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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Neues von Wundt

die Quantität, auf die Qualität kommt es an: eine Vielzahl guter Götter würde
von höherm religiösem Werte sein als ein schlechter Gott, auch wenn dieser den
Vorzug haben sollte, der einzige zu sein.

Der dritte Abschnitt behandelt die aus dem ursprünglichen Seclentult
hervorgehenden Kultformen: Animalismus, besonders in der Form des
Totcmismus, und Manismus (Ahnenkult). Beide sind nicht Ursachen sondern
Wirkungen der sozialen Organisation; eine solche mußte vorausgehn, "ehe das
Seeleutier in die genealogische Form des Ahnentiers übergehn konnte". Die
Ableitung der Menschen von Tieren ist das erste Erzeugnis mythenbildender
Phantasietütigkeit; nicht mit Kosmogenien, sondern mit Anthropogenien beginnt
diese. Diese Ahnentiere sind heilig, unverletzlich, Tabu, und aus dem Tabu
entwickeln sich die Reinigungs- und Sühnungsriten, die Berührung oder un¬
erlaubte Verwendung eines durch das Tabu geschützten Gegenstandes zieht
Strafe uach sich, und die Furcht vor dieser veredelt sich später zu den Ge¬
fühlen der Ehrfurcht und des Abscheus. Das Tabu leitet zur Askese über.
Der Kannibalismus wird auch von Wundt nicht als eine Äußerung der
Roheit aufgefaßt, sondern als ein Brauch, durch den man sich die Eigen¬
schaften und Kräfte des in den eignen Leib aufgenommenen anzueignen ge¬
denkt; natürlich hängt er auch mit dem Menschenopfer zusammen. Der vierte
Abschnitt ist den Dämonen im allgemeinen, den Spukdämonen, den Krankheits¬
dämonen und dem Hexenglauben, den Vegetations- und Schutzdämonen ge¬
widmet. Der Hexenwcchu und "die Untersuchung der besondern geschichtlichen
Vcdinguugeu dieser durch Jahrhunderte dauernden und über alle Kreise, vom
Bauern bis zum gelehrten Kleriker und Juristen ausgebreiteten und bisweilen
selbst den Naturforscher nicht vcrschoueuden Geistesepidemie" rechnet Wundt
zu deu Aufgaben nicht der Völkerpsychologie, soudern der Kulturgeschichte und
erinnert nur daran, daß in der christlichen Zeit der alte Aberglaube durch deu
Teufel seine besondre Färbung empfing, "die Dämonengestalt, die in der
christlichen Kosmologie und Eschatologie eine so große Rolle spielt".

Wundes Ansicht über das Verhältnis der Mythologie zur Religion haben
wir, wie erwähnt wurde, erst an, Schlüsse des "Bandes" zu erwarten, können
uus also noch nicht mit ihm darüber auseinandersetzen; aber da im vor¬
liegenden Buche dieses Verhältnis doch öfter gestreift wird, dürfen wir Wohl
jetzt schon einige Bemerkungen wagen. Wundt bezeichnet die jüdische Prophetie
als das am meisten charakteristische Beispiel für das Gebiet der visionären
und ekstatischen Erscheinungen, aber es ist nicht bloß dieses, sondern eine
einzigartige, nirgends sonst in der Weltgeschichte vorgekommne Erscheinung
von solcher Bedeutung für die Kulturentwicklung und für unser geistiges Leben,
daß wir berechtigt sind, darin eine besondre Veranstaltung Gottes zum Heile
der ganzen Menschheit zu sehen. Mögen darum immerhin die Visionen dieser
Männer, physiologisch betrachtet, nichts andres als Hcilluzinationen gewesen
sein, so hat sich doch Gott dieser Erregung ihrer Sinnesorgane bedient, um


Neues von Wundt

die Quantität, auf die Qualität kommt es an: eine Vielzahl guter Götter würde
von höherm religiösem Werte sein als ein schlechter Gott, auch wenn dieser den
Vorzug haben sollte, der einzige zu sein.

Der dritte Abschnitt behandelt die aus dem ursprünglichen Seclentult
hervorgehenden Kultformen: Animalismus, besonders in der Form des
Totcmismus, und Manismus (Ahnenkult). Beide sind nicht Ursachen sondern
Wirkungen der sozialen Organisation; eine solche mußte vorausgehn, „ehe das
Seeleutier in die genealogische Form des Ahnentiers übergehn konnte". Die
Ableitung der Menschen von Tieren ist das erste Erzeugnis mythenbildender
Phantasietütigkeit; nicht mit Kosmogenien, sondern mit Anthropogenien beginnt
diese. Diese Ahnentiere sind heilig, unverletzlich, Tabu, und aus dem Tabu
entwickeln sich die Reinigungs- und Sühnungsriten, die Berührung oder un¬
erlaubte Verwendung eines durch das Tabu geschützten Gegenstandes zieht
Strafe uach sich, und die Furcht vor dieser veredelt sich später zu den Ge¬
fühlen der Ehrfurcht und des Abscheus. Das Tabu leitet zur Askese über.
Der Kannibalismus wird auch von Wundt nicht als eine Äußerung der
Roheit aufgefaßt, sondern als ein Brauch, durch den man sich die Eigen¬
schaften und Kräfte des in den eignen Leib aufgenommenen anzueignen ge¬
denkt; natürlich hängt er auch mit dem Menschenopfer zusammen. Der vierte
Abschnitt ist den Dämonen im allgemeinen, den Spukdämonen, den Krankheits¬
dämonen und dem Hexenglauben, den Vegetations- und Schutzdämonen ge¬
widmet. Der Hexenwcchu und „die Untersuchung der besondern geschichtlichen
Vcdinguugeu dieser durch Jahrhunderte dauernden und über alle Kreise, vom
Bauern bis zum gelehrten Kleriker und Juristen ausgebreiteten und bisweilen
selbst den Naturforscher nicht vcrschoueuden Geistesepidemie" rechnet Wundt
zu deu Aufgaben nicht der Völkerpsychologie, soudern der Kulturgeschichte und
erinnert nur daran, daß in der christlichen Zeit der alte Aberglaube durch deu
Teufel seine besondre Färbung empfing, „die Dämonengestalt, die in der
christlichen Kosmologie und Eschatologie eine so große Rolle spielt".

