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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Gustav Freytags Soll und Haben

Lindau hat ein umfassendes Material zur Verfügung gehabt, aber nicht alles
benutzen dürfen, was er fand. Rücksichten auf Lebende hinderten ihn, Freytags
Familienleben eingehender zu schildern. Das ist ein Verlust für ihn und uns,
weil die vielen feinen und liebenswerten Züge, die des Dichters Bild dann
noch gewonnen hätte, dem Ganzen eine erfreuliche Abrundung gewesen wären.
Konnte doch Lindau ohnehin bei dem Vorhandensein jener schon erwähnten,
im Aufbau und in ihrer Vollendung so klaren Selbstbiographie auf das äußere
Leben nicht denselben Wert legen, ihm nicht dasselbe Recht einräumen wie der
Genesis von Freytags dichterischen und schriftstellerischen Schöpfungen.

Immerhin bringt die Biographie eine Reihe von neuem Material über
Freytags Vorfahren und seine Jugend. Aus den Erinnerungen der Familie
ergibt sich dabei übrigens, daß beide Großväter Gustav Freytags, der Pastor
George Freytag und der Pastor Ernst Christoph Zehe, in Königsberg Kants
Schüler gewesen sind. Und das ist nicht die einzige interessante Tatsache, die
den reichhaltigen Beilagen zu entnehmen ist. Mit großem Fleiß ist da Gustav
Freytags Mitarbeit an den Grenzboten statistisch festgestellt, sein Verhältnis zu
Vismarck in verschiednen Perioden belegt worden, seine umfassende Kenntnis
der dramatischen Literatur innerhalb und außerhalb der "Technik des Dramas"
nachgewiesen. Aber wenn dieser Gewinn mehr nebenbei abfällt, so liegt der
große Vorzug der Lindauschen Biographie doch im wesentlichen in andern
Dingen, im Aufbau der Persönlichkeit an der Hand der vorhandnen Dokumente,
wie die Gesammelten Werke, die Aufsätze in den Grenzboten, die Briefe sie dar¬
bieten. Die Analyse der einzelnen Dichtungen ist immer so angelegt, daß sie
gerade die Züge mit heraufbringt, die hinter dem bunten Rankenwerk der
äußern Handlung das Gewordne bestimmt und geformt haben. Freilich geht
Lindau hierbei gelegentlich zu weit in der Herholung von Vergleichen, in
der philosophischen Einordnung unter Gesetze, die nicht immer dem Leben ab¬
gewonnen sind, wie es bei Gustav Freytag natürlich wäre. Hans Lindaus
philosophische Bildung, die offenbar die Grundlage seines Wissens und der
vornehmste Trieb auch seiner literarhistorischen Tätigkeit ist, bringt in einem
Falle wie dieser überhaupt gewisse Gefahren, denen Lindau denn auch nicht
ganz entgangen ist. Mancher hätte mit mir vielleicht am Schluß an Stelle
der nicht ganz überzeugenden Schlußansicht des Philosophen lieber das letzte
Wort gehört, das der Historiker über den Platz Gustav Freytags innerhalb
der deutschen Literatur zu sagen gehabt hätte.

Über die Persönlichkeit Freytags sagt Hans Lindau mit das Beste an
einer Stelle, wo er sehr glücklich das Verwandte zwischen Luther und Freytag
bei aller Wahrung der Größenabstände hervorhebt und zugleich das Gegen¬
sätzliche gegen Goethe und -- trotz allem -- Vismarck herausschält. "Das
deutsche Volk hat, wenn man es in einigen sinnbildlichen Verkörperungen seiner
Kraft erblickt, von Luther über Goethe und Schiller bis zu Vismarck sich
entwickelt. Man darf hier ebensowenig von einem Aufwärts wie von einem


Gustav Freytags Soll und Haben

Lindau hat ein umfassendes Material zur Verfügung gehabt, aber nicht alles
benutzen dürfen, was er fand. Rücksichten auf Lebende hinderten ihn, Freytags
Familienleben eingehender zu schildern. Das ist ein Verlust für ihn und uns,
weil die vielen feinen und liebenswerten Züge, die des Dichters Bild dann
noch gewonnen hätte, dem Ganzen eine erfreuliche Abrundung gewesen wären.
Konnte doch Lindau ohnehin bei dem Vorhandensein jener schon erwähnten,
im Aufbau und in ihrer Vollendung so klaren Selbstbiographie auf das äußere
Leben nicht denselben Wert legen, ihm nicht dasselbe Recht einräumen wie der
Genesis von Freytags dichterischen und schriftstellerischen Schöpfungen.

