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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Thackeray

genug -- die derbe Kraft, die der Verfasser von Vanity ?air mit dem ge¬
waltigen Schilderer der Reisen Gullivers gemein hat. Vor allem aber zeigt
sich in Thackerays alles überragender Verstandeskraft der Parallelismus mit
dem, was wir unter den typischen Eigenschaften des achtzehnten Jahr¬
hunderts zu denken gewohnt sind. An blendender Originalität des Einfalls,
an Fülle der Empfindung, an Tiefe des Blicks in die Geheimnisse des Daseins
wird er von vielen seiner Zeitgenossen übertroffen; was die Schärfe des Witzes
und die graziöse Wendung betrifft, ist ihm Benjamin Disraeli überlegen, und
neben der hinreißenden Glut und Farbenpracht eines Dickens nimmt sich der
matte Ton seiner Darstellung ebenso unscheinbar aus wie eine Kreidezeichnung
gegen ein Bild von Correggio. Tennyson übertrifft ihn in der Meisterschaft,
womit er dem formenarmen, sinnlich armen englischen Idiom etwas von demi
warmen Glanz und rein melodischen Silberfall eines Troubadourliedes mit-
zuteilen versteht; Bulwer ist ihm an philosophischer Tiefe und Fülle der Ge¬
danken weit überlegen: in einem Punkte jedoch, der Schärfe des Verstandes,
der ruhigen Gelassenheit des abwägenden Urteils, der gerechten Prüfung eines
Arguments nach allen Seiten und Beziehungen, übertrifft er sie alle, so
zwar, daß man ihn darin, soweit dies die Verschiedenheit der Nationalität und
der Umstände zuläßt, mit Recht Goethe an die Seite setzen könnte.

Und so wie Goethe als ein wahrhaft kritischer Geist seinen Ruhm darin
suchte und fand, das Leben seiner Mitmenschen in ruhigere Bahnen zu lenken,
wie er vor allem mehr als die Genialität die Bildung eines Menschen pries,
das heißt die organische Aufnahme, das Durchdringen und Erfassen alles
dessen, was die Arbeit der Jahrhunderte Schönes und Bedeutendes geschaffen,
so liegt in einer ähnlichen Anlage und Richtung Thackerays Bedeutung
und -- Schwäche. Überschauen wir den Zeitraum der englischen Geschichte,
in den sein Leben füllt, die Periode vom Ausgang der napoleonischen Kriege
bis zu der zweiten Chartistenbewegung des Jahres 1848, so wird uns der
Parallelismus vollends klar. Was zu Goethes Zeiten die französische Revo¬
lution ist, dos ist jetzt die soziale Bewegung, die das Ausgehen des Regimes
Wellington, das Ministerium Grey und die erste große Wcihlreform des
Jahres 1832 einleitete. Allenthalben der Zweifel in das Bestehende, das
Verlangen nach durchgreifender sozialer Reform, der Aufschrei gegen die Un¬
gerechtigkeit einer verhaßten Gesellschaftsordnung. Die Ideen, die die französische
Revolution unter die Massen des englischen Volkes geworfen hat, sind eine
Zeit lang im Kricgslärm erstickt, und der Rauch, der die Schlachtfelder Deutsch¬
lands und Hollands bedeckt, hat sie verhüllt. Der wahnsinnige Haß und die
Logik des Antirevolutionärs Burke ist bis in die geheimen Konventikel der
Jakobiner gedrungen, die "Betrachtungen" über die Revolution haben den
"Menschenrechten" Paynes das Lebenslicht ausgeblasen.

Nun macht der Friede mit dem Welteroberer gleichsam alle diese Be¬
strebungen frei, und ungestüm pochen sie an die Tür des sozialen und Staats-


Thackeray

genug — die derbe Kraft, die der Verfasser von Vanity ?air mit dem ge¬
waltigen Schilderer der Reisen Gullivers gemein hat. Vor allem aber zeigt
sich in Thackerays alles überragender Verstandeskraft der Parallelismus mit
dem, was wir unter den typischen Eigenschaften des achtzehnten Jahr¬
hunderts zu denken gewohnt sind. An blendender Originalität des Einfalls,
an Fülle der Empfindung, an Tiefe des Blicks in die Geheimnisse des Daseins
wird er von vielen seiner Zeitgenossen übertroffen; was die Schärfe des Witzes
und die graziöse Wendung betrifft, ist ihm Benjamin Disraeli überlegen, und
neben der hinreißenden Glut und Farbenpracht eines Dickens nimmt sich der
matte Ton seiner Darstellung ebenso unscheinbar aus wie eine Kreidezeichnung
gegen ein Bild von Correggio. Tennyson übertrifft ihn in der Meisterschaft,
womit er dem formenarmen, sinnlich armen englischen Idiom etwas von demi
warmen Glanz und rein melodischen Silberfall eines Troubadourliedes mit-
zuteilen versteht; Bulwer ist ihm an philosophischer Tiefe und Fülle der Ge¬
danken weit überlegen: in einem Punkte jedoch, der Schärfe des Verstandes,
der ruhigen Gelassenheit des abwägenden Urteils, der gerechten Prüfung eines
Arguments nach allen Seiten und Beziehungen, übertrifft er sie alle, so
zwar, daß man ihn darin, soweit dies die Verschiedenheit der Nationalität und
der Umstände zuläßt, mit Recht Goethe an die Seite setzen könnte.

Und so wie Goethe als ein wahrhaft kritischer Geist seinen Ruhm darin
suchte und fand, das Leben seiner Mitmenschen in ruhigere Bahnen zu lenken,
wie er vor allem mehr als die Genialität die Bildung eines Menschen pries,
das heißt die organische Aufnahme, das Durchdringen und Erfassen alles
dessen, was die Arbeit der Jahrhunderte Schönes und Bedeutendes geschaffen,
so liegt in einer ähnlichen Anlage und Richtung Thackerays Bedeutung
und — Schwäche. Überschauen wir den Zeitraum der englischen Geschichte,
in den sein Leben füllt, die Periode vom Ausgang der napoleonischen Kriege
bis zu der zweiten Chartistenbewegung des Jahres 1848, so wird uns der
Parallelismus vollends klar. Was zu Goethes Zeiten die französische Revo¬
lution ist, dos ist jetzt die soziale Bewegung, die das Ausgehen des Regimes
Wellington, das Ministerium Grey und die erste große Wcihlreform des
Jahres 1832 einleitete. Allenthalben der Zweifel in das Bestehende, das
Verlangen nach durchgreifender sozialer Reform, der Aufschrei gegen die Un¬
gerechtigkeit einer verhaßten Gesellschaftsordnung. Die Ideen, die die französische
Revolution unter die Massen des englischen Volkes geworfen hat, sind eine
Zeit lang im Kricgslärm erstickt, und der Rauch, der die Schlachtfelder Deutsch¬
lands und Hollands bedeckt, hat sie verhüllt. Der wahnsinnige Haß und die
Logik des Antirevolutionärs Burke ist bis in die geheimen Konventikel der
Jakobiner gedrungen, die „Betrachtungen" über die Revolution haben den
„Menschenrechten" Paynes das Lebenslicht ausgeblasen.

Nun macht der Friede mit dem Welteroberer gleichsam alle diese Be¬
strebungen frei, und ungestüm pochen sie an die Tür des sozialen und Staats-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/289>, abgerufen am 22.07.2024.