Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.Der Marquis von Carabas Zweiter Teil Erstes Kapitel (Kalt wird Kandidat und gibt einen Schmaus, der schon von vornherein wunderlich zusammen¬ gesetzt ist, aber noch wunderlicher wird, als das Dessert erscheint) Spät im Herbst reiste Jörgen in das sogenannte südliche Ausland -- inkognito Es galt nun für die Jugend, in allen diesen Lehrbüchern die unsinnigen Die verkehrten Ansichten über uneheliche Kinder zum Beispiel standen beim Nachdem es überstanden war, beschloß er, das Ergebnis, bevor er nach Steens- Der Marquis von Carabas Zweiter Teil Erstes Kapitel (Kalt wird Kandidat und gibt einen Schmaus, der schon von vornherein wunderlich zusammen¬ gesetzt ist, aber noch wunderlicher wird, als das Dessert erscheint) Spät im Herbst reiste Jörgen in das sogenannte südliche Ausland — inkognito Es galt nun für die Jugend, in allen diesen Lehrbüchern die unsinnigen Die verkehrten Ansichten über uneheliche Kinder zum Beispiel standen beim Nachdem es überstanden war, beschloß er, das Ergebnis, bevor er nach Steens- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0196" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311277"/> <fw type="header" place="top"> Der Marquis von Carabas</fw><lb/> </div> <div n="2"> <head> Zweiter Teil<lb/> Erstes Kapitel</head><lb/> <note type="argument"> (Kalt wird Kandidat und gibt einen Schmaus, der schon von vornherein wunderlich zusammen¬<lb/> gesetzt ist, aber noch wunderlicher wird, als das Dessert erscheint)</note><lb/> <p xml:id="ID_933"> Spät im Herbst reiste Jörgen in das sogenannte südliche Ausland — inkognito<lb/> als Rentier Swedenborg nebst Familie aus Kjerteminde. Kalt studierte währenddes<lb/> Jura, womit er gegen Weihnachten fertig zu sein gedachte. Und gegen Weihnachten<lb/> war er wirklich damit fertig und bekam ein schweres Is-na^Knif. Nicht etwa weil<lb/> er ein großer Rechtsgelehrter war, sondern weil er sich auf den Kniff der Sache<lb/> verstanden hatte, und weil der Kern der Jurisprudenz — befreit von aller Schale —<lb/> äußerst simpel ist. Zu Anfang und in der Mitte des vorigen Jahrhunderts nämlich<lb/> haben einige anscheinend gelehrte Männer gelebt, die von der Mitwelt geehrt<lb/> wurden, und denen die Nachwelt Denkmäler setzte. Sie starben in der Regel als<lb/> Exzellenzen oder Konferenzräte. Während sie aber lebten, stellten sie eine Menge<lb/> Ansichten auf, die ihren Mitbürgern imponierten und ihnen selbst einen gänzlich<lb/> unverdienten Ruf einbrachten, unverdient, weil jetzige Wohltäter der Menschheit<lb/> klipp und klar nachgewiesen haben, daß die Ansichten dieser verstorbnen geschätzten<lb/> Männer allesamt Unsinn sind, sowohl was die großen Fragen als auch was die<lb/> weniger bedeutenden betrifft. Ein Glück also, daß die erwähnten Wohltäter ihre<lb/> privaten Ansichten über die Dinge hatten, sonst sähe es schlimm mit der Gegenwart<lb/> aus. Und sie verfügten sogar über mehrere verschiedne Ansichten, die sie allmählich<lb/> in Gebrauch brachten, und die auch richtig waren. Jede neue Meinung bedeutete<lb/> ein neues Lehrbuch oder eine neue Dekoration, und das Ganze ging nach und nach<lb/> mehr oder weniger in die Praxis über.</p><lb/> <p xml:id="ID_934"> Es galt nun für die Jugend, in allen diesen Lehrbüchern die unsinnigen<lb/> Meinungen der Verstorbnen rot und die Ansichten der jetzt Lebenden blau zu unter¬<lb/> streichen, das heißt die Bücher mit der Etikette: falsch oder richtig abzuliefern. Das<lb/> machte Kalt, und er bekam ein l^na^diUs. Die Ansichten hielt er auseinander,<lb/> indem er ein Gesetzbuch mit Pünktchen abpunktierte oder richtiger, sich ein solches<lb/> abpnnktiertes Gesetzbuch lieh, das schon vielen ihr lMä«.diIis eingebracht hatte und<lb/> es fernerhin tun dürfte, solange es noch einen gibt, der diese Hieroglyphen zu<lb/> deuten versteht.</p><lb/> <p xml:id="ID_935"> Die verkehrten Ansichten über uneheliche Kinder zum Beispiel standen beim<lb/> Gesetz über Feld- und Wegesicherheit, die richtigen dagegen beim Gesetz über Beauf¬<lb/> sichtigung von Löschgeräten. Das Ganze war nichts als ein Rätselraten. Und<lb/> darauf verstand sich Kalt vortrefflich und machte das Examen somit schriftlich ab; bei der<lb/> mündlichen Prüfung ließ er die Professoren reden; die taten das gern, bekamen<lb/> sie doch dabei Gelegenheit, ihre eignen Ansichten zu äußern, und Kalt widersprach<lb/> ihnen nicht, was sie anerkannten.