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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Thackeray

Gewähr ihrer Lebensfähigkeit, und um paradox zu reden, ihr Unverstandensein
ein Beweis der Richtigkeit. Aber da jeder Fortschritt nur schrittweise und
schichtenweise ist, so bedarf es oft einer jahrhundertelangen Arbeit, damit die
neue Idee, der zukunftsvolle Gedanke des Philosophen, Dichters, Propheten
in dem kargen Erdreich Wurzel fasse und gedeihe.

Was den Menschen als ein Unbestimmtes, Geahntes vorschwebt, bedarf
der Klärung, Läuterung; was bisher als ein Ideal den ihrer Zeit voran-
geeilten vorschwebt, der Aufnahme und Verbreitung. Dieses Geschüft, die
eigentliche Kulturarbeit, fällt der andern Gruppe von Geistern zu, Männern,
die, wenn sie auf der einen Seite der elementaren Gewalt und genialen In¬
tuition entbehren, auf der andern Seite die ganze Ideenfülle früherer Ge¬
schlechter in sich aufnehmen, sie mit dem Maßstabe des kritischen Verstandes
sichten, erklären und beurteilen -- verbreiten. Es sind dies im eminenten
Sinne die kritischen Geister: Lessing, Voltaire und Goethe, und unter den
Engländern ein Goethe in vielem verwandter Geist -- der Humorist und
Satiriker Thackerah, eine Erscheinung, die um so merkwürdiger ist, als das
englische Leben mit seiner praktischen Richtung, der englische Charakter mit
seiner Abgeschlossenheit, seiner Abneigung gegen die bloße geistige Bildung,
seinem Mangel an künstlerischem Sinn für das Dasein, das er mehr in der
Fülle des Einzelnen als in der Harmonie des Ganzen sucht, solche kritische
Geister im weitesten Sinne des Wortes, wie sie vor allem der kosmopolitische
Sinn der Deutschen begünstigt, nicht leicht aufkommen läßt.

Man muß in die englische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts zurück¬
gehn, sich die schöngeistige Renaissance unter den Stuartkönigen vor die Sinne
führen, die Zeit, wo französische Sitte und Sprache am englischen Hofe
herrschten, und neben der tiefen Gelehrsamkeit eines Newton die neuesten Pas
einer Miß Bracegirdle bewundert wurden, wo in der Gesellschaft und Politik
ebenso humane wie liederliche Prinzipien vertreten wurden, wenn man sich
eine Vorstellung von dem Kreise der Anschauungen und Ideen machen will,
die Thackerays Persönlichkeit umfaßt; ja man könnte sagen, daß durch ihn
mitten im Getriebe der sozialen Kämpfe, die England im zweiten Viertel des
neunzehnten Jahrhunderts durchzumachen hatte, ein Stück des achtzehnten
Jahrhunderts wieder lebendig geworden sei, seiner Grazie und Humanität,
seines Mangels an handelnder Energie, seiner eklektischen Neigungen, seines
blutarmen Skeptizismus und seiner alles versöhnenden Toleranz. Aus den
Schriften Thackerays weht uns sozusagen eine Rokokoluft entgegen;*) wir
finden darin den fein nuancierten tändelnden Stil der Zeichnung einer Tapete
von Watteau, die kühle Eleganz einer Abhandlung des Spektators, den
trippelnden Schritt eines Gedichts von Congreve oder Prior und -- seltsam



*) Althaus, Englische Charakterbilder. I. Schmidt, Bilder aus dem geistigen Leben unserer
Zeit. Reinh. Pauli, Geschichte Englands von Ins bis 1848.
Thackeray

Gewähr ihrer Lebensfähigkeit, und um paradox zu reden, ihr Unverstandensein
ein Beweis der Richtigkeit. Aber da jeder Fortschritt nur schrittweise und
schichtenweise ist, so bedarf es oft einer jahrhundertelangen Arbeit, damit die
neue Idee, der zukunftsvolle Gedanke des Philosophen, Dichters, Propheten
in dem kargen Erdreich Wurzel fasse und gedeihe.

Was den Menschen als ein Unbestimmtes, Geahntes vorschwebt, bedarf
der Klärung, Läuterung; was bisher als ein Ideal den ihrer Zeit voran-
geeilten vorschwebt, der Aufnahme und Verbreitung. Dieses Geschüft, die
eigentliche Kulturarbeit, fällt der andern Gruppe von Geistern zu, Männern,
die, wenn sie auf der einen Seite der elementaren Gewalt und genialen In¬
tuition entbehren, auf der andern Seite die ganze Ideenfülle früherer Ge¬
schlechter in sich aufnehmen, sie mit dem Maßstabe des kritischen Verstandes
sichten, erklären und beurteilen — verbreiten. Es sind dies im eminenten
Sinne die kritischen Geister: Lessing, Voltaire und Goethe, und unter den
Engländern ein Goethe in vielem verwandter Geist — der Humorist und
Satiriker Thackerah, eine Erscheinung, die um so merkwürdiger ist, als das
englische Leben mit seiner praktischen Richtung, der englische Charakter mit
seiner Abgeschlossenheit, seiner Abneigung gegen die bloße geistige Bildung,
seinem Mangel an künstlerischem Sinn für das Dasein, das er mehr in der
Fülle des Einzelnen als in der Harmonie des Ganzen sucht, solche kritische
Geister im weitesten Sinne des Wortes, wie sie vor allem der kosmopolitische
Sinn der Deutschen begünstigt, nicht leicht aufkommen läßt.

