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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Goethes letztes Lebensjahr

Dank ihrer kräftigen Konstitution hatte sich seine Natur von dem Blutsturze
am 25. November 1830 in wenig Tagen wieder erholt. Abgesehn von einer
vorübergehenden Anfechtung in den letzten Tagen des März und einem mehr¬
wöchigen Katarrh im Mai erlitt die Gesundheit des Dichters 1831 keinerlei
Störung. Im Juni und Juli fühlte er sich sogar absonderlich wohl und zu
dichterischer Arbeit gut aufgelegt. Im August traute er sich eine Fahrt nach
Ilmenau mit seinen Enkeln und einen mehrtägigen Aufenthalt dort und in der
Umgegend zu, während er mit dem Herbst 1828 sogar die Besuche im geliebten
Jena eingestellt und sich mit Wagenfahrten in Weimars näherer Umgebung
begnügt hatte. Abgesehn von diesem einen weitern Ausfluge hielt sich der
Hochbetagte 1831 freilich ganz still daheim bei regelmüßigster Lebensführung.
Die Teilnahme an Geselligkeit außerhalb des Hauses versagte er sich ganz;
von Hof und Theater hielt er sich, wie überhaupt seit dem Tode des Gro߬
herzogs Karl August, völlig fern. Von längern Spaziergängen weiß das Tage¬
buch nichts zu berichten; an ihre Stelle treten regelmäßige Spazierfahrten.

Auch im Hause geht es, schou wegen des bis Oktober 1831 dauernden
Trauerjahres, stiller zu als sonst. Unter dem 6. Mai verzeichnet das Tagebuch
eine kleinere, unter dem 9. August eine größere Teegesellschaft. Da jede An¬
gabe über diese fehlt, ist denkbar, daß sie außerhalb des Hauses oder in den
Räumen der Schwiegertochter stattgefunden hat.

Dabei entbehrte das Leben des Greises aber keineswegs eines gewissen
fröhlichen Behagens, wie aus dem nachfolgenden zu ersehn sein wird. Wie
der Hausarzt Hofrat Dr. Karl Vogel bezeugt, blieben Gesicht, Geruch, Geschmack,
Gefühl bei Goethe bis zu seinem Tode fein und scharf. Eine entschiedne Ab¬
nahme machte sich in der letzten Zeit nach den Wahrnehmungen des Genannten
nur am Gehör, am Erinnerungsvermögen und in der Beweglichkeit der Gedanken
bemerkbar. Aber keiner dieser Mängel machte sich Fernerstehenden sonderlich
fühlbar, am wenigsten, wenn der Dichter gut gelaunt und geistig angeregt war.

Nach einer Notiz im Literarischen Zentralblatt vom 28. Mai 1884 hatte
die Körperlänge des Greises seit 1824 um 2 Zentimeter abgenommen. Aber
noch immer war seine Erscheinung stattlich mit dem dicht behaarten Haupte,
der breiten Brust und dem reichlichen Beleg mit Muskelfleisch an allen Glied¬
maßen. Dazu kam, daß der Bejahrte seit Jahrzehnten daran gewöhnt war,
sich von früh bis abend stramm und gesellschaftsfähig zu halten. Mußte er
doch an jedem Tage vor und nach Tische Beamte aller Art und Besuche,
darunter auch solche von Hochgestellten, empfangen. Sogar in seinem Arbeits¬
zimmer gestattete er sich bis zuletzt keinerlei Bequemlichkeiten, erst vom
25. März 1831 ab (Biedermann, Gespräche VIII, 62) den Luxus eines eleganten
Lehnstuhls.")