Immerhin bringt die Biographie eine Reihe von neuem Material über
Freytags Vorfahren und seine Jugend. Aus den Erinnerungen der Familie
ergibt sich dabei übrigens, daß beide Großväter Gustav Freytags, der Pastor
George Freytag und der Pastor Ernst Christoph Zehe, in Königsberg Kants
Schüler gewesen sind. Und das ist nicht die einzige interessante Tatsache, die
den reichhaltigen Beilagen zu entnehmen ist. Mit großem Fleiß ist da Gustav
Freytags Mitarbeit an den Grenzboten statistisch festgestellt, sein Verhältnis zu
Vismarck in verschiednen Perioden belegt worden, seine umfassende Kenntnis
der dramatischen Literatur innerhalb und außerhalb der „Technik des Dramas"
nachgewiesen. Aber wenn dieser Gewinn mehr nebenbei abfällt, so liegt der
große Vorzug der Lindauschen Biographie doch im wesentlichen in andern
Dingen, im Aufbau der Persönlichkeit an der Hand der vorhandnen Dokumente,
wie die Gesammelten Werke, die Aufsätze in den Grenzboten, die Briefe sie dar¬
bieten. Die Analyse der einzelnen Dichtungen ist immer so angelegt, daß sie
gerade die Züge mit heraufbringt, die hinter dem bunten Rankenwerk der
äußern Handlung das Gewordne bestimmt und geformt haben. Freilich geht
Lindau hierbei gelegentlich zu weit in der Herholung von Vergleichen, in
der philosophischen Einordnung unter Gesetze, die nicht immer dem Leben ab¬
gewonnen sind, wie es bei Gustav Freytag natürlich wäre. Hans Lindaus
philosophische Bildung, die offenbar die Grundlage seines Wissens und der
vornehmste Trieb auch seiner literarhistorischen Tätigkeit ist, bringt in einem
Falle wie dieser überhaupt gewisse Gefahren, denen Lindau denn auch nicht
ganz entgangen ist. Mancher hätte mit mir vielleicht am Schluß an Stelle
der nicht ganz überzeugenden Schlußansicht des Philosophen lieber das letzte
Wort gehört, das der Historiker über den Platz Gustav Freytags innerhalb
der deutschen Literatur zu sagen gehabt hätte.

Über die Persönlichkeit Freytags sagt Hans Lindau mit das Beste an
einer Stelle, wo er sehr glücklich das Verwandte zwischen Luther und Freytag
bei aller Wahrung der Größenabstände hervorhebt und zugleich das Gegen¬
sätzliche gegen Goethe und — trotz allem — Vismarck herausschält. „Das
deutsche Volk hat, wenn man es in einigen sinnbildlichen Verkörperungen seiner
Kraft erblickt, von Luther über Goethe und Schiller bis zu Vismarck sich
entwickelt. Man darf hier ebensowenig von einem Aufwärts wie von einem


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[0478] Gustav Freytags Soll und Haben Lindau hat ein umfassendes Material zur Verfügung gehabt, aber nicht alles benutzen dürfen, was er fand. Rücksichten auf Lebende hinderten ihn, Freytags Familienleben eingehender zu schildern. Das ist ein Verlust für ihn und uns, weil die vielen feinen und liebenswerten Züge, die des Dichters Bild dann noch gewonnen hätte, dem Ganzen eine erfreuliche Abrundung gewesen wären. Konnte doch Lindau ohnehin bei dem Vorhandensein jener schon erwähnten, im Aufbau und in ihrer Vollendung so klaren Selbstbiographie auf das äußere Leben nicht denselben Wert legen, ihm nicht dasselbe Recht einräumen wie der Genesis von Freytags dichterischen und schriftstellerischen Schöpfungen. Immerhin bringt die Biographie eine Reihe von neuem Material über Freytags Vorfahren und seine Jugend. Aus den Erinnerungen der Familie ergibt sich dabei übrigens, daß beide Großväter Gustav Freytags, der Pastor George Freytag und der Pastor Ernst Christoph Zehe, in Königsberg Kants Schüler gewesen sind. Und das ist nicht die einzige interessante Tatsache, die den reichhaltigen Beilagen zu entnehmen ist. Mit großem Fleiß ist da Gustav Freytags Mitarbeit an den Grenzboten statistisch festgestellt, sein Verhältnis zu Vismarck in verschiednen Perioden belegt worden, seine umfassende Kenntnis der dramatischen Literatur innerhalb und außerhalb der „Technik des Dramas" nachgewiesen. Aber wenn dieser Gewinn mehr nebenbei abfällt, so liegt der große Vorzug der Lindauschen Biographie doch im wesentlichen in andern Dingen, im Aufbau der Persönlichkeit an der Hand der vorhandnen Dokumente, wie die Gesammelten Werke, die Aufsätze in den Grenzboten, die Briefe sie dar¬ bieten. Die Analyse der einzelnen Dichtungen ist immer so angelegt, daß sie gerade die Züge mit heraufbringt, die hinter dem bunten Rankenwerk der äußern Handlung das Gewordne bestimmt und geformt haben. Freilich geht Lindau hierbei gelegentlich zu weit in der Herholung von Vergleichen, in der philosophischen Einordnung unter Gesetze, die nicht immer dem Leben ab¬ gewonnen sind, wie es bei Gustav Freytag natürlich wäre. Hans Lindaus philosophische Bildung, die offenbar die Grundlage seines Wissens und der vornehmste Trieb auch seiner literarhistorischen Tätigkeit ist, bringt in einem Falle wie dieser überhaupt gewisse Gefahren, denen Lindau denn auch nicht ganz entgangen ist. Mancher hätte mit mir vielleicht am Schluß an Stelle der nicht ganz überzeugenden Schlußansicht des Philosophen lieber das letzte Wort gehört, das der Historiker über den Platz Gustav Freytags innerhalb der deutschen Literatur zu sagen gehabt hätte. Über die Persönlichkeit Freytags sagt Hans Lindau mit das Beste an einer Stelle, wo er sehr glücklich das Verwandte zwischen Luther und Freytag bei aller Wahrung der Größenabstände hervorhebt und zugleich das Gegen¬ sätzliche gegen Goethe und — trotz allem — Vismarck herausschält. „Das deutsche Volk hat, wenn man es in einigen sinnbildlichen Verkörperungen seiner Kraft erblickt, von Luther über Goethe und Schiller bis zu Vismarck sich entwickelt. Man darf hier ebensowenig von einem Aufwärts wie von einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/478>, abgerufen am 22.07.2024.