Man muß in die englische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts zurück¬
gehn, sich die schöngeistige Renaissance unter den Stuartkönigen vor die Sinne
führen, die Zeit, wo französische Sitte und Sprache am englischen Hofe
herrschten, und neben der tiefen Gelehrsamkeit eines Newton die neuesten Pas
einer Miß Bracegirdle bewundert wurden, wo in der Gesellschaft und Politik
ebenso humane wie liederliche Prinzipien vertreten wurden, wenn man sich
eine Vorstellung von dem Kreise der Anschauungen und Ideen machen will,
die Thackerays Persönlichkeit umfaßt; ja man könnte sagen, daß durch ihn
mitten im Getriebe der sozialen Kämpfe, die England im zweiten Viertel des
neunzehnten Jahrhunderts durchzumachen hatte, ein Stück des achtzehnten
Jahrhunderts wieder lebendig geworden sei, seiner Grazie und Humanität,
seines Mangels an handelnder Energie, seiner eklektischen Neigungen, seines
blutarmen Skeptizismus und seiner alles versöhnenden Toleranz. Aus den
Schriften Thackerays weht uns sozusagen eine Rokokoluft entgegen;*) wir
finden darin den fein nuancierten tändelnden Stil der Zeichnung einer Tapete
von Watteau, die kühle Eleganz einer Abhandlung des Spektators, den
trippelnden Schritt eines Gedichts von Congreve oder Prior und — seltsam



*) Althaus, Englische Charakterbilder. I. Schmidt, Bilder aus dem geistigen Leben unserer
Zeit. Reinh. Pauli, Geschichte Englands von Ins bis 1848.
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[0288] Thackeray Gewähr ihrer Lebensfähigkeit, und um paradox zu reden, ihr Unverstandensein ein Beweis der Richtigkeit. Aber da jeder Fortschritt nur schrittweise und schichtenweise ist, so bedarf es oft einer jahrhundertelangen Arbeit, damit die neue Idee, der zukunftsvolle Gedanke des Philosophen, Dichters, Propheten in dem kargen Erdreich Wurzel fasse und gedeihe. Was den Menschen als ein Unbestimmtes, Geahntes vorschwebt, bedarf der Klärung, Läuterung; was bisher als ein Ideal den ihrer Zeit voran- geeilten vorschwebt, der Aufnahme und Verbreitung. Dieses Geschüft, die eigentliche Kulturarbeit, fällt der andern Gruppe von Geistern zu, Männern, die, wenn sie auf der einen Seite der elementaren Gewalt und genialen In¬ tuition entbehren, auf der andern Seite die ganze Ideenfülle früherer Ge¬ schlechter in sich aufnehmen, sie mit dem Maßstabe des kritischen Verstandes sichten, erklären und beurteilen — verbreiten. Es sind dies im eminenten Sinne die kritischen Geister: Lessing, Voltaire und Goethe, und unter den Engländern ein Goethe in vielem verwandter Geist — der Humorist und Satiriker Thackerah, eine Erscheinung, die um so merkwürdiger ist, als das englische Leben mit seiner praktischen Richtung, der englische Charakter mit seiner Abgeschlossenheit, seiner Abneigung gegen die bloße geistige Bildung, seinem Mangel an künstlerischem Sinn für das Dasein, das er mehr in der Fülle des Einzelnen als in der Harmonie des Ganzen sucht, solche kritische Geister im weitesten Sinne des Wortes, wie sie vor allem der kosmopolitische Sinn der Deutschen begünstigt, nicht leicht aufkommen läßt. Man muß in die englische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts zurück¬ gehn, sich die schöngeistige Renaissance unter den Stuartkönigen vor die Sinne führen, die Zeit, wo französische Sitte und Sprache am englischen Hofe herrschten, und neben der tiefen Gelehrsamkeit eines Newton die neuesten Pas einer Miß Bracegirdle bewundert wurden, wo in der Gesellschaft und Politik ebenso humane wie liederliche Prinzipien vertreten wurden, wenn man sich eine Vorstellung von dem Kreise der Anschauungen und Ideen machen will, die Thackerays Persönlichkeit umfaßt; ja man könnte sagen, daß durch ihn mitten im Getriebe der sozialen Kämpfe, die England im zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts durchzumachen hatte, ein Stück des achtzehnten Jahrhunderts wieder lebendig geworden sei, seiner Grazie und Humanität, seines Mangels an handelnder Energie, seiner eklektischen Neigungen, seines blutarmen Skeptizismus und seiner alles versöhnenden Toleranz. Aus den Schriften Thackerays weht uns sozusagen eine Rokokoluft entgegen;*) wir finden darin den fein nuancierten tändelnden Stil der Zeichnung einer Tapete von Watteau, die kühle Eleganz einer Abhandlung des Spektators, den trippelnden Schritt eines Gedichts von Congreve oder Prior und — seltsam *) Althaus, Englische Charakterbilder. I. Schmidt, Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit. Reinh. Pauli, Geschichte Englands von Ins bis 1848.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/288>, abgerufen am 22.07.2024.