorgeht, verständlicher als
zuvor. Bismarcks mächtige Gestalt dagegen erscheint dem Leser der alten
Grenzbotenklagen fortwährend in der Ferne sichtbar als der Vollstrecker vater¬
ländischer Wünsche, der der rauhen Wirklichkeit ersehntes Traumland abgewinnt
in täglichem Kampfe mit der entgegenwogenden ewig chaotischen Unvernunft
der Elemente, die dem Willen noch nicht unterworfen sind." Der Historiker
hätte es sich füglich nicht entgehn lassen, den gemeinsamen Ursprung Luthers
und Freytags aus dem einfachen Volke zur Stützung des Vergleichs mit heran¬
zuziehen. Trügen doch auch die Züge beider Männer unverkennbar das Ge¬
präge solcher Herkunft, und ich erinnere mich, wie Eduard Simson, als ihn
Gustav Freytag in den neunziger Jahren einmal in Wiesbaden empfangen
hatte, erzählte: Er sah in Mütze und Joppe genau aus wie ein alter
tüchtiger deutscher Bauer. Für das Verhältnis zu Goethe aber ist am meisten
bezeichnend der Dank Freytags an Salomon Hirzel für Hirzels bekanntes
Buch „Der junge Goethe": „Nie habe ich so lebhafte Befriedigung darüber
empfunden, daß ich kein Goethe bin, als bei der Durchsicht dieser ausgezeichneten
drei Bände. Denn ich kann und will dafür sorgen, daß etwaigen spätern
Lesern nicht empfindlich werde, wie nahe das Richtige, das ich einmal getroffen,
lieben Abgeschmacktem und Schwachen lag. Das Werk wird, wie ich hoffe,
viele Freunde und warme Würdigung finden, ob es dem größten deutschen Dichter
die Freunde vermehren und erwärmen wird, darüber bin ich unsicher."

Die nach Gerechtigkeit strebende Vertiefung des Philosophen hat es Hans
Lindau leichter gemacht, bei dem Verhalten Freytags und seiner Gesinnungs¬
genossen zu Bismarck in der Konfliktszeit mit wenigen durchaus zutreffenden
Sätzen den Zusammenhang jener grellen Widersprüche mit der innern Natur
der Ereignisse und der Menschen aufzudecken. Wir dürfen bei der Beurteilung
jener Zeit nicht vergessen, daß wir nach dem Kriege gebornen nicht nur die
Erben einer uns ohne unser Zutun zugewachsnen Entwicklung, sondern auch
die einer, wie wir hoffen, ewig giltigen Anschauung von Bismarcks Gestalt
und Größe sind. Warum jene Männer Freytagscher Gesinnung, unter ihnen


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[0479] Gustav Freytags Soll und Habe» Abwärts sprechen. Freytag ist, der Grundlage seines Wesens gemäß, bei dem ältesten der genannten Geisteshelden stehn geblieben. Nicht die mächtig zu¬ packende Hand, nicht die selige Ruhe des Auges oder der hinreißende Seelen¬ schwung, sondern das treue Herzklopfen des mutigen Mönchleins haben es ihm angetan, und es ist vielleicht etwas von Luthers bäuerlicher Reaktion gegen den Geist der Renaissance in Freytags gelegentlich ablehnender Haltung gegen Goethe zu fühlen. Und doch lernen wir das Große Goethes wie Bismarcks durch die Beschäftigung mit Freytags Werken noch inniger schätzen und ent¬ decken vielleicht neue Gefühlswege, um den Wert dieser deutschen Heroen tiefer zu fassen, die Quellen ihrer Kraft im allgemein Menschlichen deutlicher wahr¬ zunehmen. Bei Goethe wird die Bedeutung alles Sammelns — worin er Darwin und Fechner verwandt ist — durch Freytags lichte Würdigung, die aus der Richtüngsgleichheit der Bestrebungen hervorgeht, verständlicher als zuvor. Bismarcks mächtige Gestalt dagegen erscheint dem Leser der alten Grenzbotenklagen fortwährend in der Ferne sichtbar als der Vollstrecker vater¬ ländischer Wünsche, der der rauhen Wirklichkeit ersehntes Traumland abgewinnt in täglichem Kampfe mit der entgegenwogenden ewig chaotischen Unvernunft der Elemente, die dem Willen noch nicht unterworfen sind." Der Historiker hätte es sich füglich nicht entgehn lassen, den gemeinsamen Ursprung Luthers und Freytags aus dem einfachen Volke zur Stützung des Vergleichs mit heran¬ zuziehen. Trügen doch auch die Züge beider Männer unverkennbar das Ge¬ präge solcher Herkunft, und ich erinnere mich, wie Eduard Simson, als ihn Gustav Freytag in den neunziger Jahren einmal in Wiesbaden empfangen hatte, erzählte: Er sah in Mütze und Joppe genau aus wie ein alter tüchtiger deutscher Bauer. Für das Verhältnis zu Goethe aber ist am meisten bezeichnend der Dank Freytags an Salomon Hirzel für Hirzels bekanntes Buch „Der junge Goethe": „Nie habe ich so lebhafte Befriedigung darüber empfunden, daß ich kein Goethe bin, als bei der Durchsicht dieser ausgezeichneten drei Bände. Denn ich kann und will dafür sorgen, daß etwaigen spätern Lesern nicht empfindlich werde, wie nahe das Richtige, das ich einmal getroffen, lieben Abgeschmacktem und Schwachen lag. Das Werk wird, wie ich hoffe, viele Freunde und warme Würdigung finden, ob es dem größten deutschen Dichter die Freunde vermehren und erwärmen wird, darüber bin ich unsicher." Die nach Gerechtigkeit strebende Vertiefung des Philosophen hat es Hans Lindau leichter gemacht, bei dem Verhalten Freytags und seiner Gesinnungs¬ genossen zu Bismarck in der Konfliktszeit mit wenigen durchaus zutreffenden Sätzen den Zusammenhang jener grellen Widersprüche mit der innern Natur der Ereignisse und der Menschen aufzudecken. Wir dürfen bei der Beurteilung jener Zeit nicht vergessen, daß wir nach dem Kriege gebornen nicht nur die Erben einer uns ohne unser Zutun zugewachsnen Entwicklung, sondern auch die einer, wie wir hoffen, ewig giltigen Anschauung von Bismarcks Gestalt und Größe sind. Warum jene Männer Freytagscher Gesinnung, unter ihnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/479>, abgerufen am 22.07.2024.