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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die vinetasagt:

über Innre wörtlich wiedergibt. Aber gerade weil er die Gegend kannte,
kam er nicht auf den Gedanken, daß die von drei Meeren bespülte Wunder¬
stadt Innre das ihm wohlbekannte Wollin sein sollte. Für ihn, der an der
nnbestrittuen Autorität Adams naiv festhielt, gab es unter solchen Umständen
nur eine Erklärung: dieses geheimnisvolle, nicht mehr existierende Innre an
der Ostsee hatte eben noch außer Wollin bestanden. Und so führte Helmold,
in gutem Glauben den Adam von Bremen kopierend, die Stadt Innre neben
dem alten Julin in die Geschichte ein. Dabei begegnete es ihm noch, daß er
in dem von ihm benutzten Handschriftenexemplar des Adam vermutlich einen
Schnörkel oder ein undeutliches Zeichen falsch las. So machte er aus dem
ihm nicht mehr bekannten, weil in seiner Zeit längst in Vergessenheit geratnen
Namen "Innre" die Form "Jumneta".

Auch über dieser vou Helmold überlieferten Namensform für die slawische
Handelsstadt, die nun schon vom Boden der Wirklichkeit losgelöst und in das
Reich der Sage hinübergeführt worden war, waltete ein eigentümliches Schicksal,
weil in dem Exemplar der Handschrift, das von den meisten spätern Gelehrten
benutzt wurde, der nur an einer Stelle genannte Name der Stadt verstümmelt
war. Er sollte IVNMI'^ lauten, aber der erste und dritte Buchstabe waren
nicht zu erkennen, und man wußte nicht, wie man das Wort lesen sollte.
Die verschiedensten Konjekturen wurden im Laufe der Jahrhunderte gemacht,
bis man endlich übereinkam, das fast gar nicht zu erkennende erste Zeichen
als nicht vorhanden zu betrachten und von dem ebenfalls schwer kenntlichen U
nur einen Grundstrich gelten zu lassen. So las man nun VINLI^, und
damit war endlich am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein Name für die
rätselhafte Stadt gefunden worden. Man entschied sich für die Lesart "Vineta"
um so lieber, als man ihr die Deutung "Wendenstadt" gab. Der Name
"Wenden", mit dem die Germanen die slawischen Völker zu bezeichnen pflegten,
und der schon von den alten römischen Geographen in der Form Vgrisclas
oder VöQsti übernommen wurde, schien auf den ähnlich klingenden Namen der
keltischen Veneder hinzudeuten. So fand man in der Benennung des "nörd¬
lichen Venedig" einen Parallelismus zu der der italienischen Lagunenstadt.
Wobei nur vergessen wurde, daß die slawischen Stämme, die doch der Stadt
den Namen gegeben haben sollten, die Bezeichnung "Wenden" für ihre eigne
Nationalität gar nicht kannten. Man könnte es wohl verstehn, daß zum
Beispiel Deutsche, die irgendwo eine Stadt gründen, diese "Deutschburg" oder
so ähnlich nenneu, aber sie würden wohl nicht auf den Gedanken kommen, sie
"Alemannenbnrg" zu nennen, etwa weil wir bei den Franzosen ^Iloirmmis
heißen.

Mit der Einführung der verschwundnen Stadt Vineta neben Wollin war
alleu möglichen Phantasien die Tür geöffnet. Der gelehrte Albert Crantzius
gestaltete die Sage um die Wende des fünfzehnten und sechzehnten Jahr¬
hunderts weiter aus, indem er die Angaben Helmolds noch mehr ins unklare


Die vinetasagt:

über Innre wörtlich wiedergibt. Aber gerade weil er die Gegend kannte,
kam er nicht auf den Gedanken, daß die von drei Meeren bespülte Wunder¬
stadt Innre das ihm wohlbekannte Wollin sein sollte. Für ihn, der an der
nnbestrittuen Autorität Adams naiv festhielt, gab es unter solchen Umständen
nur eine Erklärung: dieses geheimnisvolle, nicht mehr existierende Innre an
der Ostsee hatte eben noch außer Wollin bestanden. Und so führte Helmold,
in gutem Glauben den Adam von Bremen kopierend, die Stadt Innre neben
dem alten Julin in die Geschichte ein. Dabei begegnete es ihm noch, daß er
in dem von ihm benutzten Handschriftenexemplar des Adam vermutlich einen
Schnörkel oder ein undeutliches Zeichen falsch las. So machte er aus dem
ihm nicht mehr bekannten, weil in seiner Zeit längst in Vergessenheit geratnen
Namen „Innre" die Form „Jumneta".

