Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wartung der Jungtürken, nicht geleistet, und das scheint keinen besonders günstigen
Eindruck bei den Freunden des neuen Regiments hervorgerufen zu haben. Nach
unsern europäischen Rechtsbegriffen könnte man sagen, daß der Sultan logisch
handelte, als er den Eid auf die Verfassung nicht erneuerte. Denn er hatte ja
die schon beschworne Verfassung vor zweiunddreißig Jahren nicht aufgehoben,
sondern nur suspendiert; er kann also für seine Auffassung anführen, daß der
freiwillige Entschluß, die Suspension aufzuheben, Garantie genug sei, und daß er
mit einer Wiederholung des schon geleisteten Eides nur zugebe, daß jene Suspension
eine tatsächliche Aufhebung und insofern eine Verletzung des frühern Eides sei.
Aber die orientalische Denkweise ist, so sehr sie derartigen spitzfindigen Begründungen
sonst zugänglich ist, doch sehr eigenartig in ihren praktischen Schlußfolgerungen.
Diesmal ist die ganze Politische Atmosphäre noch zu sehr von Mißtrauen erfüllt,
und dadurch sehen sich die neuen türkischen Machthaber vielfach beengt und gefesselt.
Die Lage zeigt deshalb immer noch Unklarheiten und Schwankungen, obwohl man
die Ruhe und die Besonnenheit der jungtürkischen Reformpartei und ihrer Leiter
ehrlich anerkennen muß. Eine gänzlich ungeschulte und unerfahrne öffentliche
Meinung, wie sie einer unzureichenden Volksbildung entspricht, und wie sie eben
erst aus langem Schlaf aufgerüttelt worden ist, auf der einen Seite, und dem¬
gegenüber auf der andern der verhaltne Rachedurst einer zurückgedrängten Partei,
die mit grenzenloser Korruption und allen Mitteln der Verschlagenheit bisher die
Lage beherrscht hatte -- das sind Scylla und Charybdis, zwischen denen die
jungtürkischen Patrioten ihr Schiff hindurchsteuern müssen. Bis jetzt haben sie es
mit bemerkenswerter Geschicklichkeit zuwege gebracht und dafür die Sympathien
der auswärtigen Regierungen und Volksvertretungen geerntet. Aus zahlreichen
Kundgebungen geht hervor, daß die neuste Entwicklung der Türkei überall mit
Wohlwollen und Teilnahme beobachtet wird, mich da, wo besondre Interessen und
politische Maßnahmen Gegensätze hervorgerufen haben.

Eine merkwürdige Blüte dieser Entwicklung ist die Englanderei der Jung¬
türken, eine Erscheinung, die gelegentlich in einem wahren Paroxysmus der Volks¬
massen hervortritt. Für Leute, denen es Bedürfnis ist, den Laus der Welt unter
sentimentalen Gesichtspunkten zu betrachte", könnte diese Erscheinung beinahe etwas
niederschmetterndes haben. Das englische Volk, für dessen Vorzüge wir gewiß
nicht blind sind, hat doch in der Verfolgung der Ziele seiner Weltherrschaft immer
eine nackte Interessenpolitik innegehalten, deren Methoden sehr rücksichtslos, häufig
genug einfach brutal zu nennen waren. Für die Türkei hat England seit Jahr¬
zehnten keinen Finger gerührt, wohl aber mancherlei unternommen, was den Interessen
und dem Ansehen der Türkei innerhalb der Welt des Islam schnurstracks zuwider¬
läuft. Dennoch genügt die rein theoretische Begeisterung sür gewisse Formen
politischer Freiheit, um die Bevölkerung des osmanischen Reichs England zu Füßen
zu legen. Wir Deutschen haben ohne jeden politischen Ehrgeiz in der Türkei
lediglich als Kulturpioniere und uneigennützige Vermittler wirtschaftlichen und mili¬
tärischen Fortschritts gewirkt. Wir haben diese an sich schon bescheidnen Ziele mit einer
Zurückhaltung und einem Gerechtigkeitssinn verfolgt, die in der Weltgeschichte ihres¬
gleichen suchen. Wesentlich durch deutsche Arbeit ist die heutige Generation der ge¬
bildeten Türken überhaupt in den Stand gesetzt worden, die konstitutionelle Be¬
wegung erfolgreich durchzuführen. Die Antwort darauf ist, daß sich die Jung¬
türken heute das Ansehen geben, als ob sie eher deutschfeindlich als deutschfreundlich
seien. Allerdings darf man in dieser Feststellung Wohl nicht zu weit gehn, da sich
die eigentliche Feindseligkeit gegen Österreich richtet und die große Menge den
Deutsch-Österreicher und den Reichsdeutschen nicht auseinanderhält. Aber mich in
den Kreisen, die den Unterschied zu machen versteh", ist die Stimmung gegen
Deutschland mindestens kühl, und man schenkt ohne weiteres den Einflüsterungen
Glauben, die -- der Wahrheit und den Tntsachen entgegen -- den deutschen Einfluß


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wartung der Jungtürken, nicht geleistet, und das scheint keinen besonders günstigen
Eindruck bei den Freunden des neuen Regiments hervorgerufen zu haben. Nach
unsern europäischen Rechtsbegriffen könnte man sagen, daß der Sultan logisch
handelte, als er den Eid auf die Verfassung nicht erneuerte. Denn er hatte ja
die schon beschworne Verfassung vor zweiunddreißig Jahren nicht aufgehoben,
sondern nur suspendiert; er kann also für seine Auffassung anführen, daß der
freiwillige Entschluß, die Suspension aufzuheben, Garantie genug sei, und daß er
mit einer Wiederholung des schon geleisteten Eides nur zugebe, daß jene Suspension
eine tatsächliche Aufhebung und insofern eine Verletzung des frühern Eides sei.
