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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Goethes letztes Lebensjahr

als "eine Thekla, eine Jungfrau von Orleans" bezeichnet hat, durch mangelhafte
Erfüllung der gewöhnlichen Hausfrauenpflichten, übermäßige Beschäftigung mit
geistigen Dingen, vielleicht auch durch unruhiges, exzentrisches Wesen und
krankhafte Reizbarkeit Anstoß gegeben haben. Jedenfalls hatten die Gatten
seit 1824 ohne Verständnis nebeneinander hingelebt; es hatte auch nicht an
heftigen Auftritten gefehlt, zumal als Ottilie sich 1827 zum drittenmale Mutter
fühlte. Der Vater, der zwischen zwei Lieben stand, dürfte bei Lebzeiten des
Sohnes, der ihm seit 1819 eine höchst wertvolle Stütze im Geschäftlichen war
und tagtäglich mit ihm verkehrte, überwiegend auf dessen Seite gestanden haben,
wenn er auch nie mit der Schwiegertochter anders als herzlich und ritterlich
verkehrt hat. Die gemeinsame tiefe Trauer und das beiderseitige Bedürfnis
führten nach Augusts Heimgang im fernen Süden Schwiegervater und Schwieger¬
tochter enge zusammen. Hat Goethe diese erst 1831 ihrem vollen Werte nach
schätzen lernen? Wer will das sagen? Jedenfalls lebten Vater und Tochter
seit dem November 1830 in größter Liebe und Eintracht mit und für einander.
An einem großen Teil der Abende ist Ottilie die getreue, unermüdliche Vor¬
leserin. So vielseitig und rege auch ihr Interesse für alles Geistige war, so
hat sie sicher diesen Liebesdienst oft mit Überwindung geleistet, so zum Beispiel
während der lange fortgesetzten Lektüre von Plutarchs Lebensbeschreibungen.
Daneben sorgte sie aber auch dafür, den ganz zurückgezogen lebenden Greis
mit den großen und kleinen Vorkommnissen des Ortes in Zusammenhang zu
erhalten, wofür jener stets sehr dankbar war. Aus dem Tagebuch der Zeit
von 1824 ab ist zu ersehn, wie gern sich der Dichter von den Seinigen über
höfische und sonstige Festlichkeiten, Theatervorstellungen und kleine Vorkommnisse
am Orte berichten ließ, auch gewöhnlichen Klatsch dabei nicht verschmähend.
So spielen im Tagebuche von 1831 Erzählungen der Schwiegertochter und
Enkel öfters eine Rolle, darunter auch solche, die sich nur auf Vorgänge beim
Jahrmarkte und Vogelschießen bezogen.

Sicher war es ganz in Goethes Sinne, daß die Trauer um den am
27. Oktober 1830 Abgeschiednen nicht peinlich genommen wurde. Acht Tage
lang nach Eingang der Trauerkunde hielten sich die Familienglieder mittags
ganz unter sich, vom 19. November an speist Goethe wieder mit dem oder
jenem seiner Vertrauten, so allein im Dezember 1830 funfzehnmal mit Ecker-
mann. Daß Ottilie, die Enkelin der Oberhofmarschallin Ottilie Gräfin Henckel
von Donnersmarck, die Tochter der Hofdame Majorin Henriette von Pogwisch,
schon im Januar und Februar 1831 mehrfach bei Hofe war, wohl nur zu kurzer
Aufwartung, verdient vielleicht keine sonderliche Beachtung, mehr, daß in diesen
Monaten ihre Söhne wiederholt das Theater besuchen, am 24. Januar so.gar
an einem Ball bei General Vavafour teilnehmen. Vom August 1831 an
besucht Ottilie wieder öfters Gesellschaften und Konzerte, vom September an
das Theater, vom November an auch Bälle, uach dem Tagebuche bis zu des
Dichters Tode nicht weniger als acht.


