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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland

Produkt beider ist der ganze heutige abendländische Staatenkreis; und noch heute
ist gerade in diesem Punkte der Unterschied zwischen romanischen und germa¬
nischen Ländern lebendig, je nach dem Überwiegen des einen oder andern der
beiden Grundelemente. Gewiß ist die Differenzierung ländlichen und städtischen
Erwerbs, ländlicher und städtischer Siedlungs- und Lebensweise ihnen allen bis
zu einem gewissen Grade gemeinsam. Jedoch zeigt sich das Überwiegen des
nrbcmen römischen Elements in den romanischen Ländern bis auf den heutigen
Tag wirksam; weit schneller haben sie den starken agrarischen Rückschlag des
frühen Mittelalters überwunden. Bald schon ist hier das flache Land meist
wieder einigermaßen urbanisiert; die Stadt und das sie umgebende Gebiet bilden
wieder eine politische und soziale Einheit. Charakteristisch ist die frühe und
rasche Aufsaugung des Landadels durch die Städte in den romanischen Ländern,
während dieser Prozeß in Deutschland heute noch kaum begonnen, geschweige
denn vollendet ist." Gott sei Dank! möchten wir hinzusetzen. Denn wohin
die Aufsaugung des Landadels durch die Städte führt, das zeigen die italie¬
nischen Verhältnisse zur Genüge. Auf dem Platten Lande die traurigste Lati¬
fundien- und Pachtwirtschaft, die in Raubbau und Ausbeutung der Landarbeiter
gipfelt, in den Städten eine mehr oder minder wirtschaftlich und moralisch vcr-
kommne Aristokratie, die zu stolz und zu indolent ist, sich auf den Gebieten des
städtischen Erwerbslebens zu betätigen.

Gerade weil in Deutschland der Adel auf dem Lande bleibt, durch Tra¬
dition und Neigung mit der Scholle verwachsen ist, hat er bis zum heutigen
Tage die ihm zugewiesne Kulturaufgabe zu erfüllen vermocht und, soweit es in
seinen Kräften stand, der immer bedrohlicher werdenden Landflucht der bäuer¬
lichen Bevölkerung entgegengewirkt. Von der historischen Mission des viel-
geschmähten Junkertums, das dem Staate Friedrichs des Großen die Elite
seiner Offiziere und Beamten gegeben und dadurch deu Aufstieg Preußens zur
Vormacht Deutschlands ermöglicht hat, soll hier gar nicht geredet werden.

Daß städtische Kultur -- und nach des Verfassers Meinung ist jede Kultur
urbar -- keineswegs auch eine Gewähr für bürgerliche Freiheit, oder um
Preuß' Worte zu gebrauchen, für die "bedingungslose Anerkennung der freien
Persönlichkeit, der fundamentalen Voraussetzung alles modernen politischen und
sozialen Lebens", bietet, lehrt die Geschichte der italienischen Städte. Das
demokratische Prinzip, zu dem fast überall Ansätze wahrzunehmen sind, tritt
schon im frühen Mittelalter zurück; aus den jahrzehnte- und jahrhundertelangen
Kämpfen rivalisierender Geschlechter gehn sie fast ohne Ausnahme als absolut
beherrschte Stadtstaaten hervor, in denen der glanzvolle Hof alles, das Bürger¬
tum nichts bedeutet. Und sogar da. wo eine klug ersonnene Verfassung dem
Übel wirksam vorzubeugen schien, in Venedig, lag die Herrschaft bald in den
Händen einer kleinen Anzahl bevorzugter Familien, die dafür sorgten, daß die
bürgerliche Freiheit nicht ins Kraut schoß, und daß jede den Machthabern
nicht genehme Regung unter dem Drucke polizeilicher Bevormundung, systematisch


Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland

Produkt beider ist der ganze heutige abendländische Staatenkreis; und noch heute
ist gerade in diesem Punkte der Unterschied zwischen romanischen und germa¬
nischen Ländern lebendig, je nach dem Überwiegen des einen oder andern der
beiden Grundelemente. Gewiß ist die Differenzierung ländlichen und städtischen
Erwerbs, ländlicher und städtischer Siedlungs- und Lebensweise ihnen allen bis
zu einem gewissen Grade gemeinsam. Jedoch zeigt sich das Überwiegen des
nrbcmen römischen Elements in den romanischen Ländern bis auf den heutigen
Tag wirksam; weit schneller haben sie den starken agrarischen Rückschlag des
frühen Mittelalters überwunden. Bald schon ist hier das flache Land meist
wieder einigermaßen urbanisiert; die Stadt und das sie umgebende Gebiet bilden
wieder eine politische und soziale Einheit. Charakteristisch ist die frühe und
rasche Aufsaugung des Landadels durch die Städte in den romanischen Ländern,
während dieser Prozeß in Deutschland heute noch kaum begonnen, geschweige
denn vollendet ist." Gott sei Dank! möchten wir hinzusetzen. Denn wohin
die Aufsaugung des Landadels durch die Städte führt, das zeigen die italie¬
nischen Verhältnisse zur Genüge. Auf dem Platten Lande die traurigste Lati¬
fundien- und Pachtwirtschaft, die in Raubbau und Ausbeutung der Landarbeiter
gipfelt, in den Städten eine mehr oder minder wirtschaftlich und moralisch vcr-
kommne Aristokratie, die zu stolz und zu indolent ist, sich auf den Gebieten des
städtischen Erwerbslebens zu betätigen.

