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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Adel und Lauern in Osteuropa

erst zu einer Zeit, wo mau es nicht mehr erwartete, nach der Bauernemanzi¬
pation (1861); jetzt trat seine Indolenz und Unfähigkeit erst grell zutage; jetzt
zeigte es sich, daß der russische Adel ökonomisch und moralisch heruntergekommen
war. Und warum? Weil er den Segen der Arbeit nie an sich erfahren,
weil er sich nie um seine Güter gekümmert hat, da er ja seinen Wohnsitz
Sommer und Winter in der Stadt hat und dem Pächter die Bewirtschaftung
überläßt. "Die Gutsbesitzer ruinierten sich und fahren fort, sich zu ruinieren,
weil sie niemals das taten noch tuu, was ihnen zu tun obliegt. Die Bauern
ackern, die Kaufleute treiben Handel, die Geistlichen beten. Was taten aber die
Gutsherren? Sie beschäftigten oder ergötzten sich mit dem Staatsdienst, mit
der Jagd, mit der Literatur, mit Liebschaften, nur nicht mit der Landwirtschaft."^)
Kein Wunder, wenn' sich das bebaute Land immer mehr vermindert und der
adliche Grundbesitz immer mehr zurückgeht Won 1861 waren zwei Drittel aller
Güter verschuldet, und mehr als ein Viertel des Grundbesitzes sind dem Adel
seitdem verloren gegangen), besonders der kleinere, der zum größten Teil den
Bodenspekulanten, zum allerkleinsten den Bauern zufällt. So wird der adliche
Grundbesitz immer mehr zersetzt und wahrscheinlich in wenigen Jahrzehnten ganz
aufgerieben sein.

Und was hier gesagt worden ist, gilt uicht etwa von dem russischen Gro߬
grundbesitz allein, sondern von dem oft- und südosteuropäischen überhaupt, was
wiederum auf eine gemeinsame Grundlage schließen läßt. Vor allem das ver¬
hängnisvolle System des Absentismus, das man auch auf den Gütern von
Ungarn, Rumänien, der Türkei und Nordgriechenland findet, muß schon ein
byzantinisches Erbübel sein; denn hier hatte sich schon die Tradition aus¬
gebildet, daß alle großen Grundbesitzer zugleich einflußreiche Staatsmänner
waren, die sich nur wenig oder gar nicht um ihre Güter kümmerten. Daher die
Bezeichnung "Mächtige", die in Byzanz noch eine mehr politische, in Rußland
"ut Rumänien eine mehr soziale Bedeutung hat.

Im übrigen bestehen in Rußland noch 42 Prozent der gesamten Boden¬
fläche aus Groß- und Kleingrundbesitz, dem 58 Prozent bäuerlicher Grundbesitz
gegenüberstehen, ein immer noch sehr ungünstiges Verhältnis, wenn man be¬
denkt, daß 76 Prozent der Bevölkerung Bauern sind, von denen drei Viertel
noch mit Feldgemeinschaft wirtschaften, also Teilbau treiben. Unter diesen Um¬
ständen kommen nnr knapp zwei Desjätinen Land auf den Kopf der Bevölkerung,
sodaß der Getreidebau den Bedarf in vierzig Gouvernements nicht deckt, und
die Bauern zur Pachtung nichtbäuerlichen Landes greifen müssen.""') Ist die
Zersetzung des Großgrundbesitzes in der Türkei, in Griechenland und den sla¬
wischen Balkcmlündem schon größtenteils vollzogen, in Rußland stark im Gange,




*) H- v. Samson-Himmelstjema, Die "erluinpung der Bauer" und des Adels in Rieh-
l""d, Leipzig, 1892.
"*) Vgl. Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1901, Ur. U>7 und 1<w.
Adel und Lauern in Osteuropa

erst zu einer Zeit, wo mau es nicht mehr erwartete, nach der Bauernemanzi¬
pation (1861); jetzt trat seine Indolenz und Unfähigkeit erst grell zutage; jetzt
zeigte es sich, daß der russische Adel ökonomisch und moralisch heruntergekommen
war. Und warum? Weil er den Segen der Arbeit nie an sich erfahren,
weil er sich nie um seine Güter gekümmert hat, da er ja seinen Wohnsitz
Sommer und Winter in der Stadt hat und dem Pächter die Bewirtschaftung
überläßt. „Die Gutsbesitzer ruinierten sich und fahren fort, sich zu ruinieren,
weil sie niemals das taten noch tuu, was ihnen zu tun obliegt. Die Bauern
ackern, die Kaufleute treiben Handel, die Geistlichen beten. Was taten aber die
Gutsherren? Sie beschäftigten oder ergötzten sich mit dem Staatsdienst, mit
der Jagd, mit der Literatur, mit Liebschaften, nur nicht mit der Landwirtschaft."^)
Kein Wunder, wenn' sich das bebaute Land immer mehr vermindert und der
adliche Grundbesitz immer mehr zurückgeht Won 1861 waren zwei Drittel aller
Güter verschuldet, und mehr als ein Viertel des Grundbesitzes sind dem Adel
seitdem verloren gegangen), besonders der kleinere, der zum größten Teil den
Bodenspekulanten, zum allerkleinsten den Bauern zufällt. So wird der adliche
Grundbesitz immer mehr zersetzt und wahrscheinlich in wenigen Jahrzehnten ganz
aufgerieben sein.

