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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Die Türkenherrschaft und ihre Folgen

Wesen, allerdings unter türkischer Oberhoheit, auf dem ganzen Balkan bildete
die kluge Handelsrepublik Ragusa, deren unternehmende Kaufleute den Binnen¬
verkehr der ganzen Halbinsel in die Hände bekamen und Kolonien bis zu den
Doncmmündungen und dem Schwarzen Meere (Warna) besaßen.

Die Türken beerbten Vyzauz nicht bloß äußerlich, sondern übernahmen auch
die meisten Einrichtungen von ihm und änderten an den ethnographischen und
sogar religiösen Verhältnissen weniger, als man glauben konnte. Ihre Koloui-
sationstraft war bald erschöpft, sodaß sie größere Gebiete nur im Südosten der
Balkanhalbinsel besiedelten, namentlich an strategisch wichtigen Punkten, was
zum Beispiel an der Vardarlinie auffüllt, durch deren starke türkische Bevölkerung
die mazedonischen Slawen heute fast in zwei Teile gespalten sind. Im Nord¬
westen kamen osmanische Einwohner nur in Städte und wichtige Burgen, wurden
aber hier meist slawisiert, namentlich in den höhnisch-kroatischen Grenzgebieten.
Sonst vermehrten sich die "Türken" durch christliche Renegaten, unter denen
auf slawischer Seite am stärksten die Bogomilen, namentlich in Bosnien und
Herzegowina, die Orthodoxen und Katholiken aber ungefähr nach ihren Prozent-
Verhältnissen in gleicher Weise vertreten waren. In das Gebiet der geschicht¬
lichen Fabeln gehört die Behauptung, daß speziell die Orthodoxie eine feste
Mauer gegen den Islam gewesen sei, denn ein böhmischer Bücherschreiber des
sechzehnten Jahrhunderts klagt ausdrücklich, daß "viele von niemand gequält,
sich von der Orthodoxie abwandten", und ein andrer Bücherschreiber aus
Sarajevo gibt 1516 seinem Schmerz über eine große Vermehrung der "Agarener"
und eine große Verminderung der Orthodoxen Ausdruck. Freiwillig nahmen
den Islam Fürstensöhne und der Adel an, um ihren Besitz und ihre privilegierte
Stellung, deren sich nur "Rechtgläubige" erfreuen konnten, zu retten; unter den
slawischen Balkcmländern ragt auch hier Bosnien mit Herzegowina hervor, das
den stärksten, geradezu mitteleuropäischen Feudaladel aufzuweisen hatte. Be¬
sonders zahlreich waren die Pseudotürken, die aus der Blüte der aller fünf
Jahre für den Militärdienst ausgehöhlten christlichen Jugend (Janitscharen),
aus Gefangnen (am Ende des sechzehnten Jahrhunderts finden wir darunter
sogar einen tapfern Agramer Kanonikus, den seine Mitbrüder und Kaiser
Maximilian allzulange nicht losgekauft hatten) und den in die Harems ge¬
schleppten oder auch entlcmfnen Mädchen und Frauen hervorgegangen sind. Die
Stärke des türkischen Reichs in seinen besten Zeiten bildete gerade der Umstand,
daß jedermann zu den höchsten Ämtern und dadurch auch zu großem Grund¬
besitz und Reichtum gelangen konnte. Bezeichnend ist die Tatsache, daß aus
den böhmischen und anliegenden kroatischen Gebieten vom fünfzehnten bis zum
achtzehnten Jahrhundert nicht weniger als achtzehn Großwesire stammten,
während die Zahl von andern hohen und bedeutenden slawischen Würdenträgern
in die Hunderte geht. So wird es begreiflich, daß selbst am Hofe des Sultans
Sulejmcm (1520 bis 1566), unter dem die türkische Macht den Gipfelpunkt
erreichte, die slawische, speziell serbokroatische Sprache eine wichtige Rolle spielte


Die Türkenherrschaft und ihre Folgen

Wesen, allerdings unter türkischer Oberhoheit, auf dem ganzen Balkan bildete
die kluge Handelsrepublik Ragusa, deren unternehmende Kaufleute den Binnen¬
verkehr der ganzen Halbinsel in die Hände bekamen und Kolonien bis zu den
Doncmmündungen und dem Schwarzen Meere (Warna) besaßen.