Gerade weil in Deutschland der Adel auf dem Lande bleibt, durch Tra¬
dition und Neigung mit der Scholle verwachsen ist, hat er bis zum heutigen
Tage die ihm zugewiesne Kulturaufgabe zu erfüllen vermocht und, soweit es in
seinen Kräften stand, der immer bedrohlicher werdenden Landflucht der bäuer¬
lichen Bevölkerung entgegengewirkt. Von der historischen Mission des viel-
geschmähten Junkertums, das dem Staate Friedrichs des Großen die Elite
seiner Offiziere und Beamten gegeben und dadurch deu Aufstieg Preußens zur
Vormacht Deutschlands ermöglicht hat, soll hier gar nicht geredet werden.

Daß städtische Kultur — und nach des Verfassers Meinung ist jede Kultur
urbar — keineswegs auch eine Gewähr für bürgerliche Freiheit, oder um
Preuß' Worte zu gebrauchen, für die „bedingungslose Anerkennung der freien
Persönlichkeit, der fundamentalen Voraussetzung alles modernen politischen und
sozialen Lebens", bietet, lehrt die Geschichte der italienischen Städte. Das
demokratische Prinzip, zu dem fast überall Ansätze wahrzunehmen sind, tritt
schon im frühen Mittelalter zurück; aus den jahrzehnte- und jahrhundertelangen
Kämpfen rivalisierender Geschlechter gehn sie fast ohne Ausnahme als absolut
beherrschte Stadtstaaten hervor, in denen der glanzvolle Hof alles, das Bürger¬
tum nichts bedeutet. Und sogar da. wo eine klug ersonnene Verfassung dem
Übel wirksam vorzubeugen schien, in Venedig, lag die Herrschaft bald in den
Händen einer kleinen Anzahl bevorzugter Familien, die dafür sorgten, daß die
bürgerliche Freiheit nicht ins Kraut schoß, und daß jede den Machthabern
nicht genehme Regung unter dem Drucke polizeilicher Bevormundung, systematisch


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[0375] Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland Produkt beider ist der ganze heutige abendländische Staatenkreis; und noch heute ist gerade in diesem Punkte der Unterschied zwischen romanischen und germa¬ nischen Ländern lebendig, je nach dem Überwiegen des einen oder andern der beiden Grundelemente. Gewiß ist die Differenzierung ländlichen und städtischen Erwerbs, ländlicher und städtischer Siedlungs- und Lebensweise ihnen allen bis zu einem gewissen Grade gemeinsam. Jedoch zeigt sich das Überwiegen des nrbcmen römischen Elements in den romanischen Ländern bis auf den heutigen Tag wirksam; weit schneller haben sie den starken agrarischen Rückschlag des frühen Mittelalters überwunden. Bald schon ist hier das flache Land meist wieder einigermaßen urbanisiert; die Stadt und das sie umgebende Gebiet bilden wieder eine politische und soziale Einheit. Charakteristisch ist die frühe und rasche Aufsaugung des Landadels durch die Städte in den romanischen Ländern, während dieser Prozeß in Deutschland heute noch kaum begonnen, geschweige denn vollendet ist." Gott sei Dank! möchten wir hinzusetzen. Denn wohin die Aufsaugung des Landadels durch die Städte führt, das zeigen die italie¬ nischen Verhältnisse zur Genüge. Auf dem Platten Lande die traurigste Lati¬ fundien- und Pachtwirtschaft, die in Raubbau und Ausbeutung der Landarbeiter gipfelt, in den Städten eine mehr oder minder wirtschaftlich und moralisch vcr- kommne Aristokratie, die zu stolz und zu indolent ist, sich auf den Gebieten des städtischen Erwerbslebens zu betätigen. Gerade weil in Deutschland der Adel auf dem Lande bleibt, durch Tra¬ dition und Neigung mit der Scholle verwachsen ist, hat er bis zum heutigen Tage die ihm zugewiesne Kulturaufgabe zu erfüllen vermocht und, soweit es in seinen Kräften stand, der immer bedrohlicher werdenden Landflucht der bäuer¬ lichen Bevölkerung entgegengewirkt. Von der historischen Mission des viel- geschmähten Junkertums, das dem Staate Friedrichs des Großen die Elite seiner Offiziere und Beamten gegeben und dadurch deu Aufstieg Preußens zur Vormacht Deutschlands ermöglicht hat, soll hier gar nicht geredet werden. Daß städtische Kultur — und nach des Verfassers Meinung ist jede Kultur urbar — keineswegs auch eine Gewähr für bürgerliche Freiheit, oder um Preuß' Worte zu gebrauchen, für die „bedingungslose Anerkennung der freien Persönlichkeit, der fundamentalen Voraussetzung alles modernen politischen und sozialen Lebens", bietet, lehrt die Geschichte der italienischen Städte. Das demokratische Prinzip, zu dem fast überall Ansätze wahrzunehmen sind, tritt schon im frühen Mittelalter zurück; aus den jahrzehnte- und jahrhundertelangen Kämpfen rivalisierender Geschlechter gehn sie fast ohne Ausnahme als absolut beherrschte Stadtstaaten hervor, in denen der glanzvolle Hof alles, das Bürger¬ tum nichts bedeutet. Und sogar da. wo eine klug ersonnene Verfassung dem Übel wirksam vorzubeugen schien, in Venedig, lag die Herrschaft bald in den Händen einer kleinen Anzahl bevorzugter Familien, die dafür sorgten, daß die bürgerliche Freiheit nicht ins Kraut schoß, und daß jede den Machthabern nicht genehme Regung unter dem Drucke polizeilicher Bevormundung, systematisch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/375>, abgerufen am 24.08.2024.