Und was hier gesagt worden ist, gilt uicht etwa von dem russischen Gro߬
grundbesitz allein, sondern von dem oft- und südosteuropäischen überhaupt, was
wiederum auf eine gemeinsame Grundlage schließen läßt. Vor allem das ver¬
hängnisvolle System des Absentismus, das man auch auf den Gütern von
Ungarn, Rumänien, der Türkei und Nordgriechenland findet, muß schon ein
byzantinisches Erbübel sein; denn hier hatte sich schon die Tradition aus¬
gebildet, daß alle großen Grundbesitzer zugleich einflußreiche Staatsmänner
waren, die sich nur wenig oder gar nicht um ihre Güter kümmerten. Daher die
Bezeichnung „Mächtige", die in Byzanz noch eine mehr politische, in Rußland
»ut Rumänien eine mehr soziale Bedeutung hat.

Im übrigen bestehen in Rußland noch 42 Prozent der gesamten Boden¬
fläche aus Groß- und Kleingrundbesitz, dem 58 Prozent bäuerlicher Grundbesitz
gegenüberstehen, ein immer noch sehr ungünstiges Verhältnis, wenn man be¬
denkt, daß 76 Prozent der Bevölkerung Bauern sind, von denen drei Viertel
noch mit Feldgemeinschaft wirtschaften, also Teilbau treiben. Unter diesen Um¬
ständen kommen nnr knapp zwei Desjätinen Land auf den Kopf der Bevölkerung,
sodaß der Getreidebau den Bedarf in vierzig Gouvernements nicht deckt, und
die Bauern zur Pachtung nichtbäuerlichen Landes greifen müssen.""') Ist die
Zersetzung des Großgrundbesitzes in der Türkei, in Griechenland und den sla¬
wischen Balkcmlündem schon größtenteils vollzogen, in Rußland stark im Gange,




*) H- v. Samson-Himmelstjema, Die «erluinpung der Bauer» und des Adels in Rieh-
l""d, Leipzig, 1892.
"*) Vgl. Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1901, Ur. U>7 und 1<w.
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[0369] Adel und Lauern in Osteuropa erst zu einer Zeit, wo mau es nicht mehr erwartete, nach der Bauernemanzi¬ pation (1861); jetzt trat seine Indolenz und Unfähigkeit erst grell zutage; jetzt zeigte es sich, daß der russische Adel ökonomisch und moralisch heruntergekommen war. Und warum? Weil er den Segen der Arbeit nie an sich erfahren, weil er sich nie um seine Güter gekümmert hat, da er ja seinen Wohnsitz Sommer und Winter in der Stadt hat und dem Pächter die Bewirtschaftung überläßt. „Die Gutsbesitzer ruinierten sich und fahren fort, sich zu ruinieren, weil sie niemals das taten noch tuu, was ihnen zu tun obliegt. Die Bauern ackern, die Kaufleute treiben Handel, die Geistlichen beten. Was taten aber die Gutsherren? Sie beschäftigten oder ergötzten sich mit dem Staatsdienst, mit der Jagd, mit der Literatur, mit Liebschaften, nur nicht mit der Landwirtschaft."^) Kein Wunder, wenn' sich das bebaute Land immer mehr vermindert und der adliche Grundbesitz immer mehr zurückgeht Won 1861 waren zwei Drittel aller Güter verschuldet, und mehr als ein Viertel des Grundbesitzes sind dem Adel seitdem verloren gegangen), besonders der kleinere, der zum größten Teil den Bodenspekulanten, zum allerkleinsten den Bauern zufällt. So wird der adliche Grundbesitz immer mehr zersetzt und wahrscheinlich in wenigen Jahrzehnten ganz aufgerieben sein. Und was hier gesagt worden ist, gilt uicht etwa von dem russischen Gro߬ grundbesitz allein, sondern von dem oft- und südosteuropäischen überhaupt, was wiederum auf eine gemeinsame Grundlage schließen läßt. Vor allem das ver¬ hängnisvolle System des Absentismus, das man auch auf den Gütern von Ungarn, Rumänien, der Türkei und Nordgriechenland findet, muß schon ein byzantinisches Erbübel sein; denn hier hatte sich schon die Tradition aus¬ gebildet, daß alle großen Grundbesitzer zugleich einflußreiche Staatsmänner waren, die sich nur wenig oder gar nicht um ihre Güter kümmerten. Daher die Bezeichnung „Mächtige", die in Byzanz noch eine mehr politische, in Rußland »ut Rumänien eine mehr soziale Bedeutung hat. Im übrigen bestehen in Rußland noch 42 Prozent der gesamten Boden¬ fläche aus Groß- und Kleingrundbesitz, dem 58 Prozent bäuerlicher Grundbesitz gegenüberstehen, ein immer noch sehr ungünstiges Verhältnis, wenn man be¬ denkt, daß 76 Prozent der Bevölkerung Bauern sind, von denen drei Viertel noch mit Feldgemeinschaft wirtschaften, also Teilbau treiben. Unter diesen Um¬ ständen kommen nnr knapp zwei Desjätinen Land auf den Kopf der Bevölkerung, sodaß der Getreidebau den Bedarf in vierzig Gouvernements nicht deckt, und die Bauern zur Pachtung nichtbäuerlichen Landes greifen müssen.""') Ist die Zersetzung des Großgrundbesitzes in der Türkei, in Griechenland und den sla¬ wischen Balkcmlündem schon größtenteils vollzogen, in Rußland stark im Gange, *) H- v. Samson-Himmelstjema, Die «erluinpung der Bauer» und des Adels in Rieh- l""d, Leipzig, 1892. "*) Vgl. Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1901, Ur. U>7 und 1<w.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/369>, abgerufen am 22.07.2024.