*) Das wohlgelungne legte Bild von Goethe hat bekanntlich der Hofkupferstecher Schwerd-
geburth geliefert. Mitte Januar 1832 hatte die Zeichnung des Dichters Billigung gefunden;
der Stich erschien aber erst nach dessen Tode.
Grenzboten IV 1908 10
Goethes letztes Lebensjahr

Dank ihrer kräftigen Konstitution hatte sich seine Natur von dem Blutsturze
am 25. November 1830 in wenig Tagen wieder erholt. Abgesehn von einer
vorübergehenden Anfechtung in den letzten Tagen des März und einem mehr¬
wöchigen Katarrh im Mai erlitt die Gesundheit des Dichters 1831 keinerlei
Störung. Im Juni und Juli fühlte er sich sogar absonderlich wohl und zu
dichterischer Arbeit gut aufgelegt. Im August traute er sich eine Fahrt nach
Ilmenau mit seinen Enkeln und einen mehrtägigen Aufenthalt dort und in der
Umgegend zu, während er mit dem Herbst 1828 sogar die Besuche im geliebten
Jena eingestellt und sich mit Wagenfahrten in Weimars näherer Umgebung
begnügt hatte. Abgesehn von diesem einen weitern Ausfluge hielt sich der
Hochbetagte 1831 freilich ganz still daheim bei regelmüßigster Lebensführung.
Die Teilnahme an Geselligkeit außerhalb des Hauses versagte er sich ganz;
von Hof und Theater hielt er sich, wie überhaupt seit dem Tode des Gro߬
herzogs Karl August, völlig fern. Von längern Spaziergängen weiß das Tage¬
buch nichts zu berichten; an ihre Stelle treten regelmäßige Spazierfahrten.

Auch im Hause geht es, schou wegen des bis Oktober 1831 dauernden
Trauerjahres, stiller zu als sonst. Unter dem 6. Mai verzeichnet das Tagebuch
eine kleinere, unter dem 9. August eine größere Teegesellschaft. Da jede An¬
gabe über diese fehlt, ist denkbar, daß sie außerhalb des Hauses oder in den
Räumen der Schwiegertochter stattgefunden hat.

Dabei entbehrte das Leben des Greises aber keineswegs eines gewissen
fröhlichen Behagens, wie aus dem nachfolgenden zu ersehn sein wird. Wie
der Hausarzt Hofrat Dr. Karl Vogel bezeugt, blieben Gesicht, Geruch, Geschmack,
Gefühl bei Goethe bis zu seinem Tode fein und scharf. Eine entschiedne Ab¬
nahme machte sich in der letzten Zeit nach den Wahrnehmungen des Genannten
nur am Gehör, am Erinnerungsvermögen und in der Beweglichkeit der Gedanken
bemerkbar. Aber keiner dieser Mängel machte sich Fernerstehenden sonderlich
fühlbar, am wenigsten, wenn der Dichter gut gelaunt und geistig angeregt war.

Nach einer Notiz im Literarischen Zentralblatt vom 28. Mai 1884 hatte
die Körperlänge des Greises seit 1824 um 2 Zentimeter abgenommen. Aber
noch immer war seine Erscheinung stattlich mit dem dicht behaarten Haupte,
der breiten Brust und dem reichlichen Beleg mit Muskelfleisch an allen Glied¬
maßen. Dazu kam, daß der Bejahrte seit Jahrzehnten daran gewöhnt war,
sich von früh bis abend stramm und gesellschaftsfähig zu halten. Mußte er
doch an jedem Tage vor und nach Tische Beamte aller Art und Besuche,
darunter auch solche von Hochgestellten, empfangen. Sogar in seinem Arbeits¬
zimmer gestattete er sich bis zuletzt keinerlei Bequemlichkeiten, erst vom
25. März 1831 ab (Biedermann, Gespräche VIII, 62) den Luxus eines eleganten
Lehnstuhls.")



*) Das wohlgelungne legte Bild von Goethe hat bekanntlich der Hofkupferstecher Schwerd-
geburth geliefert. Mitte Januar 1832 hatte die Zeichnung des Dichters Billigung gefunden;
der Stich erschien aber erst nach dessen Tode.
Grenzboten IV 1908 10
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/77>, abgerufen am 22.07.2024.