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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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sozialdemokratische Agitation und Landbevölkerung

Durch den sozialdemokratischen Vertrauensmann scheint auch eine Art
Personalaustausch zu gehen. Seit einigen Jahren drängen sich ausgemergelte,
hyperanämische Konfirmanden aus der nahen Industriestadt zum Dienste bei den
Bauern. Hier bleiben sie zwei oder drei Jahre, dann gehn sie zurück in die
Stadt, meist als Maurer. "Du mußt dich bei den Bauern erst ein paar Jahre
gesundfressen", hört man nicht selten. Man stelle sich die Gemütsverfassung
der Bauern vor bei diesem Arbeitsmaterial: sozialdemokratisch verschrieben, ohne
landwirtschaftliche Kenntnisse und Erfahrungen, interesselos, sich auflodert
während der "Pensionsjahre".

Gegen all diese trüben Erscheinungen ist der Bauer im allgemeinen machtlos.
Manchmal bricht der turor rusticzus durch. So haben vor kurzem die Bauern
einen sozialdemokratischen Agitator, den sie in Qg.ZrWti ertappten, als er sich beim
Rübenhacken an einen Arbeiterzug machte, windelweich geschlagen. Selbstver¬
ständlich will dieser Akt der rohen Selbsthilfe nichts bedeuten gegen die offenbar fein
und planmäßig geleitete Organisation. Die gesetzlichen Vorschriften halten die
Genossen genau inne. Man weiß sehr wohl, daß beim Gesinde eine gewerk¬
schaftliche Organisation gesetzlich nicht möglich ist, das Koalitionsverbot der
Gesindeordnung respektiert man sehr korrekt, aber der Radfahrerverein, ander¬
wärts der Turnverein, arbeiten besser und geräuschloser.

Was ist dagegen zu tun? Die kleinen Mittel, etwa Ausmieten der sozial¬
demokratischen Elemente, Saalverbot usw., helfen von dem Augenblick an nicht
mehr, wo die Organisation vollzogn? Tatsache ist. Von der genossenschaftlichen
Selbsthilfe, die sich sonst auf dem Lande so bewährt hat, ist ebenfalls nichts
zu erwarten; die krassen Formen der Leutenot hindern jede Korporation der
Bauern. Vielleicht könnte man bei der Regelung der Vereinsgesetzgebung, die
ja gegenwärtig im Mittelpunkt der politischen Diskussion steht, die landwirt¬
schaftlichen Verhältnisse entsprechend berücksichtigen und den verkappten sozial¬
demokratischen Jugendvereinen etwas schärfer auf die Finger sehen. Ferner wird
zu erwägen sein, ob nicht die polizeilichen Verhältnisse auf dem Lande einer
Reorganisation bedürfen. Auch klagen die Bauern stark über die philanthropische
Milde der Gerichts- und Verwaltungsbehörden gegenüber Roheitsdelikten; die
Furcht vor sozialdemokratischer Pressebehandlung könnte auch aufhören. Mit
Polizeilicher Repressivmaßregeln allein ist freilich der Kern der Sache nicht be¬
rührt, der liegt in dem allzu frühen Schwinden jeder Autorität auf dem Lande.
Während der junge Mann der gebildeten Stände oft bis zum fünfundzwanzigsten
Lebensjahre durchaus gebunden ist an die Autorität des Elternhauses, der
Schule oder der Universität, des Berufs, der gesellschaftlichen Traditionen,
während in der Stadt durch die straffere Organisation der Fortbildungsschulen,
durch eine ganz anders geartete Form des Arbeitsverhältnisses, durch die größere
Anzahl der Gebildeten, durch die direkten Machtmittel der Polizei usw. der
junge Mann zur Anerkennung der autoritären Gewalt wenigstens bis zum
achtzehnten Lebensjahre gezwungen ist, hört auf rein agrarischen Dörfern diese


sozialdemokratische Agitation und Landbevölkerung

Durch den sozialdemokratischen Vertrauensmann scheint auch eine Art
Personalaustausch zu gehen. Seit einigen Jahren drängen sich ausgemergelte,
hyperanämische Konfirmanden aus der nahen Industriestadt zum Dienste bei den
Bauern. Hier bleiben sie zwei oder drei Jahre, dann gehn sie zurück in die
Stadt, meist als Maurer. „Du mußt dich bei den Bauern erst ein paar Jahre
gesundfressen", hört man nicht selten. Man stelle sich die Gemütsverfassung
der Bauern vor bei diesem Arbeitsmaterial: sozialdemokratisch verschrieben, ohne
landwirtschaftliche Kenntnisse und Erfahrungen, interesselos, sich auflodert
während der „Pensionsjahre".

Gegen all diese trüben Erscheinungen ist der Bauer im allgemeinen machtlos.
Manchmal bricht der turor rusticzus durch. So haben vor kurzem die Bauern
einen sozialdemokratischen Agitator, den sie in Qg.ZrWti ertappten, als er sich beim
Rübenhacken an einen Arbeiterzug machte, windelweich geschlagen. Selbstver¬
ständlich will dieser Akt der rohen Selbsthilfe nichts bedeuten gegen die offenbar fein
und planmäßig geleitete Organisation. Die gesetzlichen Vorschriften halten die
Genossen genau inne. Man weiß sehr wohl, daß beim Gesinde eine gewerk¬
schaftliche Organisation gesetzlich nicht möglich ist, das Koalitionsverbot der
Gesindeordnung respektiert man sehr korrekt, aber der Radfahrerverein, ander¬
wärts der Turnverein, arbeiten besser und geräuschloser.

