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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Neujahrsgedanken

UM was es sich gehandelt hatte; aber wenn dieses wüste Gejohle und Geschrei
im österreichischen Neichsrate oder in den französischen Kammern nicht besonders
wunder nimmt, weil sich dort die "subgermanischen" Natiönchen eben noch nicht
die volle westeuropäische Gesittung angeeignet haben, und hier die alte gallische
Erregbarkeit zuweilen durchbricht, im deutschen Reichstage müssen sich die Wähler
solche wüste Radauszenen entschieden verbitten. Jeder einzelne Reichsbote, der
dabei Lunge und Fäuste in Bewegung gesetzt hat, würde sich schämen, wenn
er allein wäre, derartiges zu tun, aber zusammen mit ein paar Dutzend andern,
das ist etwas ganz andres. Es ist immer die alte Geschichte: in einer größern
Menge kann jeder einzelne ein ganz vernünftiger und gesitteter Mann sein, aber
alle zusammen werden sie leicht unvernünftig.

Die Polenvorlage im preußischen Abgeordnetenhause, das hier eine der
wichtigsten nationalen Aufgaben zu lösen hat, scheint in einer der Regierung und
dem Parlament annehmbaren Form mit Beschränkung des Enteignungsrechts auf
gewisse von den Polen besonders bedrohte Bezirke zur Annahme gelangen zu
sollen. Aber ob damit die Polenfrage selbst ihrer Lösung nähergerückt wird?
Dreiundeinhalb Millionen Menschen polnischer Zunge, die unter preußischer Ver¬
waltung wohlhabend geworden und von leidenschaftlichem Nationalgefühl erfüllt
sind, der zehnte Teil der gesamten preußischen Bevölkerung können doch nicht auf
die Dauer als Feinde des Staats behandelt und sie können ebensowenig mit
den Mitteln des modernen Rechtsstaats niedergeworfen werden. Daß die
Wiederherstellung des alten polnischen Reichs ihr letztes Ideal ist, das mag ja
sein, und daß wir diese niemals zulassen können, ist selbstverständlich; aber ist
die Gefahr, daß solche Ideen zu praktischen Versuchen führen und daß solche
Versuche einen Erfolg haben, wirklich so groß? Und liegt es denn so ganz außer
dem Bereiche der Möglichkeit, daß ein Ausgleich zwischen Russen und Polen
zustande kommt? Das wäre eine akute Gefahr für unsern Osten.

Fast verzweifelt steht die Frage der Reichsfincmzen. Es ist doch ein
schreiender Widerspruch, daß das deutsche Volk immer wohlhabender wird, und das
Deutsche Reich aus dem Defizit nicht herauskommt. Wo ist der alte Grundsatz
des Fürsten Bismarck, die Einzelstaaten zu "Kostgängern" des Reichs zu machen,
geblieben? Statt dessen muß das Reich bei den Einzelstaaten um die Matri-
kularbeiträge betteln und stört dadurch auch deren Haushalt zuweilen bis zur
Unerträglichkeit. Wenn das die notwendige Folge des vielgepriesnen "föderativem
Prinzips" ist, so danken wir für dieses Prinzip. Aber aus diesem Grundsatz
folgt die Reichsfinanznot an sich nicht, sondern aus dem Doktrinarismus der
Parteien, die einst das Tabaksmonopol verwarfen und noch heute erglühen für
das Pfeifchen und das Schnäpschen des armen Mannes, dagegen sich für
direkte Ncichssteuern begeistern, obwohl solche von allen Regierungen verworfen
werden, und die fortdauernde Erhöhung der direkten Steuern dem alten Er¬
fahrungssätze widerspricht, daß man sie in friedlichen Zeiten niemals überspannen
darf, weil in Zeiten der Not nur sie mit Erfolg erhöht werden können, während


Neujahrsgedanken

UM was es sich gehandelt hatte; aber wenn dieses wüste Gejohle und Geschrei
im österreichischen Neichsrate oder in den französischen Kammern nicht besonders
wunder nimmt, weil sich dort die „subgermanischen" Natiönchen eben noch nicht
die volle westeuropäische Gesittung angeeignet haben, und hier die alte gallische
Erregbarkeit zuweilen durchbricht, im deutschen Reichstage müssen sich die Wähler
solche wüste Radauszenen entschieden verbitten. Jeder einzelne Reichsbote, der
dabei Lunge und Fäuste in Bewegung gesetzt hat, würde sich schämen, wenn
er allein wäre, derartiges zu tun, aber zusammen mit ein paar Dutzend andern,
das ist etwas ganz andres. Es ist immer die alte Geschichte: in einer größern
Menge kann jeder einzelne ein ganz vernünftiger und gesitteter Mann sein, aber
alle zusammen werden sie leicht unvernünftig.

Die Polenvorlage im preußischen Abgeordnetenhause, das hier eine der
wichtigsten nationalen Aufgaben zu lösen hat, scheint in einer der Regierung und
dem Parlament annehmbaren Form mit Beschränkung des Enteignungsrechts auf
gewisse von den Polen besonders bedrohte Bezirke zur Annahme gelangen zu
sollen. Aber ob damit die Polenfrage selbst ihrer Lösung nähergerückt wird?
Dreiundeinhalb Millionen Menschen polnischer Zunge, die unter preußischer Ver¬
waltung wohlhabend geworden und von leidenschaftlichem Nationalgefühl erfüllt
sind, der zehnte Teil der gesamten preußischen Bevölkerung können doch nicht auf
die Dauer als Feinde des Staats behandelt und sie können ebensowenig mit
den Mitteln des modernen Rechtsstaats niedergeworfen werden. Daß die
Wiederherstellung des alten polnischen Reichs ihr letztes Ideal ist, das mag ja
sein, und daß wir diese niemals zulassen können, ist selbstverständlich; aber ist
die Gefahr, daß solche Ideen zu praktischen Versuchen führen und daß solche
Versuche einen Erfolg haben, wirklich so groß? Und liegt es denn so ganz außer
dem Bereiche der Möglichkeit, daß ein Ausgleich zwischen Russen und Polen
zustande kommt? Das wäre eine akute Gefahr für unsern Osten.

Fast verzweifelt steht die Frage der Reichsfincmzen. Es ist doch ein
schreiender Widerspruch, daß das deutsche Volk immer wohlhabender wird, und das
Deutsche Reich aus dem Defizit nicht herauskommt. Wo ist der alte Grundsatz
des Fürsten Bismarck, die Einzelstaaten zu „Kostgängern" des Reichs zu machen,
geblieben? Statt dessen muß das Reich bei den Einzelstaaten um die Matri-
kularbeiträge betteln und stört dadurch auch deren Haushalt zuweilen bis zur
Unerträglichkeit. Wenn das die notwendige Folge des vielgepriesnen „föderativem
Prinzips" ist, so danken wir für dieses Prinzip. Aber aus diesem Grundsatz
folgt die Reichsfinanznot an sich nicht, sondern aus dem Doktrinarismus der
Parteien, die einst das Tabaksmonopol verwarfen und noch heute erglühen für
das Pfeifchen und das Schnäpschen des armen Mannes, dagegen sich für
direkte Ncichssteuern begeistern, obwohl solche von allen Regierungen verworfen
werden, und die fortdauernde Erhöhung der direkten Steuern dem alten Er¬
fahrungssätze widerspricht, daß man sie in friedlichen Zeiten niemals überspannen
darf, weil in Zeiten der Not nur sie mit Erfolg erhöht werden können, während


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/14>, abgerufen am 22.07.2024.