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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die vinetasage

auf die Stätte herabzog. Das ist eben ein immer wiederkehrendes Motiv
unsrer Sagenwelt, wo immer nur das Walten der Natur den Anlaß dazu bot.
So gaben die Erscheinungen der eigentümlichen Hochmoore in der Rhön, der
Kraterseen in der Eifel und ähnliches den Anstoß zu den vielen und mannig¬
faltigen Erzählungen von versunkner Dörfern, und so haben anch die Meeres¬
küsten ihre Sagen von ganzen Ortschaften, die der Flut zum Opfer fielen.
Und wirklich reißt bekanntlich die Ostsee jahraus jahrein ein Stück von unsrer
Küste ab. Wenn sich heute ein fremder Besucher über die mehrfachen Gürtel
von sandigen Untiefen wundert, die unsre heimische Ostseeküste fast überall be¬
gleiten, dann Pflegen alte Fischer gern zu erzählen, wie zu ihrer Großväter
Zeiten die Leute an denselben Stellen, wo jetzt das Meer flutet, auf festen
Wegen von einem Küstenort zum andern mit Wagen fuhren. Das bekannteste
Zeugnis für diese zerstörende Tätigkeit des Meeres ist das Kirchdorf Hof an
der hinterpommerschen Küste. Einst lag die Kirche von Hof inmitten des auf
sicherm Grunde stehenden Dorfes. Aber näher und näher rückte das Meer
heran, ein Stück nach dem andern der lehmigen Steilküste stürzte und rutschte
hinab, dann stand die Kirche einsam am steil abfallenden Rande, für den
gottesdienstlichen Gebrauch mußte sie geschlossen werden, bald ist sie ganz dem
Untergange geweiht. Nur noch kurze Zeit, und ihre zerfallenden Trümmer
werden krachend hinabstürzen in die gierige Flut.

Es bedarf also keiner besondern Erklärung, daß die Phantasie der Küsten¬
bewohner der Ostsee erfüllt ist von der Vorstellung verschwundner Ortschaften,
die das Meer einst hinweggespült hat. Die Sandriffe werden ihnen zu ehe¬
maligen Landstraßen längs der Küste, die Häufungen von Wanderblöcken, die
sich in den Riffen stellenweise finden, zu Resten alter Gebäude und Stadt¬
mauern. Und von diesen Anfängen aus spinnt die Phantasie ihren Faden
weiter und erzählt von dem göttlichen Strafgericht, das hereinbrach, als das
alles noch festes Land war. Dann klingen wohl dem Erzähler an stillen
Abenden dumpfe, feierliche Töne aus dem Meer entgegen, wie ferne, gedämpfte
Orgel- und Glockenklange -- die Stimmen versunkner Kirchen! Es sind ge¬
heimnisvolle Klänge, wie man sie gelegentlich wohl überall hört, wo ein ein¬
töniges Rauschen im Wald oder im Meer unter dem Einfluß gewisser Luft¬
bewegungen sich zu langen, regelmäßigen Schwingungen ordnet, die den ge¬
wohnten Klang in tiefen, harmonischen Untertönen begleiten. Auch das Fest¬
land kennt den Glockenton der verzauberten Kirche, der den Wald durchklingt
und die Seele mit wunderbarer Sehnsucht erfüllt.

Wir sehen also, wie sich an der pommerschen Küste die Sage von der
versunkner Stadt in einer Form entwickeln konnte, die schon alle Hauptmotive
der Dichtung enthält. Woher aber der Name "Vineta" und alle die konkreten,
an historische Vorgänge erinnernden Züge, mit denen die Sage sonst noch
ausgestattet ist? Hier verlassen wir zunächst ganz das Gebiet der Sage; die
nüchterne Geschichtsforschung tritt in ihr Recht.


Grenzboten 1 1908 3
Die vinetasage

auf die Stätte herabzog. Das ist eben ein immer wiederkehrendes Motiv
unsrer Sagenwelt, wo immer nur das Walten der Natur den Anlaß dazu bot.
So gaben die Erscheinungen der eigentümlichen Hochmoore in der Rhön, der
Kraterseen in der Eifel und ähnliches den Anstoß zu den vielen und mannig¬
faltigen Erzählungen von versunkner Dörfern, und so haben anch die Meeres¬
küsten ihre Sagen von ganzen Ortschaften, die der Flut zum Opfer fielen.
Und wirklich reißt bekanntlich die Ostsee jahraus jahrein ein Stück von unsrer
Küste ab. Wenn sich heute ein fremder Besucher über die mehrfachen Gürtel
von sandigen Untiefen wundert, die unsre heimische Ostseeküste fast überall be¬
gleiten, dann Pflegen alte Fischer gern zu erzählen, wie zu ihrer Großväter
Zeiten die Leute an denselben Stellen, wo jetzt das Meer flutet, auf festen
Wegen von einem Küstenort zum andern mit Wagen fuhren. Das bekannteste
Zeugnis für diese zerstörende Tätigkeit des Meeres ist das Kirchdorf Hof an
der hinterpommerschen Küste. Einst lag die Kirche von Hof inmitten des auf
sicherm Grunde stehenden Dorfes. Aber näher und näher rückte das Meer
heran, ein Stück nach dem andern der lehmigen Steilküste stürzte und rutschte
hinab, dann stand die Kirche einsam am steil abfallenden Rande, für den
gottesdienstlichen Gebrauch mußte sie geschlossen werden, bald ist sie ganz dem
Untergange geweiht. Nur noch kurze Zeit, und ihre zerfallenden Trümmer
werden krachend hinabstürzen in die gierige Flut.

Es bedarf also keiner besondern Erklärung, daß die Phantasie der Küsten¬
bewohner der Ostsee erfüllt ist von der Vorstellung verschwundner Ortschaften,
die das Meer einst hinweggespült hat. Die Sandriffe werden ihnen zu ehe¬
maligen Landstraßen längs der Küste, die Häufungen von Wanderblöcken, die
sich in den Riffen stellenweise finden, zu Resten alter Gebäude und Stadt¬
mauern. Und von diesen Anfängen aus spinnt die Phantasie ihren Faden
weiter und erzählt von dem göttlichen Strafgericht, das hereinbrach, als das
alles noch festes Land war. Dann klingen wohl dem Erzähler an stillen
Abenden dumpfe, feierliche Töne aus dem Meer entgegen, wie ferne, gedämpfte
Orgel- und Glockenklange — die Stimmen versunkner Kirchen! Es sind ge¬
heimnisvolle Klänge, wie man sie gelegentlich wohl überall hört, wo ein ein¬
töniges Rauschen im Wald oder im Meer unter dem Einfluß gewisser Luft¬
bewegungen sich zu langen, regelmäßigen Schwingungen ordnet, die den ge¬
wohnten Klang in tiefen, harmonischen Untertönen begleiten. Auch das Fest¬
land kennt den Glockenton der verzauberten Kirche, der den Wald durchklingt
und die Seele mit wunderbarer Sehnsucht erfüllt.

Wir sehen also, wie sich an der pommerschen Küste die Sage von der
versunkner Stadt in einer Form entwickeln konnte, die schon alle Hauptmotive
der Dichtung enthält. Woher aber der Name „Vineta" und alle die konkreten,
an historische Vorgänge erinnernden Züge, mit denen die Sage sonst noch
ausgestattet ist? Hier verlassen wir zunächst ganz das Gebiet der Sage; die
nüchterne Geschichtsforschung tritt in ihr Recht.


Grenzboten 1 1908 3
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/25>, abgerufen am 22.07.2024.