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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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von der Wahrheit entfernt ist." Aber die Romantik fehlt nicht minder, indem
sie ihren Ton zu hoch hinaufschraubt und dadurch wider die Regel der Natur
verstößt. So sehr ist dies dem Wesen Thackerays zuwider, daß er den be¬
rühmten Roman Scotts in einer Fortsetzung lNebekka und Rowena), worin
alle Verhältnisse der Handelnden verkehrt sind und die Jüdin Rebekka sieg¬
reich an Stelle der schmachtenden Rowena tritt, geordnet und in eben der¬
selben Weise die Milliouenheldin des Verfassers von Lothair in ergötzlicher
Weise (in Lothair) karikiert.

Beißend ironisch, wenn auch mit aller Bewunderung für den großen
Schotten sagt er in dem zuerst genannten Werke: "Ich werfe diese Beschreibung
nur hin, um zu zeigen, was alles möglich wäre, wenn es mir beliebte, mich
in dieser Schreibart zu ergehn. Aber wie in den Schlachten, die uns der
freundliche Chronist vorführt, geht alles glücklich vorüber; die Leute werden
erschlagen, ohne daß dem Leser hierdurch die geringste unangenehme Empfindung
verursacht wird; ja manche der rohesten und blutdürstigsten Charaktere der
Geschichte werden dank dem unbesiegbaren Humor des großen Novellisten
liebenswürdige, joviale Charaktere, für die man eine herzliche Sympathie hegt."
Daß das letzte möglich sei -- und es wirft dies ein grelles Licht auf Thackerays
antiromautische Gesinnung sowie auf seine Charakterdarstellung --, bezeugen
die meisterhaften Schöpfungen, in denen er später das zur Wahrheit machte,
was hier nnr paradox sein sollte, und das Schöne und das Häßliche zur
Einheit lebendiger Natur verband.

Und hier bewährt sich, was ich von Thackerays Verhältnis zu Goethe
gesagt habe. Der Wilhelm Meister stand ihm am nächsten, oder um im be¬
sondern zu reden, nicht der von einer einzigen Leidenschaft beherrschte, ein¬
seitige Natur- oder Jdealmeusch, sondern der von vielen Leidenschaften be¬
herrschte, durch die Umstünde herangebildete Kulturmensch. Was der große,
klassische Sittenschilderer Englands für das achtzehnte Jahrhundert geleistet
hat, das leistete Thackeray für das neunzehnte, als er den "Eitelkeitsmarkt".
"Pendennis" und "Esmond" schrieb. So verschieden nach Inhalt und Aus¬
führung, berühren sie sich doch alle darin, daß sie uns die menschliche Natur
nicht in ihrer Abgeschlossenheit, sondern in fortwährender Entwicklung begriffe",
vorführen. Wir können dies nicht besser erklären, als indem wir in dieser
Richtung die Menschen Dickens mit Thackerays vergleichen, die des Humoristen
mit denen des Komikers. Dickens Menschen sind sich selbst Zweck und Gesetz;
sie wachsen gleichsam aus dem Boden hervor, auf dem sie leben, und ihr
Wachstum ist dem eiues Waldbaumes gleich. Ihre Moral ist nicht Zweck-
brgriff, sondern ein ehernes Naturgesetz, dem sie folgen, und von dem kein
Abweichen, auch nicht gradweise, möglich ist. Urian Heep kann sich ebensowenig
seiner heuchlerischen Natur erwehren wie Pecksniff seiner scheinphilauthropischen
Phrasen, dem Mörder Sykes ist von Natur aus das Kainszeichen auf die
Stirn gedrückt, und wir wissen ebenso gewiß, daß er Nancy ermorden wird,


Gnnzbolen I 1908 49
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von der Wahrheit entfernt ist." Aber die Romantik fehlt nicht minder, indem
sie ihren Ton zu hoch hinaufschraubt und dadurch wider die Regel der Natur
verstößt. So sehr ist dies dem Wesen Thackerays zuwider, daß er den be¬
rühmten Roman Scotts in einer Fortsetzung lNebekka und Rowena), worin
alle Verhältnisse der Handelnden verkehrt sind und die Jüdin Rebekka sieg¬
reich an Stelle der schmachtenden Rowena tritt, geordnet und in eben der¬
selben Weise die Milliouenheldin des Verfassers von Lothair in ergötzlicher
Weise (in Lothair) karikiert.

Beißend ironisch, wenn auch mit aller Bewunderung für den großen
Schotten sagt er in dem zuerst genannten Werke: „Ich werfe diese Beschreibung
nur hin, um zu zeigen, was alles möglich wäre, wenn es mir beliebte, mich
in dieser Schreibart zu ergehn. Aber wie in den Schlachten, die uns der
freundliche Chronist vorführt, geht alles glücklich vorüber; die Leute werden
erschlagen, ohne daß dem Leser hierdurch die geringste unangenehme Empfindung
verursacht wird; ja manche der rohesten und blutdürstigsten Charaktere der
Geschichte werden dank dem unbesiegbaren Humor des großen Novellisten
liebenswürdige, joviale Charaktere, für die man eine herzliche Sympathie hegt."
Daß das letzte möglich sei — und es wirft dies ein grelles Licht auf Thackerays
antiromautische Gesinnung sowie auf seine Charakterdarstellung —, bezeugen
die meisterhaften Schöpfungen, in denen er später das zur Wahrheit machte,
was hier nnr paradox sein sollte, und das Schöne und das Häßliche zur
Einheit lebendiger Natur verband.

