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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die vinetasage

2

Zuerst drängt sich die Frage auf: Hat etwa in vorhistorischer Zeit -- und
das bedeutet für die hier in Betracht kommenden Gegenden: vor dem zehnten
Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung -- an der Ostseeküste wirklich ein größeres
Handelsemporium bestanden? Diese Frage kann nur dahin beantwortet werden,
daß es zum mindesten außerordentlich unwahrscheinlich ist. Denn wir wissen
heute, daß von der Ostsee alte Handelswege in die Länder griechischer Zunge und
nach dem Schwarzen Meere führten, und wir sehen aus den alten Schrift¬
stellern, daß die Griechen -- und natürlich auch die Römer -- durchaus nicht
ohne Kenntnis von den Völkern an den baltischen Gestaden waren. Und da
sollte nichts davon erwähnt oder überliefert sein, daß im Gebiet dieser noch
wenig von der Kultur berührten, einfachen Tauschhandel treibenden Völker¬
schaften ein großer Handelsplatz, eine wirkliche Stadt lag? Das ist ganz un¬
glaublich. Wir können also annehmen, daß keine der Ansiedlungen im Ost¬
seegebiet über den Durchschnitt hervorragte, der durch die bescheidne Kultur
der wendischen Völker und die Unfertigkeit ihrer sozialen Einrichtungen gegeben
war. Auch die Nordgermanen auf der andern Seite der Ostsee hatten den
Wikingergeist der alten Zeiten noch nicht in feste, staatliche Formen gebannt. In
Frieden oder Fehde hausten zahlreiche kleine Könige mit ihren Stämmen auf den
dänischen Inseln und in Südschweden nebeneinander. Gelegentlich hatten zwar
einzelne dieser Könige eine größere Macht erworben und ihre Mitkönige unter¬
worfen oder vertrieben. So geschah es, als der jüdische König Göttrik seine
Herrschaft über die dänischen Inseln ausdehnte, den Sachsen in ihrem Kampfe
gegen Karl den Großen einen Rückhalt gewährt hatte und deshalb von dem
mächtigen Beherrscher des Frankenreichs bekriegt wurde. In dem Maße als
die Bedrohung des heidnischen germanischen Nordens durch das Frankenreich
aufhörte, schwand auch wieder das Bedürfnis der dänischen Stämme nach staat¬
licher Einigung, um erst aufs neue zu erwachen, als das kraftvolle Geschlecht
der Sachsenherzöge die deutsche Königskrone trug und die östliche Hälfte des
alten Frankenreichs zu einer neuen Machthöhe emporführte. So erscheint erst
ein Zeitgenosse Heinrichs des Ersten und Ottos des Großen, der seelündische
Häuptling Gora der Alte, als Begründer einer dauernden Vereinigung der
dänischen Stämme und als der erste in einer nun ununterbrochnem Reihe von
dänischen Königen.

Ein wenig später, aber unter der Einwirkung derselben Ursachen, finden
wir eine ähnliche Entwicklung auch bei den slawischen Nachbarn des deutschen
Reichs, die sich gegen die Mitte des zehnten Jahrhunderts erst zu sehr be¬
scheidnen Anfängen politischer Organisation hindurchgearbeitet hatten. Das
junge deutsche Reich reckte eben damals ganz gewaltig die Glieder. Die von
Karl dem Großen angeregte Idee der politischen und nationalen Ausbreitung
im Namen des Christentums hatte, nachdem Heinrich der Erste die Slawen
östlich von Elbe und Saale gezüchtigt und die sächsisch-thüringischen Marken


Die vinetasage

2

Zuerst drängt sich die Frage auf: Hat etwa in vorhistorischer Zeit — und
das bedeutet für die hier in Betracht kommenden Gegenden: vor dem zehnten
Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung — an der Ostseeküste wirklich ein größeres
Handelsemporium bestanden? Diese Frage kann nur dahin beantwortet werden,
daß es zum mindesten außerordentlich unwahrscheinlich ist. Denn wir wissen
heute, daß von der Ostsee alte Handelswege in die Länder griechischer Zunge und
nach dem Schwarzen Meere führten, und wir sehen aus den alten Schrift¬
stellern, daß die Griechen — und natürlich auch die Römer — durchaus nicht
ohne Kenntnis von den Völkern an den baltischen Gestaden waren. Und da
sollte nichts davon erwähnt oder überliefert sein, daß im Gebiet dieser noch
wenig von der Kultur berührten, einfachen Tauschhandel treibenden Völker¬
schaften ein großer Handelsplatz, eine wirkliche Stadt lag? Das ist ganz un¬
glaublich. Wir können also annehmen, daß keine der Ansiedlungen im Ost¬
seegebiet über den Durchschnitt hervorragte, der durch die bescheidne Kultur
der wendischen Völker und die Unfertigkeit ihrer sozialen Einrichtungen gegeben
war. Auch die Nordgermanen auf der andern Seite der Ostsee hatten den
Wikingergeist der alten Zeiten noch nicht in feste, staatliche Formen gebannt. In
Frieden oder Fehde hausten zahlreiche kleine Könige mit ihren Stämmen auf den
dänischen Inseln und in Südschweden nebeneinander. Gelegentlich hatten zwar
einzelne dieser Könige eine größere Macht erworben und ihre Mitkönige unter¬
worfen oder vertrieben. So geschah es, als der jüdische König Göttrik seine
Herrschaft über die dänischen Inseln ausdehnte, den Sachsen in ihrem Kampfe
gegen Karl den Großen einen Rückhalt gewährt hatte und deshalb von dem
mächtigen Beherrscher des Frankenreichs bekriegt wurde. In dem Maße als
die Bedrohung des heidnischen germanischen Nordens durch das Frankenreich
aufhörte, schwand auch wieder das Bedürfnis der dänischen Stämme nach staat¬
licher Einigung, um erst aufs neue zu erwachen, als das kraftvolle Geschlecht
der Sachsenherzöge die deutsche Königskrone trug und die östliche Hälfte des
alten Frankenreichs zu einer neuen Machthöhe emporführte. So erscheint erst
ein Zeitgenosse Heinrichs des Ersten und Ottos des Großen, der seelündische
Häuptling Gora der Alte, als Begründer einer dauernden Vereinigung der
dänischen Stämme und als der erste in einer nun ununterbrochnem Reihe von
dänischen Königen.