</p><lb/> <p xml:id="ID_936"> Nachdem es überstanden war, beschloß er, das Ergebnis, bevor er nach Steens-<lb/> gaard zur Gutsverwaltung zurückkehrte, durch einen Schmaus zu feiern. Er wohnte<lb/> im Seequartier in dem Pensionat einer „jungen Frau" namens Petersen. Sie war<lb/> eine schwere und liebenswürdige Dame, die Witwe eines sagenhaften Mannes, den<lb/> niemand gekannt hatte, und der nach der Altersangabe seiner Frau, verglichen mit<lb/> andern Daten, schon ihr Ehemann gewesen sein mußte, noch bevor sie die Milchzähne<lb/> gewechselt hatte. Ein getreuer Nordländer, der in dem Pensionat seit einer Ewigkeit<lb/> wohnte, versicherte, daß er schon zum zehntenmale ihren achtundzwanzigsten Geburtstag<lb/> gefeiert habe, aber durch ältere Überlieferungen konnte man diesen Festtag schon um<lb/> acht weitere Jahre zurückverfolgen, und von da ab verlor er sich ins sagenhafte.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0196]
Der Marquis von Carabas
Zweiter Teil
Erstes Kapitel
(Kalt wird Kandidat und gibt einen Schmaus, der schon von vornherein wunderlich zusammen¬
gesetzt ist, aber noch wunderlicher wird, als das Dessert erscheint)
Spät im Herbst reiste Jörgen in das sogenannte südliche Ausland — inkognito
als Rentier Swedenborg nebst Familie aus Kjerteminde. Kalt studierte währenddes
Jura, womit er gegen Weihnachten fertig zu sein gedachte. Und gegen Weihnachten
war er wirklich damit fertig und bekam ein schweres Is-na^Knif. Nicht etwa weil
er ein großer Rechtsgelehrter war, sondern weil er sich auf den Kniff der Sache
verstanden hatte, und weil der Kern der Jurisprudenz — befreit von aller Schale —
äußerst simpel ist. Zu Anfang und in der Mitte des vorigen Jahrhunderts nämlich
haben einige anscheinend gelehrte Männer gelebt, die von der Mitwelt geehrt
wurden, und denen die Nachwelt Denkmäler setzte. Sie starben in der Regel als
Exzellenzen oder Konferenzräte. Während sie aber lebten, stellten sie eine Menge
Ansichten auf, die ihren Mitbürgern imponierten und ihnen selbst einen gänzlich
unverdienten Ruf einbrachten, unverdient, weil jetzige Wohltäter der Menschheit
klipp und klar nachgewiesen haben, daß die Ansichten dieser verstorbnen geschätzten
Männer allesamt Unsinn sind, sowohl was die großen Fragen als auch was die
weniger bedeutenden betrifft. Ein Glück also, daß die erwähnten Wohltäter ihre
privaten Ansichten über die Dinge hatten, sonst sähe es schlimm mit der Gegenwart
aus. Und sie verfügten sogar über mehrere verschiedne Ansichten, die sie allmählich
in Gebrauch brachten, und die auch richtig waren. Jede neue Meinung bedeutete
ein neues Lehrbuch oder eine neue Dekoration, und das Ganze ging nach und nach
mehr oder weniger in die Praxis über.
Es galt nun für die Jugend, in allen diesen Lehrbüchern die unsinnigen
Meinungen der Verstorbnen rot und die Ansichten der jetzt Lebenden blau zu unter¬
streichen, das heißt die Bücher mit der Etikette: falsch oder richtig abzuliefern. Das
machte Kalt, und er bekam ein l^na^diUs. Die Ansichten hielt er auseinander,
indem er ein Gesetzbuch mit Pünktchen abpunktierte oder richtiger, sich ein solches
abpnnktiertes Gesetzbuch lieh, das schon vielen ihr lMä«.diIis eingebracht hatte und
es fernerhin tun dürfte, solange es noch einen gibt, der diese Hieroglyphen zu
deuten versteht.
Die verkehrten Ansichten über uneheliche Kinder zum Beispiel standen beim
Gesetz über Feld- und Wegesicherheit, die richtigen dagegen beim Gesetz über Beauf¬
sichtigung von Löschgeräten. Das Ganze war nichts als ein Rätselraten. Und
darauf verstand sich Kalt vortrefflich und machte das Examen somit schriftlich ab; bei der
mündlichen Prüfung ließ er die Professoren reden; die taten das gern, bekamen
sie doch dabei Gelegenheit, ihre eignen Ansichten zu äußern, und Kalt widersprach
ihnen nicht, was sie anerkannten.
Nachdem es überstanden war, beschloß er, das Ergebnis, bevor er nach Steens-
gaard zur Gutsverwaltung zurückkehrte, durch einen Schmaus zu feiern. Er wohnte
im Seequartier in dem Pensionat einer „jungen Frau" namens Petersen. Sie war
eine schwere und liebenswürdige Dame, die Witwe eines sagenhaften Mannes, den
niemand gekannt hatte, und der nach der Altersangabe seiner Frau, verglichen mit
andern Daten, schon ihr Ehemann gewesen sein mußte, noch bevor sie die Milchzähne
gewechselt hatte. Ein getreuer Nordländer, der in dem Pensionat seit einer Ewigkeit
wohnte, versicherte, daß er schon zum zehntenmale ihren achtundzwanzigsten Geburtstag
gefeiert habe, aber durch ältere Überlieferungen konnte man diesen Festtag schon um
acht weitere Jahre zurückverfolgen, und von da ab verlor er sich ins sagenhafte.
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