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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

gereiften Mannes so wieder zusammenfügt, daß jedes widerstrebende Glied am
Ende in ihm nicht den Bezwinger, sondern den Meister ehrt. Nur eben
etwas zu breit ist das Ganze angelegt, und die Gefahr, daß das Interesse
einmal abstand, ist vorhanden. Man liest ja nichts von Ernst Zahn ohne
Gewinn und wird auch dieses Buch mit seiner aus dem Menschen herauf¬
wachsenden sittlich pädagogischen Tendenz nicht unbereichert aus der Hand
legen, wenn auch die künstlerische Freude daran nicht so rein ist wie an Zahns
letzten Novellen.

Ein ganz köstliches kleines Buch sind "Die Madchenfeinde" von Karl
Spitteler (Jena, Eugen Diederichs). Spitteler ist immer im eigentlichen und
besten Sinne des Worts originell. Hier hat aber die Originalität seines Stils
und seiner mit Humor erfüllten Form einen ganz besonders schalkhaften Reiz,
der den Dichter von einer neuen Seite zeigt. Die Geschlossenheit der Kom¬
position, die Spitteler immer wieder anstrebt und erreicht, ergibt in dem
kleinen Rahmen einen vollen Blick in eine Kinderseele, die auf einer kurzen
Reise alles durchlebt und erlebt, was ein empfindliches und empfängliches
Kinderherz nur erfahren kann. Das Buch ist vor siebzehn Jahren geschrieben
und jetzt umgearbeitet worden, wirkt aber vollkommen frisch, wie denn alle
Spittelerschen Schöpfungen immer wieder als etwas Neues wirken und bei der
ganz einsamen Stellung des großen Dichters auch künftig wirken werden.

Spittelers Altersgenosse Ernst von Wildenbruch hat einen neuen Roman
"Lukrezia" (Berlin. G. Grote) geschrieben, der sich in der völligen Geschlossen¬
heit des Aufbaues wohl zu Spittelers Art gesellen mag. Damit aber wäre
das beiden Dichtern Gemeinsame erschöpft, denn Spittelers langsam steigende
und fallende Handlung hat nichts gemein mit Wildenbruchs ungestüm zum
Ziele fliegender Gestaltung. Das schafft Wildenbruch vielleicht den Vorteil,
daß man ihm nicht so genau auf die Finger paßt, wenn ich den Ausdruck
gebrauchen darf, wie Spitteler. Bei dem Schweizer würden wirs haarscharf
empfinden, wenn irgendwo psychologisch irgend etwas nicht stimmte -- es
stimmt aber immer. Bei dem Märker trägt uns die rasende Flugkraft über
bedenkliche Lücken und Verbindungen hinweg, ehe wir noch aufatmen konnten.
So auch in dieser Geschichte von der armen und reichen Lukrezia Mergent-
hcimer. Ich glaube nicht, daß es auch dem ruhigsten Leser möglich sein wird,
das schöne Buch an irgendeiner Stelle aus der Hand zu legen. Mit un¬
entrinnbar festhaltenden Griff zieht der Dichter uns nach und läßt uns gar
acht Z^t, nach Ziel und Weg zu fragen. Über Beklemmungen hinweg führt
^e wogende Erzählergabe, über bedrückende und angsterregende Augenblicke
lien?!^ durchbrechende prachtvolle menschliche Echtheit und Rein-
Menss Richters. "Lukrezia" ist durchaus nur ein Buch für ganz reife
den dk E ^ ^Novellen und Romane Wildenbrnchs sind. Der Mann,
ist ii M ^z^rM"cHen nie umhin können als Hofdichter zu apostrophieren,
ir Wahrheit einer, dem nichts Menschliches fremd blieb. Stets aber führt


Neue Romane und Novellen

gereiften Mannes so wieder zusammenfügt, daß jedes widerstrebende Glied am
Ende in ihm nicht den Bezwinger, sondern den Meister ehrt. Nur eben
etwas zu breit ist das Ganze angelegt, und die Gefahr, daß das Interesse
einmal abstand, ist vorhanden. Man liest ja nichts von Ernst Zahn ohne
Gewinn und wird auch dieses Buch mit seiner aus dem Menschen herauf¬
wachsenden sittlich pädagogischen Tendenz nicht unbereichert aus der Hand
legen, wenn auch die künstlerische Freude daran nicht so rein ist wie an Zahns
letzten Novellen.

Ein ganz köstliches kleines Buch sind „Die Madchenfeinde" von Karl
Spitteler (Jena, Eugen Diederichs). Spitteler ist immer im eigentlichen und
besten Sinne des Worts originell. Hier hat aber die Originalität seines Stils
und seiner mit Humor erfüllten Form einen ganz besonders schalkhaften Reiz,
der den Dichter von einer neuen Seite zeigt. Die Geschlossenheit der Kom¬
position, die Spitteler immer wieder anstrebt und erreicht, ergibt in dem
kleinen Rahmen einen vollen Blick in eine Kinderseele, die auf einer kurzen
Reise alles durchlebt und erlebt, was ein empfindliches und empfängliches
Kinderherz nur erfahren kann. Das Buch ist vor siebzehn Jahren geschrieben
und jetzt umgearbeitet worden, wirkt aber vollkommen frisch, wie denn alle
Spittelerschen Schöpfungen immer wieder als etwas Neues wirken und bei der
ganz einsamen Stellung des großen Dichters auch künftig wirken werden.

