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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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sozialdemokratische Agitation und Landbevölkermig

eigentlichen Chorführerinnen sind, sondern die rohern Stimmen der Knechte, so
darf man den Gesang mit Recht ein Gegröhle nennen. In das Gegröhle tönen
scharf und schrill die Klingeln der Nadfahrglocken durch die Nacht. Beim Scheine
der Acetylenlaterne üben sich die Knechte für den "Berein" im Kunstfahren.
Trotzdem der Bauer abends die Ruhe über alles liebt -- er geht um acht,
spätestens um neun Uhr zu Bett --, so wagt niemand gegen den Unfug des
mitternächtlichen Lärmens einzuschreiten, aus Furcht, sein Knecht, seine Magd
könne ihm kündigen. Ein Gendarm ist nicht am Orte; der Gemeindevorstand
sieht nichts, hört nichts, will nichts bemerken; denn er ist ja an erster Stelle
Bauer und sodann erst Polizeiorgan. Die Amtshauptmannschaft zahlt ihm
keine Entschädigung, wenn ihm sein Großknccht mitten in der Ernte davonläuft.
Seit das Gesinde nun gemerkt hat, woher der Wind weht, um so toller treiben
sie es. Die Bauern ärgern sich ganz gewaltig; wenn sie unter sich sind, klagen
sie einander auch die Not; doch das Odium des Anklägers will keiner auf
sich nehmen.

Besonders häßlich tritt diese Autoritätslosigkeit zutage auf dem Gebiete
des Kirchen- und Schullebens. Die alte Sitte, daß am Sonntag aus jedem
Gute mindestens ein männliches und ein weibliches Glied zur Kirche ging, ist
längst entschwunden. Der Gutsbesitzer wagt nicht mehr, seinen Knecht oder
seine Magd an den Kirchgang zu erinnern. Einen heilsamen Schreck haben
neulich die halbwüchsigen Bürschchen erhalten, als einer der ihrigen wegen Ver¬
spottung einer kirchlichen Handlung beim Begräbnis vom Landgericht zu einer
mehrwöchigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Wie sich diese sozialdemokra¬
tischen Hetzereien mit Vorliebe die Würde des Gottesdienstes als Ziel gesetzt
haben, dafür nur ein Beispiel. Der Bälgetreter, der alte Gemeindediener, ist
krank. Sein Sohn, als Maurer ein Anhänger der sozialdemokratischen Or¬
ganisation, vertritt ihn. Nach dem Schlußchoral schweigt unter häßlichem
Quietschen die Orgel. Der Bälgetreter hatte aufgehört zu treten. Darüber
zur Rede gestellt, erklärte er, er Hütte nur zu treten, solange Kirche wäre, diese
wäre aber aus. Die Kirchenvorstände, empört darüber, daß das althergebrachte,
feierliche "Heimspielen" der Gemeinde wegfallen sollte, wagten doch nicht, energisch
durchzugreisen. Dem Pfarrer aber sind die Hände gebunden durch Drohen mit
dem Austritt aus der Landeskirche -- und die Sozialdemokratie lacht sich ins
Fäustchen. Auch im sehnlicher zeigt sich die sozialdemokratische Verhetzung
durch die Freude an der Zerstörung jeder Autorität, am meisten in der Fort¬
bildungsschule.

Wir haben hier die schweren Tage der Einführung der ländlichen Fort¬
bildungsschule im Winter 1875 und den folgenden Jahren mit durchgekämpft,
viel bösen Willen, Ungezogenheit und Starrsinn bei Knechten wie bei Bauern
erfahren, doch einen so bösen Winter, wie den vergangnen, haben wir noch nicht
erlebt. Die Jungen zeigten in allem passiven Widerstand, schliefen, schafften
sich weder Federn noch Hefte an, von sonstigen Ungezogenheiten, ja Roheiten


sozialdemokratische Agitation und Landbevölkermig

eigentlichen Chorführerinnen sind, sondern die rohern Stimmen der Knechte, so
darf man den Gesang mit Recht ein Gegröhle nennen. In das Gegröhle tönen
scharf und schrill die Klingeln der Nadfahrglocken durch die Nacht. Beim Scheine
der Acetylenlaterne üben sich die Knechte für den „Berein" im Kunstfahren.
Trotzdem der Bauer abends die Ruhe über alles liebt — er geht um acht,
spätestens um neun Uhr zu Bett —, so wagt niemand gegen den Unfug des
mitternächtlichen Lärmens einzuschreiten, aus Furcht, sein Knecht, seine Magd
könne ihm kündigen. Ein Gendarm ist nicht am Orte; der Gemeindevorstand
sieht nichts, hört nichts, will nichts bemerken; denn er ist ja an erster Stelle
Bauer und sodann erst Polizeiorgan. Die Amtshauptmannschaft zahlt ihm
keine Entschädigung, wenn ihm sein Großknccht mitten in der Ernte davonläuft.
Seit das Gesinde nun gemerkt hat, woher der Wind weht, um so toller treiben
sie es. Die Bauern ärgern sich ganz gewaltig; wenn sie unter sich sind, klagen
sie einander auch die Not; doch das Odium des Anklägers will keiner auf
sich nehmen.

Besonders häßlich tritt diese Autoritätslosigkeit zutage auf dem Gebiete
des Kirchen- und Schullebens. Die alte Sitte, daß am Sonntag aus jedem
Gute mindestens ein männliches und ein weibliches Glied zur Kirche ging, ist
längst entschwunden. Der Gutsbesitzer wagt nicht mehr, seinen Knecht oder
seine Magd an den Kirchgang zu erinnern. Einen heilsamen Schreck haben
neulich die halbwüchsigen Bürschchen erhalten, als einer der ihrigen wegen Ver¬
spottung einer kirchlichen Handlung beim Begräbnis vom Landgericht zu einer
mehrwöchigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Wie sich diese sozialdemokra¬
tischen Hetzereien mit Vorliebe die Würde des Gottesdienstes als Ziel gesetzt
haben, dafür nur ein Beispiel. Der Bälgetreter, der alte Gemeindediener, ist
krank. Sein Sohn, als Maurer ein Anhänger der sozialdemokratischen Or¬
ganisation, vertritt ihn. Nach dem Schlußchoral schweigt unter häßlichem
Quietschen die Orgel. Der Bälgetreter hatte aufgehört zu treten. Darüber
zur Rede gestellt, erklärte er, er Hütte nur zu treten, solange Kirche wäre, diese
wäre aber aus. Die Kirchenvorstände, empört darüber, daß das althergebrachte,
feierliche „Heimspielen" der Gemeinde wegfallen sollte, wagten doch nicht, energisch
durchzugreisen. Dem Pfarrer aber sind die Hände gebunden durch Drohen mit
dem Austritt aus der Landeskirche — und die Sozialdemokratie lacht sich ins
Fäustchen. Auch im sehnlicher zeigt sich die sozialdemokratische Verhetzung
durch die Freude an der Zerstörung jeder Autorität, am meisten in der Fort¬
bildungsschule.

Wir haben hier die schweren Tage der Einführung der ländlichen Fort¬
bildungsschule im Winter 1875 und den folgenden Jahren mit durchgekämpft,
viel bösen Willen, Ungezogenheit und Starrsinn bei Knechten wie bei Bauern
erfahren, doch einen so bösen Winter, wie den vergangnen, haben wir noch nicht
erlebt. Die Jungen zeigten in allem passiven Widerstand, schliefen, schafften
sich weder Federn noch Hefte an, von sonstigen Ungezogenheiten, ja Roheiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/19>, abgerufen am 22.07.2024.