Aber die orientalische Denkweise ist, so sehr sie derartigen spitzfindigen Begründungen
sonst zugänglich ist, doch sehr eigenartig in ihren praktischen Schlußfolgerungen.
Diesmal ist die ganze Politische Atmosphäre noch zu sehr von Mißtrauen erfüllt,
und dadurch sehen sich die neuen türkischen Machthaber vielfach beengt und gefesselt.
Die Lage zeigt deshalb immer noch Unklarheiten und Schwankungen, obwohl man
die Ruhe und die Besonnenheit der jungtürkischen Reformpartei und ihrer Leiter
ehrlich anerkennen muß. Eine gänzlich ungeschulte und unerfahrne öffentliche
Meinung, wie sie einer unzureichenden Volksbildung entspricht, und wie sie eben
erst aus langem Schlaf aufgerüttelt worden ist, auf der einen Seite, und dem¬
gegenüber auf der andern der verhaltne Rachedurst einer zurückgedrängten Partei,
die mit grenzenloser Korruption und allen Mitteln der Verschlagenheit bisher die
Lage beherrscht hatte — das sind Scylla und Charybdis, zwischen denen die
jungtürkischen Patrioten ihr Schiff hindurchsteuern müssen. Bis jetzt haben sie es
mit bemerkenswerter Geschicklichkeit zuwege gebracht und dafür die Sympathien
der auswärtigen Regierungen und Volksvertretungen geerntet. Aus zahlreichen
Kundgebungen geht hervor, daß die neuste Entwicklung der Türkei überall mit
Wohlwollen und Teilnahme beobachtet wird, mich da, wo besondre Interessen und
politische Maßnahmen Gegensätze hervorgerufen haben.

Eine merkwürdige Blüte dieser Entwicklung ist die Englanderei der Jung¬
türken, eine Erscheinung, die gelegentlich in einem wahren Paroxysmus der Volks¬
massen hervortritt. Für Leute, denen es Bedürfnis ist, den Laus der Welt unter
sentimentalen Gesichtspunkten zu betrachte», könnte diese Erscheinung beinahe etwas
niederschmetterndes haben. Das englische Volk, für dessen Vorzüge wir gewiß
nicht blind sind, hat doch in der Verfolgung der Ziele seiner Weltherrschaft immer
eine nackte Interessenpolitik innegehalten, deren Methoden sehr rücksichtslos, häufig
genug einfach brutal zu nennen waren. Für die Türkei hat England seit Jahr¬
zehnten keinen Finger gerührt, wohl aber mancherlei unternommen, was den Interessen
und dem Ansehen der Türkei innerhalb der Welt des Islam schnurstracks zuwider¬
läuft. Dennoch genügt die rein theoretische Begeisterung sür gewisse Formen
politischer Freiheit, um die Bevölkerung des osmanischen Reichs England zu Füßen
zu legen. Wir Deutschen haben ohne jeden politischen Ehrgeiz in der Türkei
lediglich als Kulturpioniere und uneigennützige Vermittler wirtschaftlichen und mili¬
tärischen Fortschritts gewirkt. Wir haben diese an sich schon bescheidnen Ziele mit einer
Zurückhaltung und einem Gerechtigkeitssinn verfolgt, die in der Weltgeschichte ihres¬
gleichen suchen. Wesentlich durch deutsche Arbeit ist die heutige Generation der ge¬
bildeten Türken überhaupt in den Stand gesetzt worden, die konstitutionelle Be¬
wegung erfolgreich durchzuführen. Die Antwort darauf ist, daß sich die Jung¬
türken heute das Ansehen geben, als ob sie eher deutschfeindlich als deutschfreundlich
seien. Allerdings darf man in dieser Feststellung Wohl nicht zu weit gehn, da sich
die eigentliche Feindseligkeit gegen Österreich richtet und die große Menge den
Deutsch-Österreicher und den Reichsdeutschen nicht auseinanderhält. Aber mich in
den Kreisen, die den Unterschied zu machen versteh», ist die Stimmung gegen
Deutschland mindestens kühl, und man schenkt ohne weiteres den Einflüsterungen
