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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Adel und Lauern in Gsteuropc>

weiter nichts sind als wörtliche Übertragungen ans dem Griechischen. Was
folgt nun daraus? Jedenfalls so viel, daß die spätbyzantinischen Agrnrver-
hältnisse vorbildlich geworden sind für die russischen, naturlich erst, nachdem sich
auch in Rußland ähnliche Zustände herausgebildet hatten. Das geschah aber
erst seit dem dreizehnten Jahrhundert infolge der mit der Tatarenherrschaft er¬
folgten Verschiebung des politischen Schwerpunkts von Kiew nach Moskau.
Ohne diese Verschiebung wäre Rußland heute ein großes, demokratisches Bauern-
reich; deun die altrussische Verfassung war durchaus demokratisch. Das wurde
nun alles anders mit dem Übergewicht des Moskaner Großfürstentums, be¬
sonders seitdem Iwan der Dritte 1472 die Nichte des letzten byzantinischen
Kaisers als Gattin heimführte: der tatarisch-mongolische Despotismus vermählte
sich jetzt mit dem byzantinischen Cäsaropapismus, und die Frucht war das
Zarentum; Moskau wurde ein zweites Byzanz, der byzantinische Adler mit den
zwei Köpfen wurde das russische Wappen. Ist es zu verwundern, wenn mit
dem politischen auch das soziale Erbe von Byzanz auf Nußland überging?
Und wirklich sehen wir die Entwicklung der agrarischen Verhältnisse völlig in
byzantinische Bahnen einlenken: das uns schon bekannte System des Steucr-
zuschlags, also die gegenseitige Haftpflicht der Steuergemeindeu bot nach der
finanziellen Erschöpfung durch die Tntareuzeit eine willkommne Handhabe zur
Durchführung der Steuereintreibung. Das byzantinisch-türkische System der
Soldgüter wurde auf den Adel übertragen durch Schaffung von Adelsbezirkeu
mit einem Aufseher an der Spitze, der die militärischen Dienstverhältnisse der
einzelnen Adlichen zu regeln hatte, und diese erhielten als Lohn für den Dienst
eigne Krongüter samt den darauf sitzenden Bauern (Seelen). Hier liegt die
Quelle der Leibeigenschaft; denn im Interesse der Adlichen wie des Staates
lag es, daß die Bauern ein stabiles Element, kein fluktuierendes bildete". So
wurde, just wie im byzantinischen Reich des zwölften Jahrhunderts, im russischen
des sechzehnten die frühere Freizügigkeit erst eingeschränkt, dann von Boris
Godunow, dem von Puschkin verherrlichten Zaren, dessen Tragik seine Unter¬
werfung unter den Großadel war, völlig aufgehoben. Damit war die Gewalt
des Großgrundbesitzes über die Bauern begründet, und zwar noch fester als in
Byzanz; denn der Grundherr war nun auch der Gerichtsherr. Jetzt bildete sich
der widerwärtige Typus jenes byzantinisch-slawisch-rumänischen Bojaren heraus,
der der Fluch dieser Länder wurde, und der in neuerer Zeit in zahlreichen
russischen und rumänischen Romanen an den Pranger gestellt worden ist, am
klassischsteii wohl in Goutscharows "Oblomow", einer meisterhaften Verkörperung
jenes orientalischen Milieus der Langeweile, mit dem "Helden", der sein ganzes
Leben auf dem Sofa zubringt.*)

Der Fluch, den der russische Landadel über Rußland gebracht hatte, wirkte



Bgl. Sonntagsbeilage 1Ä)7, Ur, 4"! Soziale Gegensätze im russischen und französische"
Roman.
Adel und Lauern in Gsteuropc>

weiter nichts sind als wörtliche Übertragungen ans dem Griechischen. Was
folgt nun daraus? Jedenfalls so viel, daß die spätbyzantinischen Agrnrver-
hältnisse vorbildlich geworden sind für die russischen, naturlich erst, nachdem sich
auch in Rußland ähnliche Zustände herausgebildet hatten. Das geschah aber
erst seit dem dreizehnten Jahrhundert infolge der mit der Tatarenherrschaft er¬
folgten Verschiebung des politischen Schwerpunkts von Kiew nach Moskau.
Ohne diese Verschiebung wäre Rußland heute ein großes, demokratisches Bauern-
reich; deun die altrussische Verfassung war durchaus demokratisch. Das wurde
nun alles anders mit dem Übergewicht des Moskaner Großfürstentums, be¬
sonders seitdem Iwan der Dritte 1472 die Nichte des letzten byzantinischen
Kaisers als Gattin heimführte: der tatarisch-mongolische Despotismus vermählte
sich jetzt mit dem byzantinischen Cäsaropapismus, und die Frucht war das
Zarentum; Moskau wurde ein zweites Byzanz, der byzantinische Adler mit den
zwei Köpfen wurde das russische Wappen. Ist es zu verwundern, wenn mit
dem politischen auch das soziale Erbe von Byzanz auf Nußland überging?
Und wirklich sehen wir die Entwicklung der agrarischen Verhältnisse völlig in
byzantinische Bahnen einlenken: das uns schon bekannte System des Steucr-
zuschlags, also die gegenseitige Haftpflicht der Steuergemeindeu bot nach der
finanziellen Erschöpfung durch die Tntareuzeit eine willkommne Handhabe zur
Durchführung der Steuereintreibung. Das byzantinisch-türkische System der
Soldgüter wurde auf den Adel übertragen durch Schaffung von Adelsbezirkeu
mit einem Aufseher an der Spitze, der die militärischen Dienstverhältnisse der
einzelnen Adlichen zu regeln hatte, und diese erhielten als Lohn für den Dienst
eigne Krongüter samt den darauf sitzenden Bauern (Seelen). Hier liegt die
Quelle der Leibeigenschaft; denn im Interesse der Adlichen wie des Staates
lag es, daß die Bauern ein stabiles Element, kein fluktuierendes bildete». So
wurde, just wie im byzantinischen Reich des zwölften Jahrhunderts, im russischen
des sechzehnten die frühere Freizügigkeit erst eingeschränkt, dann von Boris
Godunow, dem von Puschkin verherrlichten Zaren, dessen Tragik seine Unter¬
werfung unter den Großadel war, völlig aufgehoben. Damit war die Gewalt
des Großgrundbesitzes über die Bauern begründet, und zwar noch fester als in
Byzanz; denn der Grundherr war nun auch der Gerichtsherr. Jetzt bildete sich
der widerwärtige Typus jenes byzantinisch-slawisch-rumänischen Bojaren heraus,
der der Fluch dieser Länder wurde, und der in neuerer Zeit in zahlreichen
russischen und rumänischen Romanen an den Pranger gestellt worden ist, am
klassischsteii wohl in Goutscharows „Oblomow", einer meisterhaften Verkörperung
jenes orientalischen Milieus der Langeweile, mit dem „Helden", der sein ganzes
Leben auf dem Sofa zubringt.*)