Auch über dieser vou Helmold überlieferten Namensform für die slawische
Handelsstadt, die nun schon vom Boden der Wirklichkeit losgelöst und in das
Reich der Sage hinübergeführt worden war, waltete ein eigentümliches Schicksal,
weil in dem Exemplar der Handschrift, das von den meisten spätern Gelehrten
benutzt wurde, der nur an einer Stelle genannte Name der Stadt verstümmelt
war. Er sollte IVNMI'^ lauten, aber der erste und dritte Buchstabe waren
nicht zu erkennen, und man wußte nicht, wie man das Wort lesen sollte.
Die verschiedensten Konjekturen wurden im Laufe der Jahrhunderte gemacht,
bis man endlich übereinkam, das fast gar nicht zu erkennende erste Zeichen
als nicht vorhanden zu betrachten und von dem ebenfalls schwer kenntlichen U
nur einen Grundstrich gelten zu lassen. So las man nun VINLI^, und
damit war endlich am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein Name für die
rätselhafte Stadt gefunden worden. Man entschied sich für die Lesart „Vineta"
um so lieber, als man ihr die Deutung „Wendenstadt" gab. Der Name
„Wenden", mit dem die Germanen die slawischen Völker zu bezeichnen pflegten,
und der schon von den alten römischen Geographen in der Form Vgrisclas
oder VöQsti übernommen wurde, schien auf den ähnlich klingenden Namen der
keltischen Veneder hinzudeuten. So fand man in der Benennung des „nörd¬
lichen Venedig" einen Parallelismus zu der der italienischen Lagunenstadt.
Wobei nur vergessen wurde, daß die slawischen Stämme, die doch der Stadt
den Namen gegeben haben sollten, die Bezeichnung „Wenden" für ihre eigne
Nationalität gar nicht kannten. Man könnte es wohl verstehn, daß zum
Beispiel Deutsche, die irgendwo eine Stadt gründen, diese „Deutschburg" oder
so ähnlich nenneu, aber sie würden wohl nicht auf den Gedanken kommen, sie
„Alemannenbnrg" zu nennen, etwa weil wir bei den Franzosen ^Iloirmmis
heißen.

Mit der Einführung der verschwundnen Stadt Vineta neben Wollin war
alleu möglichen Phantasien die Tür geöffnet. Der gelehrte Albert Crantzius
gestaltete die Sage um die Wende des fünfzehnten und sechzehnten Jahr¬
hunderts weiter aus, indem er die Angaben Helmolds noch mehr ins unklare


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[0181] Die vinetasagt: über Innre wörtlich wiedergibt. Aber gerade weil er die Gegend kannte, kam er nicht auf den Gedanken, daß die von drei Meeren bespülte Wunder¬ stadt Innre das ihm wohlbekannte Wollin sein sollte. Für ihn, der an der nnbestrittuen Autorität Adams naiv festhielt, gab es unter solchen Umständen nur eine Erklärung: dieses geheimnisvolle, nicht mehr existierende Innre an der Ostsee hatte eben noch außer Wollin bestanden. Und so führte Helmold, in gutem Glauben den Adam von Bremen kopierend, die Stadt Innre neben dem alten Julin in die Geschichte ein. Dabei begegnete es ihm noch, daß er in dem von ihm benutzten Handschriftenexemplar des Adam vermutlich einen Schnörkel oder ein undeutliches Zeichen falsch las. So machte er aus dem ihm nicht mehr bekannten, weil in seiner Zeit längst in Vergessenheit geratnen Namen „Innre" die Form „Jumneta". Auch über dieser vou Helmold überlieferten Namensform für die slawische Handelsstadt, die nun schon vom Boden der Wirklichkeit losgelöst und in das Reich der Sage hinübergeführt worden war, waltete ein eigentümliches Schicksal, weil in dem Exemplar der Handschrift, das von den meisten spätern Gelehrten benutzt wurde, der nur an einer Stelle genannte Name der Stadt verstümmelt war. Er sollte IVNMI'^ lauten, aber der erste und dritte Buchstabe waren nicht zu erkennen, und man wußte nicht, wie man das Wort lesen sollte. Die verschiedensten Konjekturen wurden im Laufe der Jahrhunderte gemacht, bis man endlich übereinkam, das fast gar nicht zu erkennende erste Zeichen als nicht vorhanden zu betrachten und von dem ebenfalls schwer kenntlichen U nur einen Grundstrich gelten zu lassen. So las man nun VINLI^, und damit war endlich am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein Name für die rätselhafte Stadt gefunden worden. Man entschied sich für die Lesart „Vineta" um so lieber, als man ihr die Deutung „Wendenstadt" gab. Der Name „Wenden", mit dem die Germanen die slawischen Völker zu bezeichnen pflegten, und der schon von den alten römischen Geographen in der Form Vgrisclas oder VöQsti übernommen wurde, schien auf den ähnlich klingenden Namen der keltischen Veneder hinzudeuten. So fand man in der Benennung des „nörd¬ lichen Venedig" einen Parallelismus zu der der italienischen Lagunenstadt. Wobei nur vergessen wurde, daß die slawischen Stämme, die doch der Stadt den Namen gegeben haben sollten, die Bezeichnung „Wenden" für ihre eigne Nationalität gar nicht kannten. Man könnte es wohl verstehn, daß zum Beispiel Deutsche, die irgendwo eine Stadt gründen, diese „Deutschburg" oder so ähnlich nenneu, aber sie würden wohl nicht auf den Gedanken kommen, sie „Alemannenbnrg" zu nennen, etwa weil wir bei den Franzosen ^Iloirmmis heißen. Mit der Einführung der verschwundnen Stadt Vineta neben Wollin war alleu möglichen Phantasien die Tür geöffnet. Der gelehrte Albert Crantzius gestaltete die Sage um die Wende des fünfzehnten und sechzehnten Jahr¬ hunderts weiter aus, indem er die Angaben Helmolds noch mehr ins unklare

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/181>, abgerufen am 02.10.2024.