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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Thackeray

mürrischen Bewußtseins einer ganzen Nation. Die Zeit der Diplomaten ist
für eine Weile vorüber, die der Arbeitermeetings beginnt. Revolutionäre
Ideen aller Schattierungen schwirren durch die Lust, dringen aus dem Munde
der Demagogen unter eine durch Teuerung und Besteuerung -- die Folge der
Kriegsschulden -- erbitterte Bevölkerung und füllen fünfunddreißig Jahre lang
die Spalten des Journals, worin der ehrliche, aber oft verblendete Cobbett
-- der Hund von England, wie ihn Heine nennt -- seinen Plänen für die
bessere Ernährung und Erziehung des Volkes in oft besonnener, öfter noch
verwegner Rede Luft macht. Ein getreuer Spiegel der Zeitbestrebungen, wird
die gesamte Literatur Englands von dem sozialen Fieber erfaßt. Vulwer ist
der erste, der mit seinem Spürblick, vielleicht auch etwas literarischen Geschäfts¬
sinn, das neue Problem dem Gebiete der schönen Kunst einverleibt, und nicht
lange dauert es, so hallen in jeder Stube und in jedem Palaste in England
die Worte wider, in denen die Genialität des Verfassers der Pickwickier und
des Oliver Toise die Leiden der Armen und Unterdrückten der Mit- und
Nachwelt rührend geschildert hat. Die Rousseauschen Ideen von der Einfalt
und ursprünglichen Güte der Natur und der fressenden Krankheit, die man
Zivilisation nennt, brechen sich, durch die Umstände begünstigt, sogar in dem
ihnen so feindlich gegenüberstehenden und von Haus aus fremden englischen
Geiste mehr und mehr Bahn, und da mau die Unmöglichkeit einer Wiederkehr
der Naturmenschen anerkennt, so substituiert man infolge einer recht äußerlichen
Anschauung den unentwickelten Menschen dafür oder gar mit deutlichem Pessi¬
mismus den verderbten, in dem sich die ursprünglichen Triebe am deutlichsten
äußern, und den die Zivilisation noch nicht mit ihrem Mellau belegt hat.
So wird die Geschichte des Menschen entweder ein Idyll, wie in den
optimistischen Romanen von Dickens und George Sand, oder ein romantisch¬
pessimistisches Heldengedicht, wie in Engen Aram, Paul Clifford und der ganzen
Reihe von Romanen, in denen der geniale Verbrecher, vom Schimmer einer
ritterlichen Romantik umstrahlt, der Bewunderung einer verbitterten Gesellschaft
entgegenkommt.

Es konnte nicht fehlen, daß sich in der Literatur eine Strömung gegen
solche gleichsam revolutionäre Tendenzen geltend machte, daß sich die Besonnen¬
heit einer reifern Weltanschauung dem Ungestüm der Philosophen entgegen¬
setzte. Obenan unter denen, die sich dieser Strömung entgegenstemmten, stand
Thackeray. Ich sagte, daß er gleichsam eine Verkörperung des achtzehnten
Jahrhunderts im neunzehnten sei, ich muß jetzt hinzusetzen, daß das englische
Leben in der Zeit Georgs des Vierten, in die die aufnahmefähigste, keimen¬
reichste Periode seines Lebens fällt, einer solchen Verkörperung gleicht. Die
Atmosphäre, in der er atmet, und aus der er seine Nahrung sog, war eine
Art Renaissance, eine Strömung, die sich zu der angedeuteten wie höfische
Poesie zu der volkstümlichen verhält, in ihrem innersten Wesen altertümelnd,
formell, mit einer Sehnsucht nach dem Flitter und Duft der entschwundnen


Thackeray

mürrischen Bewußtseins einer ganzen Nation. Die Zeit der Diplomaten ist
für eine Weile vorüber, die der Arbeitermeetings beginnt. Revolutionäre
Ideen aller Schattierungen schwirren durch die Lust, dringen aus dem Munde
der Demagogen unter eine durch Teuerung und Besteuerung — die Folge der
Kriegsschulden — erbitterte Bevölkerung und füllen fünfunddreißig Jahre lang
die Spalten des Journals, worin der ehrliche, aber oft verblendete Cobbett
— der Hund von England, wie ihn Heine nennt — seinen Plänen für die
bessere Ernährung und Erziehung des Volkes in oft besonnener, öfter noch
verwegner Rede Luft macht. Ein getreuer Spiegel der Zeitbestrebungen, wird
die gesamte Literatur Englands von dem sozialen Fieber erfaßt. Vulwer ist
der erste, der mit seinem Spürblick, vielleicht auch etwas literarischen Geschäfts¬
sinn, das neue Problem dem Gebiete der schönen Kunst einverleibt, und nicht
lange dauert es, so hallen in jeder Stube und in jedem Palaste in England
die Worte wider, in denen die Genialität des Verfassers der Pickwickier und
des Oliver Toise die Leiden der Armen und Unterdrückten der Mit- und
Nachwelt rührend geschildert hat. Die Rousseauschen Ideen von der Einfalt
und ursprünglichen Güte der Natur und der fressenden Krankheit, die man
Zivilisation nennt, brechen sich, durch die Umstände begünstigt, sogar in dem
ihnen so feindlich gegenüberstehenden und von Haus aus fremden englischen
Geiste mehr und mehr Bahn, und da mau die Unmöglichkeit einer Wiederkehr
der Naturmenschen anerkennt, so substituiert man infolge einer recht äußerlichen
Anschauung den unentwickelten Menschen dafür oder gar mit deutlichem Pessi¬
mismus den verderbten, in dem sich die ursprünglichen Triebe am deutlichsten
äußern, und den die Zivilisation noch nicht mit ihrem Mellau belegt hat.
So wird die Geschichte des Menschen entweder ein Idyll, wie in den
optimistischen Romanen von Dickens und George Sand, oder ein romantisch¬
pessimistisches Heldengedicht, wie in Engen Aram, Paul Clifford und der ganzen
Reihe von Romanen, in denen der geniale Verbrecher, vom Schimmer einer
ritterlichen Romantik umstrahlt, der Bewunderung einer verbitterten Gesellschaft
entgegenkommt.

Es konnte nicht fehlen, daß sich in der Literatur eine Strömung gegen
solche gleichsam revolutionäre Tendenzen geltend machte, daß sich die Besonnen¬
heit einer reifern Weltanschauung dem Ungestüm der Philosophen entgegen¬
setzte. Obenan unter denen, die sich dieser Strömung entgegenstemmten, stand
Thackeray. Ich sagte, daß er gleichsam eine Verkörperung des achtzehnten
Jahrhunderts im neunzehnten sei, ich muß jetzt hinzusetzen, daß das englische
Leben in der Zeit Georgs des Vierten, in die die aufnahmefähigste, keimen¬
reichste Periode seines Lebens fällt, einer solchen Verkörperung gleicht. Die
Atmosphäre, in der er atmet, und aus der er seine Nahrung sog, war eine
Art Renaissance, eine Strömung, die sich zu der angedeuteten wie höfische
Poesie zu der volkstümlichen verhält, in ihrem innersten Wesen altertümelnd,
formell, mit einer Sehnsucht nach dem Flitter und Duft der entschwundnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/290>, abgerufen am 03.07.2024.