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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Theodor Linditers Weltgeschichte

vielfach ein moderne Ideen erinnert, minder erschöpfend und glänzend ausge¬
fallen, als man bei der Höhe der sonstigen Darstellung erwarten sollte. Hier
treten die treibenden Kräfte nicht so deutlich hervor wie sonst, wie namentlich
in der Schilderung der Allmacht der Kirche, die sich besonders im vierten und
im fünften Abschnitt zu einer Größe und Eigenartigkeit der Anschauung erhebt,
die sie den besten Werken über diese Zeit um die Seite stellt. Gerade in
diesen Partien aber tritt in dem Gesamturteil ein starker Gegensatz zu der
Auffassung Lamprechts von dem Charakter der Kulturzeitalter zutage. Von
der "Gebundenheit" des Mittelalters im Gegensatz zu dem beginnenden In¬
dividualismus der Renaissance und des Humanismus will Lindner nichts
wissen; Konvention und religiöse Gebundenheit herrschen nach ihm noch hente,
Entfaltung der Individualität gab es auch im Mittelalter; worauf Lamprecht
nicht ohne Berechtigung erwidern könnte, daß diese heutige Gebundenheit und
die Entfaltung der Individualität im Mittelalter eben nicht das Typische der
Zeit, sondern Ausnahmen sind, daß trotzdem die Regel der Erscheinungen für
die Lamprechtsche Auffassung sprechen kann; wie Lindner denn selbst an andrer
Stelle von der "durch die Kirche gefesselten Wissenschaft" des Abendlandes
spricht, die diese als tief unter der arabischen stehend erscheinen lasse.

Eine neue Periode innerhalb des Mittelalters läßt Lindner mit dem
stärkern Hervortreten städtischen Lebens beginnen. Denn, so sagt er (III, 199),
"unbedenklich läßt sich der Satz aufstellen: nur diejenigen Länder, in denen
städtisches Wesen einen größern Umfang erlangte, drangen zu höherer Kultur
vor". Daher ist denn auch seine Schilderung der Städte und des Bürger¬
tums und seine Geschichte der Hansa, mit der er sich schon früher eingehend
beschäftigt hat, als besonders gelungen zu bezeichnen. Daneben verdient auch
seiue vortreffliche weltgeschichtliche Würdigung der deutschen Volkskolonisations-
nrbeit eine besondre Hervorhebung.

Dann wendet sich Lindner der staatlichen Entwicklung der einzelnen abend¬
ländischen Nationen zu, die sich in langsamem, in den Hauptmomenten an¬
schaulich dargestelltem Ringen das Recht ihrer nationalen Existenz neben
der alles umfassenden Kirche erringen. Sehr stark in den Nordergrund treten
dabei die sich in dieser Richtung bewegenden Kämpfe in Frankreich. Der Ab¬
schnitt über Bonifatius den Achten, Clemens den Fünften und Philipp den
Schönen gehört zu den gelungensten dieses Bandes. Mit gleicher Vorliebe
ist die eigenartige Entstehung der italienischen Stadtstaaten, wie Venedig,
Florenz, Pisa und Genua, mit ihrer reichen wissenschaftlichen und künstlerischen
Kultur, aber auch mit ihren zersetzenden Parteiungen gezeichnet. Eine glän¬
zende Würdigung Dantes schließt diesen Abschnitt.

In der Geschichte des spätern Mittelalters, die den Rest des dritten
Bandes bildet, geht Lindner mit besondrer Vorliebe und großem Verständnis
den Bestrebungen nach, die eine allmähliche Emanzipation des staatlich-nationalen
Lebens von der Vorherrschaft der Kirche anbahnen. Für das Emporkommen


Theodor Linditers Weltgeschichte

vielfach ein moderne Ideen erinnert, minder erschöpfend und glänzend ausge¬
fallen, als man bei der Höhe der sonstigen Darstellung erwarten sollte. Hier
treten die treibenden Kräfte nicht so deutlich hervor wie sonst, wie namentlich
in der Schilderung der Allmacht der Kirche, die sich besonders im vierten und
im fünften Abschnitt zu einer Größe und Eigenartigkeit der Anschauung erhebt,
die sie den besten Werken über diese Zeit um die Seite stellt. Gerade in
diesen Partien aber tritt in dem Gesamturteil ein starker Gegensatz zu der
Auffassung Lamprechts von dem Charakter der Kulturzeitalter zutage. Von
der „Gebundenheit" des Mittelalters im Gegensatz zu dem beginnenden In¬
dividualismus der Renaissance und des Humanismus will Lindner nichts
wissen; Konvention und religiöse Gebundenheit herrschen nach ihm noch hente,
Entfaltung der Individualität gab es auch im Mittelalter; worauf Lamprecht
nicht ohne Berechtigung erwidern könnte, daß diese heutige Gebundenheit und
die Entfaltung der Individualität im Mittelalter eben nicht das Typische der
Zeit, sondern Ausnahmen sind, daß trotzdem die Regel der Erscheinungen für
die Lamprechtsche Auffassung sprechen kann; wie Lindner denn selbst an andrer
Stelle von der „durch die Kirche gefesselten Wissenschaft" des Abendlandes
spricht, die diese als tief unter der arabischen stehend erscheinen lasse.