Spittelers Altersgenosse Ernst von Wildenbruch hat einen neuen Roman
„Lukrezia" (Berlin. G. Grote) geschrieben, der sich in der völligen Geschlossen¬
heit des Aufbaues wohl zu Spittelers Art gesellen mag. Damit aber wäre
das beiden Dichtern Gemeinsame erschöpft, denn Spittelers langsam steigende
und fallende Handlung hat nichts gemein mit Wildenbruchs ungestüm zum
Ziele fliegender Gestaltung. Das schafft Wildenbruch vielleicht den Vorteil,
daß man ihm nicht so genau auf die Finger paßt, wenn ich den Ausdruck
gebrauchen darf, wie Spitteler. Bei dem Schweizer würden wirs haarscharf
empfinden, wenn irgendwo psychologisch irgend etwas nicht stimmte — es
stimmt aber immer. Bei dem Märker trägt uns die rasende Flugkraft über
bedenkliche Lücken und Verbindungen hinweg, ehe wir noch aufatmen konnten.
So auch in dieser Geschichte von der armen und reichen Lukrezia Mergent-
hcimer. Ich glaube nicht, daß es auch dem ruhigsten Leser möglich sein wird,
das schöne Buch an irgendeiner Stelle aus der Hand zu legen. Mit un¬
entrinnbar festhaltenden Griff zieht der Dichter uns nach und läßt uns gar
acht Z^t, nach Ziel und Weg zu fragen. Über Beklemmungen hinweg führt
^e wogende Erzählergabe, über bedrückende und angsterregende Augenblicke
lien?!^ durchbrechende prachtvolle menschliche Echtheit und Rein-
Menss Richters. „Lukrezia" ist durchaus nur ein Buch für ganz reife
den dk E ^ ^Novellen und Romane Wildenbrnchs sind. Der Mann,
ist ii M ^z^rM"cHen nie umhin können als Hofdichter zu apostrophieren,
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[0139] Neue Romane und Novellen gereiften Mannes so wieder zusammenfügt, daß jedes widerstrebende Glied am Ende in ihm nicht den Bezwinger, sondern den Meister ehrt. Nur eben etwas zu breit ist das Ganze angelegt, und die Gefahr, daß das Interesse einmal abstand, ist vorhanden. Man liest ja nichts von Ernst Zahn ohne Gewinn und wird auch dieses Buch mit seiner aus dem Menschen herauf¬ wachsenden sittlich pädagogischen Tendenz nicht unbereichert aus der Hand legen, wenn auch die künstlerische Freude daran nicht so rein ist wie an Zahns letzten Novellen. Ein ganz köstliches kleines Buch sind „Die Madchenfeinde" von Karl Spitteler (Jena, Eugen Diederichs). Spitteler ist immer im eigentlichen und besten Sinne des Worts originell. Hier hat aber die Originalität seines Stils und seiner mit Humor erfüllten Form einen ganz besonders schalkhaften Reiz, der den Dichter von einer neuen Seite zeigt. Die Geschlossenheit der Kom¬ position, die Spitteler immer wieder anstrebt und erreicht, ergibt in dem kleinen Rahmen einen vollen Blick in eine Kinderseele, die auf einer kurzen Reise alles durchlebt und erlebt, was ein empfindliches und empfängliches Kinderherz nur erfahren kann. Das Buch ist vor siebzehn Jahren geschrieben und jetzt umgearbeitet worden, wirkt aber vollkommen frisch, wie denn alle Spittelerschen Schöpfungen immer wieder als etwas Neues wirken und bei der ganz einsamen Stellung des großen Dichters auch künftig wirken werden. Spittelers Altersgenosse Ernst von Wildenbruch hat einen neuen Roman „Lukrezia" (Berlin. G. Grote) geschrieben, der sich in der völligen Geschlossen¬ heit des Aufbaues wohl zu Spittelers Art gesellen mag. Damit aber wäre das beiden Dichtern Gemeinsame erschöpft, denn Spittelers langsam steigende und fallende Handlung hat nichts gemein mit Wildenbruchs ungestüm zum Ziele fliegender Gestaltung. Das schafft Wildenbruch vielleicht den Vorteil, daß man ihm nicht so genau auf die Finger paßt, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, wie Spitteler. Bei dem Schweizer würden wirs haarscharf empfinden, wenn irgendwo psychologisch irgend etwas nicht stimmte — es stimmt aber immer. Bei dem Märker trägt uns die rasende Flugkraft über bedenkliche Lücken und Verbindungen hinweg, ehe wir noch aufatmen konnten. So auch in dieser Geschichte von der armen und reichen Lukrezia Mergent- hcimer. Ich glaube nicht, daß es auch dem ruhigsten Leser möglich sein wird, das schöne Buch an irgendeiner Stelle aus der Hand zu legen. Mit un¬ entrinnbar festhaltenden Griff zieht der Dichter uns nach und läßt uns gar acht Z^t, nach Ziel und Weg zu fragen. Über Beklemmungen hinweg führt ^e wogende Erzählergabe, über bedrückende und angsterregende Augenblicke lien?!^ durchbrechende prachtvolle menschliche Echtheit und Rein- Menss Richters. „Lukrezia" ist durchaus nur ein Buch für ganz reife den dk E ^ ^Novellen und Romane Wildenbrnchs sind. Der Mann, ist ii M ^z^rM"cHen nie umhin können als Hofdichter zu apostrophieren, ir Wahrheit einer, dem nichts Menschliches fremd blieb. Stets aber führt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/139>, abgerufen am 22.07.2024.