Goethes letztes Lebensjahr

als „eine Thekla, eine Jungfrau von Orleans" bezeichnet hat, durch mangelhafte
Erfüllung der gewöhnlichen Hausfrauenpflichten, übermäßige Beschäftigung mit
geistigen Dingen, vielleicht auch durch unruhiges, exzentrisches Wesen und
krankhafte Reizbarkeit Anstoß gegeben haben. Jedenfalls hatten die Gatten
seit 1824 ohne Verständnis nebeneinander hingelebt; es hatte auch nicht an
heftigen Auftritten gefehlt, zumal als Ottilie sich 1827 zum drittenmale Mutter
fühlte. Der Vater, der zwischen zwei Lieben stand, dürfte bei Lebzeiten des
Sohnes, der ihm seit 1819 eine höchst wertvolle Stütze im Geschäftlichen war
und tagtäglich mit ihm verkehrte, überwiegend auf dessen Seite gestanden haben,
wenn er auch nie mit der Schwiegertochter anders als herzlich und ritterlich
verkehrt hat. Die gemeinsame tiefe Trauer und das beiderseitige Bedürfnis
führten nach Augusts Heimgang im fernen Süden Schwiegervater und Schwieger¬
tochter enge zusammen. Hat Goethe diese erst 1831 ihrem vollen Werte nach
schätzen lernen? Wer will das sagen? Jedenfalls lebten Vater und Tochter
seit dem November 1830 in größter Liebe und Eintracht mit und für einander.
An einem großen Teil der Abende ist Ottilie die getreue, unermüdliche Vor¬
leserin. So vielseitig und rege auch ihr Interesse für alles Geistige war, so
hat sie sicher diesen Liebesdienst oft mit Überwindung geleistet, so zum Beispiel
während der lange fortgesetzten Lektüre von Plutarchs Lebensbeschreibungen.
Daneben sorgte sie aber auch dafür, den ganz zurückgezogen lebenden Greis
mit den großen und kleinen Vorkommnissen des Ortes in Zusammenhang zu
erhalten, wofür jener stets sehr dankbar war. Aus dem Tagebuch der Zeit
von 1824 ab ist zu ersehn, wie gern sich der Dichter von den Seinigen über
höfische und sonstige Festlichkeiten, Theatervorstellungen und kleine Vorkommnisse
am Orte berichten ließ, auch gewöhnlichen Klatsch dabei nicht verschmähend.
So spielen im Tagebuche von 1831 Erzählungen der Schwiegertochter und
Enkel öfters eine Rolle, darunter auch solche, die sich nur auf Vorgänge beim
Jahrmarkte und Vogelschießen bezogen.

Sicher war es ganz in Goethes Sinne, daß die Trauer um den am
27. Oktober 1830 Abgeschiednen nicht peinlich genommen wurde. Acht Tage
lang nach Eingang der Trauerkunde hielten sich die Familienglieder mittags
ganz unter sich, vom 19. November an speist Goethe wieder mit dem oder
jenem seiner Vertrauten, so allein im Dezember 1830 funfzehnmal mit Ecker-
mann. Daß Ottilie, die Enkelin der Oberhofmarschallin Ottilie Gräfin Henckel
von Donnersmarck, die Tochter der Hofdame Majorin Henriette von Pogwisch,
schon im Januar und Februar 1831 mehrfach bei Hofe war, wohl nur zu kurzer
Aufwartung, verdient vielleicht keine sonderliche Beachtung, mehr, daß in diesen
Monaten ihre Söhne wiederholt das Theater besuchen, am 24. Januar so.gar
an einem Ball bei General Vavafour teilnehmen. Vom August 1831 an
besucht Ottilie wieder öfters Gesellschaften und Konzerte, vom September an
das Theater, vom November an auch Bälle, uach dem Tagebuche bis zu des
Dichters Tode nicht weniger als acht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/80>, abgerufen am 22.07.2024.