Ein wenig später, aber unter der Einwirkung derselben Ursachen, finden
wir eine ähnliche Entwicklung auch bei den slawischen Nachbarn des deutschen
Reichs, die sich gegen die Mitte des zehnten Jahrhunderts erst zu sehr be¬
scheidnen Anfängen politischer Organisation hindurchgearbeitet hatten. Das
junge deutsche Reich reckte eben damals ganz gewaltig die Glieder. Die von
Karl dem Großen angeregte Idee der politischen und nationalen Ausbreitung
im Namen des Christentums hatte, nachdem Heinrich der Erste die Slawen
östlich von Elbe und Saale gezüchtigt und die sächsisch-thüringischen Marken


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[0026] Die vinetasage 2 Zuerst drängt sich die Frage auf: Hat etwa in vorhistorischer Zeit — und das bedeutet für die hier in Betracht kommenden Gegenden: vor dem zehnten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung — an der Ostseeküste wirklich ein größeres Handelsemporium bestanden? Diese Frage kann nur dahin beantwortet werden, daß es zum mindesten außerordentlich unwahrscheinlich ist. Denn wir wissen heute, daß von der Ostsee alte Handelswege in die Länder griechischer Zunge und nach dem Schwarzen Meere führten, und wir sehen aus den alten Schrift¬ stellern, daß die Griechen — und natürlich auch die Römer — durchaus nicht ohne Kenntnis von den Völkern an den baltischen Gestaden waren. Und da sollte nichts davon erwähnt oder überliefert sein, daß im Gebiet dieser noch wenig von der Kultur berührten, einfachen Tauschhandel treibenden Völker¬ schaften ein großer Handelsplatz, eine wirkliche Stadt lag? Das ist ganz un¬ glaublich. Wir können also annehmen, daß keine der Ansiedlungen im Ost¬ seegebiet über den Durchschnitt hervorragte, der durch die bescheidne Kultur der wendischen Völker und die Unfertigkeit ihrer sozialen Einrichtungen gegeben war. Auch die Nordgermanen auf der andern Seite der Ostsee hatten den Wikingergeist der alten Zeiten noch nicht in feste, staatliche Formen gebannt. In Frieden oder Fehde hausten zahlreiche kleine Könige mit ihren Stämmen auf den dänischen Inseln und in Südschweden nebeneinander. Gelegentlich hatten zwar einzelne dieser Könige eine größere Macht erworben und ihre Mitkönige unter¬ worfen oder vertrieben. So geschah es, als der jüdische König Göttrik seine Herrschaft über die dänischen Inseln ausdehnte, den Sachsen in ihrem Kampfe gegen Karl den Großen einen Rückhalt gewährt hatte und deshalb von dem mächtigen Beherrscher des Frankenreichs bekriegt wurde. In dem Maße als die Bedrohung des heidnischen germanischen Nordens durch das Frankenreich aufhörte, schwand auch wieder das Bedürfnis der dänischen Stämme nach staat¬ licher Einigung, um erst aufs neue zu erwachen, als das kraftvolle Geschlecht der Sachsenherzöge die deutsche Königskrone trug und die östliche Hälfte des alten Frankenreichs zu einer neuen Machthöhe emporführte. So erscheint erst ein Zeitgenosse Heinrichs des Ersten und Ottos des Großen, der seelündische Häuptling Gora der Alte, als Begründer einer dauernden Vereinigung der dänischen Stämme und als der erste in einer nun ununterbrochnem Reihe von dänischen Königen. Ein wenig später, aber unter der Einwirkung derselben Ursachen, finden wir eine ähnliche Entwicklung auch bei den slawischen Nachbarn des deutschen Reichs, die sich gegen die Mitte des zehnten Jahrhunderts erst zu sehr be¬ scheidnen Anfängen politischer Organisation hindurchgearbeitet hatten. Das junge deutsche Reich reckte eben damals ganz gewaltig die Glieder. Die von Karl dem Großen angeregte Idee der politischen und nationalen Ausbreitung im Namen des Christentums hatte, nachdem Heinrich der Erste die Slawen östlich von Elbe und Saale gezüchtigt und die sächsisch-thüringischen Marken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/26>, abgerufen am 22.07.2024.