Eine neue Periode innerhalb des Mittelalters läßt Lindner mit dem
stärkern Hervortreten städtischen Lebens beginnen. Denn, so sagt er (III, 199),
„unbedenklich läßt sich der Satz aufstellen: nur diejenigen Länder, in denen
städtisches Wesen einen größern Umfang erlangte, drangen zu höherer Kultur
vor". Daher ist denn auch seine Schilderung der Städte und des Bürger¬
tums und seine Geschichte der Hansa, mit der er sich schon früher eingehend
beschäftigt hat, als besonders gelungen zu bezeichnen. Daneben verdient auch
seiue vortreffliche weltgeschichtliche Würdigung der deutschen Volkskolonisations-
nrbeit eine besondre Hervorhebung.

Dann wendet sich Lindner der staatlichen Entwicklung der einzelnen abend¬
ländischen Nationen zu, die sich in langsamem, in den Hauptmomenten an¬
schaulich dargestelltem Ringen das Recht ihrer nationalen Existenz neben
der alles umfassenden Kirche erringen. Sehr stark in den Nordergrund treten
dabei die sich in dieser Richtung bewegenden Kämpfe in Frankreich. Der Ab¬
schnitt über Bonifatius den Achten, Clemens den Fünften und Philipp den
Schönen gehört zu den gelungensten dieses Bandes. Mit gleicher Vorliebe
ist die eigenartige Entstehung der italienischen Stadtstaaten, wie Venedig,
Florenz, Pisa und Genua, mit ihrer reichen wissenschaftlichen und künstlerischen
Kultur, aber auch mit ihren zersetzenden Parteiungen gezeichnet. Eine glän¬
zende Würdigung Dantes schließt diesen Abschnitt.

In der Geschichte des spätern Mittelalters, die den Rest des dritten
Bandes bildet, geht Lindner mit besondrer Vorliebe und großem Verständnis
den Bestrebungen nach, die eine allmähliche Emanzipation des staatlich-nationalen
Lebens von der Vorherrschaft der Kirche anbahnen. Für das Emporkommen


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[0474] Theodor Linditers Weltgeschichte vielfach ein moderne Ideen erinnert, minder erschöpfend und glänzend ausge¬ fallen, als man bei der Höhe der sonstigen Darstellung erwarten sollte. Hier treten die treibenden Kräfte nicht so deutlich hervor wie sonst, wie namentlich in der Schilderung der Allmacht der Kirche, die sich besonders im vierten und im fünften Abschnitt zu einer Größe und Eigenartigkeit der Anschauung erhebt, die sie den besten Werken über diese Zeit um die Seite stellt. Gerade in diesen Partien aber tritt in dem Gesamturteil ein starker Gegensatz zu der Auffassung Lamprechts von dem Charakter der Kulturzeitalter zutage. Von der „Gebundenheit" des Mittelalters im Gegensatz zu dem beginnenden In¬ dividualismus der Renaissance und des Humanismus will Lindner nichts wissen; Konvention und religiöse Gebundenheit herrschen nach ihm noch hente, Entfaltung der Individualität gab es auch im Mittelalter; worauf Lamprecht nicht ohne Berechtigung erwidern könnte, daß diese heutige Gebundenheit und die Entfaltung der Individualität im Mittelalter eben nicht das Typische der Zeit, sondern Ausnahmen sind, daß trotzdem die Regel der Erscheinungen für die Lamprechtsche Auffassung sprechen kann; wie Lindner denn selbst an andrer Stelle von der „durch die Kirche gefesselten Wissenschaft" des Abendlandes spricht, die diese als tief unter der arabischen stehend erscheinen lasse. Eine neue Periode innerhalb des Mittelalters läßt Lindner mit dem stärkern Hervortreten städtischen Lebens beginnen. Denn, so sagt er (III, 199), „unbedenklich läßt sich der Satz aufstellen: nur diejenigen Länder, in denen städtisches Wesen einen größern Umfang erlangte, drangen zu höherer Kultur vor". Daher ist denn auch seine Schilderung der Städte und des Bürger¬ tums und seine Geschichte der Hansa, mit der er sich schon früher eingehend beschäftigt hat, als besonders gelungen zu bezeichnen. Daneben verdient auch seiue vortreffliche weltgeschichtliche Würdigung der deutschen Volkskolonisations- nrbeit eine besondre Hervorhebung. Dann wendet sich Lindner der staatlichen Entwicklung der einzelnen abend¬ ländischen Nationen zu, die sich in langsamem, in den Hauptmomenten an¬ schaulich dargestelltem Ringen das Recht ihrer nationalen Existenz neben der alles umfassenden Kirche erringen. Sehr stark in den Nordergrund treten dabei die sich in dieser Richtung bewegenden Kämpfe in Frankreich. Der Ab¬ schnitt über Bonifatius den Achten, Clemens den Fünften und Philipp den Schönen gehört zu den gelungensten dieses Bandes. Mit gleicher Vorliebe ist die eigenartige Entstehung der italienischen Stadtstaaten, wie Venedig, Florenz, Pisa und Genua, mit ihrer reichen wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur, aber auch mit ihren zersetzenden Parteiungen gezeichnet. Eine glän¬ zende Würdigung Dantes schließt diesen Abschnitt. In der Geschichte des spätern Mittelalters, die den Rest des dritten Bandes bildet, geht Lindner mit besondrer Vorliebe und großem Verständnis den Bestrebungen nach, die eine allmähliche Emanzipation des staatlich-nationalen Lebens von der Vorherrschaft der Kirche anbahnen. Für das Emporkommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/474>, abgerufen am 22.07.2024.