Die Türken beerbten Vyzauz nicht bloß äußerlich, sondern übernahmen auch
die meisten Einrichtungen von ihm und änderten an den ethnographischen und
sogar religiösen Verhältnissen weniger, als man glauben konnte. Ihre Koloui-
sationstraft war bald erschöpft, sodaß sie größere Gebiete nur im Südosten der
Balkanhalbinsel besiedelten, namentlich an strategisch wichtigen Punkten, was
zum Beispiel an der Vardarlinie auffüllt, durch deren starke türkische Bevölkerung
die mazedonischen Slawen heute fast in zwei Teile gespalten sind. Im Nord¬
westen kamen osmanische Einwohner nur in Städte und wichtige Burgen, wurden
aber hier meist slawisiert, namentlich in den höhnisch-kroatischen Grenzgebieten.
Sonst vermehrten sich die „Türken" durch christliche Renegaten, unter denen
auf slawischer Seite am stärksten die Bogomilen, namentlich in Bosnien und
Herzegowina, die Orthodoxen und Katholiken aber ungefähr nach ihren Prozent-
Verhältnissen in gleicher Weise vertreten waren. In das Gebiet der geschicht¬
lichen Fabeln gehört die Behauptung, daß speziell die Orthodoxie eine feste
Mauer gegen den Islam gewesen sei, denn ein böhmischer Bücherschreiber des
sechzehnten Jahrhunderts klagt ausdrücklich, daß „viele von niemand gequält,
sich von der Orthodoxie abwandten", und ein andrer Bücherschreiber aus
Sarajevo gibt 1516 seinem Schmerz über eine große Vermehrung der „Agarener"
und eine große Verminderung der Orthodoxen Ausdruck. Freiwillig nahmen
den Islam Fürstensöhne und der Adel an, um ihren Besitz und ihre privilegierte
Stellung, deren sich nur „Rechtgläubige" erfreuen konnten, zu retten; unter den
slawischen Balkcmländern ragt auch hier Bosnien mit Herzegowina hervor, das
den stärksten, geradezu mitteleuropäischen Feudaladel aufzuweisen hatte. Be¬
sonders zahlreich waren die Pseudotürken, die aus der Blüte der aller fünf
Jahre für den Militärdienst ausgehöhlten christlichen Jugend (Janitscharen),
aus Gefangnen (am Ende des sechzehnten Jahrhunderts finden wir darunter
sogar einen tapfern Agramer Kanonikus, den seine Mitbrüder und Kaiser
Maximilian allzulange nicht losgekauft hatten) und den in die Harems ge¬
schleppten oder auch entlcmfnen Mädchen und Frauen hervorgegangen sind. Die
Stärke des türkischen Reichs in seinen besten Zeiten bildete gerade der Umstand,
daß jedermann zu den höchsten Ämtern und dadurch auch zu großem Grund¬
besitz und Reichtum gelangen konnte. Bezeichnend ist die Tatsache, daß aus
den böhmischen und anliegenden kroatischen Gebieten vom fünfzehnten bis zum
achtzehnten Jahrhundert nicht weniger als achtzehn Großwesire stammten,
während die Zahl von andern hohen und bedeutenden slawischen Würdenträgern
in die Hunderte geht. So wird es begreiflich, daß selbst am Hofe des Sultans
Sulejmcm (1520 bis 1566), unter dem die türkische Macht den Gipfelpunkt
erreichte, die slawische, speziell serbokroatische Sprache eine wichtige Rolle spielte