Was ist dagegen zu tun? Die kleinen Mittel, etwa Ausmieten der sozial¬
demokratischen Elemente, Saalverbot usw., helfen von dem Augenblick an nicht
mehr, wo die Organisation vollzogn? Tatsache ist. Von der genossenschaftlichen
Selbsthilfe, die sich sonst auf dem Lande so bewährt hat, ist ebenfalls nichts
zu erwarten; die krassen Formen der Leutenot hindern jede Korporation der
Bauern. Vielleicht könnte man bei der Regelung der Vereinsgesetzgebung, die
ja gegenwärtig im Mittelpunkt der politischen Diskussion steht, die landwirt¬
schaftlichen Verhältnisse entsprechend berücksichtigen und den verkappten sozial¬
demokratischen Jugendvereinen etwas schärfer auf die Finger sehen. Ferner wird
zu erwägen sein, ob nicht die polizeilichen Verhältnisse auf dem Lande einer
Reorganisation bedürfen. Auch klagen die Bauern stark über die philanthropische
Milde der Gerichts- und Verwaltungsbehörden gegenüber Roheitsdelikten; die
Furcht vor sozialdemokratischer Pressebehandlung könnte auch aufhören. Mit
Polizeilicher Repressivmaßregeln allein ist freilich der Kern der Sache nicht be¬
rührt, der liegt in dem allzu frühen Schwinden jeder Autorität auf dem Lande.
Während der junge Mann der gebildeten Stände oft bis zum fünfundzwanzigsten
Lebensjahre durchaus gebunden ist an die Autorität des Elternhauses, der
Schule oder der Universität, des Berufs, der gesellschaftlichen Traditionen,
während in der Stadt durch die straffere Organisation der Fortbildungsschulen,
durch eine ganz anders geartete Form des Arbeitsverhältnisses, durch die größere
Anzahl der Gebildeten, durch die direkten Machtmittel der Polizei usw. der
junge Mann zur Anerkennung der autoritären Gewalt wenigstens bis zum
achtzehnten Lebensjahre gezwungen ist, hört auf rein agrarischen Dörfern diese


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[0021] sozialdemokratische Agitation und Landbevölkerung Durch den sozialdemokratischen Vertrauensmann scheint auch eine Art Personalaustausch zu gehen. Seit einigen Jahren drängen sich ausgemergelte, hyperanämische Konfirmanden aus der nahen Industriestadt zum Dienste bei den Bauern. Hier bleiben sie zwei oder drei Jahre, dann gehn sie zurück in die Stadt, meist als Maurer. „Du mußt dich bei den Bauern erst ein paar Jahre gesundfressen", hört man nicht selten. Man stelle sich die Gemütsverfassung der Bauern vor bei diesem Arbeitsmaterial: sozialdemokratisch verschrieben, ohne landwirtschaftliche Kenntnisse und Erfahrungen, interesselos, sich auflodert während der „Pensionsjahre". Gegen all diese trüben Erscheinungen ist der Bauer im allgemeinen machtlos. Manchmal bricht der turor rusticzus durch. So haben vor kurzem die Bauern einen sozialdemokratischen Agitator, den sie in Qg.ZrWti ertappten, als er sich beim Rübenhacken an einen Arbeiterzug machte, windelweich geschlagen. Selbstver¬ ständlich will dieser Akt der rohen Selbsthilfe nichts bedeuten gegen die offenbar fein und planmäßig geleitete Organisation. Die gesetzlichen Vorschriften halten die Genossen genau inne. Man weiß sehr wohl, daß beim Gesinde eine gewerk¬ schaftliche Organisation gesetzlich nicht möglich ist, das Koalitionsverbot der Gesindeordnung respektiert man sehr korrekt, aber der Radfahrerverein, ander¬ wärts der Turnverein, arbeiten besser und geräuschloser. Was ist dagegen zu tun? Die kleinen Mittel, etwa Ausmieten der sozial¬ demokratischen Elemente, Saalverbot usw., helfen von dem Augenblick an nicht mehr, wo die Organisation vollzogn? Tatsache ist. Von der genossenschaftlichen Selbsthilfe, die sich sonst auf dem Lande so bewährt hat, ist ebenfalls nichts zu erwarten; die krassen Formen der Leutenot hindern jede Korporation der Bauern. Vielleicht könnte man bei der Regelung der Vereinsgesetzgebung, die ja gegenwärtig im Mittelpunkt der politischen Diskussion steht, die landwirt¬ schaftlichen Verhältnisse entsprechend berücksichtigen und den verkappten sozial¬ demokratischen Jugendvereinen etwas schärfer auf die Finger sehen. Ferner wird zu erwägen sein, ob nicht die polizeilichen Verhältnisse auf dem Lande einer Reorganisation bedürfen. Auch klagen die Bauern stark über die philanthropische Milde der Gerichts- und Verwaltungsbehörden gegenüber Roheitsdelikten; die Furcht vor sozialdemokratischer Pressebehandlung könnte auch aufhören. Mit Polizeilicher Repressivmaßregeln allein ist freilich der Kern der Sache nicht be¬ rührt, der liegt in dem allzu frühen Schwinden jeder Autorität auf dem Lande. Während der junge Mann der gebildeten Stände oft bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahre durchaus gebunden ist an die Autorität des Elternhauses, der Schule oder der Universität, des Berufs, der gesellschaftlichen Traditionen, während in der Stadt durch die straffere Organisation der Fortbildungsschulen, durch eine ganz anders geartete Form des Arbeitsverhältnisses, durch die größere Anzahl der Gebildeten, durch die direkten Machtmittel der Polizei usw. der junge Mann zur Anerkennung der autoritären Gewalt wenigstens bis zum achtzehnten Lebensjahre gezwungen ist, hört auf rein agrarischen Dörfern diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/21>, abgerufen am 22.07.2024.