Der Fluch, den der russische Landadel über Rußland gebracht hatte, wirkte



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Roman.
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[0368] Adel und Lauern in Gsteuropc> weiter nichts sind als wörtliche Übertragungen ans dem Griechischen. Was folgt nun daraus? Jedenfalls so viel, daß die spätbyzantinischen Agrnrver- hältnisse vorbildlich geworden sind für die russischen, naturlich erst, nachdem sich auch in Rußland ähnliche Zustände herausgebildet hatten. Das geschah aber erst seit dem dreizehnten Jahrhundert infolge der mit der Tatarenherrschaft er¬ folgten Verschiebung des politischen Schwerpunkts von Kiew nach Moskau. Ohne diese Verschiebung wäre Rußland heute ein großes, demokratisches Bauern- reich; deun die altrussische Verfassung war durchaus demokratisch. Das wurde nun alles anders mit dem Übergewicht des Moskaner Großfürstentums, be¬ sonders seitdem Iwan der Dritte 1472 die Nichte des letzten byzantinischen Kaisers als Gattin heimführte: der tatarisch-mongolische Despotismus vermählte sich jetzt mit dem byzantinischen Cäsaropapismus, und die Frucht war das Zarentum; Moskau wurde ein zweites Byzanz, der byzantinische Adler mit den zwei Köpfen wurde das russische Wappen. Ist es zu verwundern, wenn mit dem politischen auch das soziale Erbe von Byzanz auf Nußland überging? Und wirklich sehen wir die Entwicklung der agrarischen Verhältnisse völlig in byzantinische Bahnen einlenken: das uns schon bekannte System des Steucr- zuschlags, also die gegenseitige Haftpflicht der Steuergemeindeu bot nach der finanziellen Erschöpfung durch die Tntareuzeit eine willkommne Handhabe zur Durchführung der Steuereintreibung. Das byzantinisch-türkische System der Soldgüter wurde auf den Adel übertragen durch Schaffung von Adelsbezirkeu mit einem Aufseher an der Spitze, der die militärischen Dienstverhältnisse der einzelnen Adlichen zu regeln hatte, und diese erhielten als Lohn für den Dienst eigne Krongüter samt den darauf sitzenden Bauern (Seelen). Hier liegt die Quelle der Leibeigenschaft; denn im Interesse der Adlichen wie des Staates lag es, daß die Bauern ein stabiles Element, kein fluktuierendes bildete». So wurde, just wie im byzantinischen Reich des zwölften Jahrhunderts, im russischen des sechzehnten die frühere Freizügigkeit erst eingeschränkt, dann von Boris Godunow, dem von Puschkin verherrlichten Zaren, dessen Tragik seine Unter¬ werfung unter den Großadel war, völlig aufgehoben. Damit war die Gewalt des Großgrundbesitzes über die Bauern begründet, und zwar noch fester als in Byzanz; denn der Grundherr war nun auch der Gerichtsherr. Jetzt bildete sich der widerwärtige Typus jenes byzantinisch-slawisch-rumänischen Bojaren heraus, der der Fluch dieser Länder wurde, und der in neuerer Zeit in zahlreichen russischen und rumänischen Romanen an den Pranger gestellt worden ist, am klassischsteii wohl in Goutscharows „Oblomow", einer meisterhaften Verkörperung jenes orientalischen Milieus der Langeweile, mit dem „Helden", der sein ganzes Leben auf dem Sofa zubringt.*) Der Fluch, den der russische Landadel über Rußland gebracht hatte, wirkte Bgl. Sonntagsbeilage 1Ä)7, Ur, 4»! Soziale Gegensätze im russischen und französische» Roman.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/368>, abgerufen am 22.07.2024.