Wundes Ansicht über das Verhältnis der Mythologie zur Religion haben
wir, wie erwähnt wurde, erst an, Schlüsse des „Bandes" zu erwarten, können
uus also noch nicht mit ihm darüber auseinandersetzen; aber da im vor¬
liegenden Buche dieses Verhältnis doch öfter gestreift wird, dürfen wir Wohl
jetzt schon einige Bemerkungen wagen. Wundt bezeichnet die jüdische Prophetie
als das am meisten charakteristische Beispiel für das Gebiet der visionären
und ekstatischen Erscheinungen, aber es ist nicht bloß dieses, sondern eine
einzigartige, nirgends sonst in der Weltgeschichte vorgekommne Erscheinung
von solcher Bedeutung für die Kulturentwicklung und für unser geistiges Leben,
daß wir berechtigt sind, darin eine besondre Veranstaltung Gottes zum Heile
der ganzen Menschheit zu sehen. Mögen darum immerhin die Visionen dieser
Männer, physiologisch betrachtet, nichts andres als Hcilluzinationen gewesen
sein, so hat sich doch Gott dieser Erregung ihrer Sinnesorgane bedient, um


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[0336] Neues von Wundt die Quantität, auf die Qualität kommt es an: eine Vielzahl guter Götter würde von höherm religiösem Werte sein als ein schlechter Gott, auch wenn dieser den Vorzug haben sollte, der einzige zu sein. Der dritte Abschnitt behandelt die aus dem ursprünglichen Seclentult hervorgehenden Kultformen: Animalismus, besonders in der Form des Totcmismus, und Manismus (Ahnenkult). Beide sind nicht Ursachen sondern Wirkungen der sozialen Organisation; eine solche mußte vorausgehn, „ehe das Seeleutier in die genealogische Form des Ahnentiers übergehn konnte". Die Ableitung der Menschen von Tieren ist das erste Erzeugnis mythenbildender Phantasietütigkeit; nicht mit Kosmogenien, sondern mit Anthropogenien beginnt diese. Diese Ahnentiere sind heilig, unverletzlich, Tabu, und aus dem Tabu entwickeln sich die Reinigungs- und Sühnungsriten, die Berührung oder un¬ erlaubte Verwendung eines durch das Tabu geschützten Gegenstandes zieht Strafe uach sich, und die Furcht vor dieser veredelt sich später zu den Ge¬ fühlen der Ehrfurcht und des Abscheus. Das Tabu leitet zur Askese über. Der Kannibalismus wird auch von Wundt nicht als eine Äußerung der Roheit aufgefaßt, sondern als ein Brauch, durch den man sich die Eigen¬ schaften und Kräfte des in den eignen Leib aufgenommenen anzueignen ge¬ denkt; natürlich hängt er auch mit dem Menschenopfer zusammen. Der vierte Abschnitt ist den Dämonen im allgemeinen, den Spukdämonen, den Krankheits¬ dämonen und dem Hexenglauben, den Vegetations- und Schutzdämonen ge¬ widmet. Der Hexenwcchu und „die Untersuchung der besondern geschichtlichen Vcdinguugeu dieser durch Jahrhunderte dauernden und über alle Kreise, vom Bauern bis zum gelehrten Kleriker und Juristen ausgebreiteten und bisweilen selbst den Naturforscher nicht vcrschoueuden Geistesepidemie" rechnet Wundt zu deu Aufgaben nicht der Völkerpsychologie, soudern der Kulturgeschichte und erinnert nur daran, daß in der christlichen Zeit der alte Aberglaube durch deu Teufel seine besondre Färbung empfing, „die Dämonengestalt, die in der christlichen Kosmologie und Eschatologie eine so große Rolle spielt". Wundes Ansicht über das Verhältnis der Mythologie zur Religion haben wir, wie erwähnt wurde, erst an, Schlüsse des „Bandes" zu erwarten, können uus also noch nicht mit ihm darüber auseinandersetzen; aber da im vor¬ liegenden Buche dieses Verhältnis doch öfter gestreift wird, dürfen wir Wohl jetzt schon einige Bemerkungen wagen. Wundt bezeichnet die jüdische Prophetie als das am meisten charakteristische Beispiel für das Gebiet der visionären und ekstatischen Erscheinungen, aber es ist nicht bloß dieses, sondern eine einzigartige, nirgends sonst in der Weltgeschichte vorgekommne Erscheinung von solcher Bedeutung für die Kulturentwicklung und für unser geistiges Leben, daß wir berechtigt sind, darin eine besondre Veranstaltung Gottes zum Heile der ganzen Menschheit zu sehen. Mögen darum immerhin die Visionen dieser Männer, physiologisch betrachtet, nichts andres als Hcilluzinationen gewesen sein, so hat sich doch Gott dieser Erregung ihrer Sinnesorgane bedient, um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/336>, abgerufen am 22.07.2024.