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[0068] Die Türkenherrschaft und ihre Folgen Wesen, allerdings unter türkischer Oberhoheit, auf dem ganzen Balkan bildete die kluge Handelsrepublik Ragusa, deren unternehmende Kaufleute den Binnen¬ verkehr der ganzen Halbinsel in die Hände bekamen und Kolonien bis zu den Doncmmündungen und dem Schwarzen Meere (Warna) besaßen. Die Türken beerbten Vyzauz nicht bloß äußerlich, sondern übernahmen auch die meisten Einrichtungen von ihm und änderten an den ethnographischen und sogar religiösen Verhältnissen weniger, als man glauben konnte. Ihre Koloui- sationstraft war bald erschöpft, sodaß sie größere Gebiete nur im Südosten der Balkanhalbinsel besiedelten, namentlich an strategisch wichtigen Punkten, was zum Beispiel an der Vardarlinie auffüllt, durch deren starke türkische Bevölkerung die mazedonischen Slawen heute fast in zwei Teile gespalten sind. Im Nord¬ westen kamen osmanische Einwohner nur in Städte und wichtige Burgen, wurden aber hier meist slawisiert, namentlich in den höhnisch-kroatischen Grenzgebieten. Sonst vermehrten sich die „Türken" durch christliche Renegaten, unter denen auf slawischer Seite am stärksten die Bogomilen, namentlich in Bosnien und Herzegowina, die Orthodoxen und Katholiken aber ungefähr nach ihren Prozent- Verhältnissen in gleicher Weise vertreten waren. In das Gebiet der geschicht¬ lichen Fabeln gehört die Behauptung, daß speziell die Orthodoxie eine feste Mauer gegen den Islam gewesen sei, denn ein böhmischer Bücherschreiber des sechzehnten Jahrhunderts klagt ausdrücklich, daß „viele von niemand gequält, sich von der Orthodoxie abwandten", und ein andrer Bücherschreiber aus Sarajevo gibt 1516 seinem Schmerz über eine große Vermehrung der „Agarener" und eine große Verminderung der Orthodoxen Ausdruck. Freiwillig nahmen den Islam Fürstensöhne und der Adel an, um ihren Besitz und ihre privilegierte Stellung, deren sich nur „Rechtgläubige" erfreuen konnten, zu retten; unter den slawischen Balkcmländern ragt auch hier Bosnien mit Herzegowina hervor, das den stärksten, geradezu mitteleuropäischen Feudaladel aufzuweisen hatte. Be¬ sonders zahlreich waren die Pseudotürken, die aus der Blüte der aller fünf Jahre für den Militärdienst ausgehöhlten christlichen Jugend (Janitscharen), aus Gefangnen (am Ende des sechzehnten Jahrhunderts finden wir darunter sogar einen tapfern Agramer Kanonikus, den seine Mitbrüder und Kaiser Maximilian allzulange nicht losgekauft hatten) und den in die Harems ge¬ schleppten oder auch entlcmfnen Mädchen und Frauen hervorgegangen sind. Die Stärke des türkischen Reichs in seinen besten Zeiten bildete gerade der Umstand, daß jedermann zu den höchsten Ämtern und dadurch auch zu großem Grund¬ besitz und Reichtum gelangen konnte. Bezeichnend ist die Tatsache, daß aus den böhmischen und anliegenden kroatischen Gebieten vom fünfzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert nicht weniger als achtzehn Großwesire stammten, während die Zahl von andern hohen und bedeutenden slawischen Würdenträgern in die Hunderte geht. So wird es begreiflich, daß selbst am Hofe des Sultans Sulejmcm (1520 bis 1566), unter dem die türkische Macht den Gipfelpunkt erreichte, die slawische, speziell serbokroatische Sprache eine wichtige Rolle spielte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/68>, abgerufen am 22.07.2024.