Und hier bewährt sich, was ich von Thackerays Verhältnis zu Goethe
gesagt habe. Der Wilhelm Meister stand ihm am nächsten, oder um im be¬
sondern zu reden, nicht der von einer einzigen Leidenschaft beherrschte, ein¬
seitige Natur- oder Jdealmeusch, sondern der von vielen Leidenschaften be¬
herrschte, durch die Umstünde herangebildete Kulturmensch. Was der große,
klassische Sittenschilderer Englands für das achtzehnte Jahrhundert geleistet
hat, das leistete Thackeray für das neunzehnte, als er den „Eitelkeitsmarkt".
„Pendennis" und „Esmond" schrieb. So verschieden nach Inhalt und Aus¬
führung, berühren sie sich doch alle darin, daß sie uns die menschliche Natur
nicht in ihrer Abgeschlossenheit, sondern in fortwährender Entwicklung begriffe«,
vorführen. Wir können dies nicht besser erklären, als indem wir in dieser
Richtung die Menschen Dickens mit Thackerays vergleichen, die des Humoristen
mit denen des Komikers. Dickens Menschen sind sich selbst Zweck und Gesetz;
sie wachsen gleichsam aus dem Boden hervor, auf dem sie leben, und ihr
Wachstum ist dem eiues Waldbaumes gleich. Ihre Moral ist nicht Zweck-
brgriff, sondern ein ehernes Naturgesetz, dem sie folgen, und von dem kein
Abweichen, auch nicht gradweise, möglich ist. Urian Heep kann sich ebensowenig
seiner heuchlerischen Natur erwehren wie Pecksniff seiner scheinphilauthropischen
Phrasen, dem Mörder Sykes ist von Natur aus das Kainszeichen auf die
Stirn gedrückt, und wir wissen ebenso gewiß, daß er Nancy ermorden wird,


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[0381] Lhackera^' von der Wahrheit entfernt ist." Aber die Romantik fehlt nicht minder, indem sie ihren Ton zu hoch hinaufschraubt und dadurch wider die Regel der Natur verstößt. So sehr ist dies dem Wesen Thackerays zuwider, daß er den be¬ rühmten Roman Scotts in einer Fortsetzung lNebekka und Rowena), worin alle Verhältnisse der Handelnden verkehrt sind und die Jüdin Rebekka sieg¬ reich an Stelle der schmachtenden Rowena tritt, geordnet und in eben der¬ selben Weise die Milliouenheldin des Verfassers von Lothair in ergötzlicher Weise (in Lothair) karikiert. Beißend ironisch, wenn auch mit aller Bewunderung für den großen Schotten sagt er in dem zuerst genannten Werke: „Ich werfe diese Beschreibung nur hin, um zu zeigen, was alles möglich wäre, wenn es mir beliebte, mich in dieser Schreibart zu ergehn. Aber wie in den Schlachten, die uns der freundliche Chronist vorführt, geht alles glücklich vorüber; die Leute werden erschlagen, ohne daß dem Leser hierdurch die geringste unangenehme Empfindung verursacht wird; ja manche der rohesten und blutdürstigsten Charaktere der Geschichte werden dank dem unbesiegbaren Humor des großen Novellisten liebenswürdige, joviale Charaktere, für die man eine herzliche Sympathie hegt." Daß das letzte möglich sei — und es wirft dies ein grelles Licht auf Thackerays antiromautische Gesinnung sowie auf seine Charakterdarstellung —, bezeugen die meisterhaften Schöpfungen, in denen er später das zur Wahrheit machte, was hier nnr paradox sein sollte, und das Schöne und das Häßliche zur Einheit lebendiger Natur verband. Und hier bewährt sich, was ich von Thackerays Verhältnis zu Goethe gesagt habe. Der Wilhelm Meister stand ihm am nächsten, oder um im be¬ sondern zu reden, nicht der von einer einzigen Leidenschaft beherrschte, ein¬ seitige Natur- oder Jdealmeusch, sondern der von vielen Leidenschaften be¬ herrschte, durch die Umstünde herangebildete Kulturmensch. Was der große, klassische Sittenschilderer Englands für das achtzehnte Jahrhundert geleistet hat, das leistete Thackeray für das neunzehnte, als er den „Eitelkeitsmarkt". „Pendennis" und „Esmond" schrieb. So verschieden nach Inhalt und Aus¬ führung, berühren sie sich doch alle darin, daß sie uns die menschliche Natur nicht in ihrer Abgeschlossenheit, sondern in fortwährender Entwicklung begriffe«, vorführen. Wir können dies nicht besser erklären, als indem wir in dieser Richtung die Menschen Dickens mit Thackerays vergleichen, die des Humoristen mit denen des Komikers. Dickens Menschen sind sich selbst Zweck und Gesetz; sie wachsen gleichsam aus dem Boden hervor, auf dem sie leben, und ihr Wachstum ist dem eiues Waldbaumes gleich. Ihre Moral ist nicht Zweck- brgriff, sondern ein ehernes Naturgesetz, dem sie folgen, und von dem kein Abweichen, auch nicht gradweise, möglich ist. Urian Heep kann sich ebensowenig seiner heuchlerischen Natur erwehren wie Pecksniff seiner scheinphilauthropischen Phrasen, dem Mörder Sykes ist von Natur aus das Kainszeichen auf die Stirn gedrückt, und wir wissen ebenso gewiß, daß er Nancy ermorden wird, Gnnzbolen I 1908 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/381>, abgerufen am 22.07.2024.