Glauben, die — der Wahrheit und den Tntsachen entgegen — den deutschen Einfluß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0660" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311071"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_3436" prev="#ID_3435"> Wartung der Jungtürken, nicht geleistet, und das scheint keinen besonders günstigen<lb/>
Eindruck bei den Freunden des neuen Regiments hervorgerufen zu haben. Nach<lb/>
unsern europäischen Rechtsbegriffen könnte man sagen, daß der Sultan logisch<lb/>
handelte, als er den Eid auf die Verfassung nicht erneuerte. Denn er hatte ja<lb/>
die schon beschworne Verfassung vor zweiunddreißig Jahren nicht aufgehoben,<lb/>
sondern nur suspendiert; er kann also für seine Auffassung anführen, daß der<lb/>
freiwillige Entschluß, die Suspension aufzuheben, Garantie genug sei, und daß er<lb/>
mit einer Wiederholung des schon geleisteten Eides nur zugebe, daß jene Suspension<lb/>
eine tatsächliche Aufhebung und insofern eine Verletzung des frühern Eides sei.<lb/>
Aber die orientalische Denkweise ist, so sehr sie derartigen spitzfindigen Begründungen<lb/>
sonst zugänglich ist, doch sehr eigenartig in ihren praktischen Schlußfolgerungen.<lb/>
Diesmal ist die ganze Politische Atmosphäre noch zu sehr von Mißtrauen erfüllt,<lb/>
und dadurch sehen sich die neuen türkischen Machthaber vielfach beengt und gefesselt.<lb/>
Die Lage zeigt deshalb immer noch Unklarheiten und Schwankungen, obwohl man<lb/>
die Ruhe und die Besonnenheit der jungtürkischen Reformpartei und ihrer Leiter<lb/>
ehrlich anerkennen muß. Eine gänzlich ungeschulte und unerfahrne öffentliche<lb/>
Meinung, wie sie einer unzureichenden Volksbildung entspricht, und wie sie eben<lb/>
erst aus langem Schlaf aufgerüttelt worden ist, auf der einen Seite, und dem¬<lb/>
gegenüber auf der andern der verhaltne Rachedurst einer zurückgedrängten Partei,<lb/>
die mit grenzenloser Korruption und allen Mitteln der Verschlagenheit bisher die<lb/>
Lage beherrscht hatte &#x2014; das sind Scylla und Charybdis, zwischen denen die<lb/>
jungtürkischen Patrioten ihr Schiff hindurchsteuern müssen. Bis jetzt haben sie es<lb/>
mit bemerkenswerter Geschicklichkeit zuwege gebracht und dafür die Sympathien<lb/>
der auswärtigen Regierungen und Volksvertretungen geerntet. Aus zahlreichen<lb/>
Kundgebungen geht hervor, daß die neuste Entwicklung der Türkei überall mit<lb/>
Wohlwollen und Teilnahme beobachtet wird, mich da, wo besondre Interessen und<lb/>
politische Maßnahmen Gegensätze hervorgerufen haben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_3437" next="#ID_3438"> Eine merkwürdige Blüte dieser Entwicklung ist die Englanderei der Jung¬<lb/>
türken, eine Erscheinung, die gelegentlich in einem wahren Paroxysmus der Volks¬<lb/>
massen hervortritt. Für Leute, denen es Bedürfnis ist, den Laus der Welt unter<lb/>
sentimentalen Gesichtspunkten zu betrachte», könnte diese Erscheinung beinahe etwas<lb/>
niederschmetterndes haben. Das englische Volk, für dessen Vorzüge wir gewiß<lb/>
nicht blind sind, hat doch in der Verfolgung der Ziele seiner Weltherrschaft immer<lb/>
eine nackte Interessenpolitik innegehalten, deren Methoden sehr rücksichtslos, häufig<lb/>
genug einfach brutal zu nennen waren. Für die Türkei hat England seit Jahr¬<lb/>
zehnten keinen Finger gerührt, wohl aber mancherlei unternommen, was den Interessen<lb/>
und dem Ansehen der Türkei innerhalb der Welt des Islam schnurstracks zuwider¬<lb/>
läuft. Dennoch genügt die rein theoretische Begeisterung sür gewisse Formen<lb/>
politischer Freiheit, um die Bevölkerung des osmanischen Reichs England zu Füßen<lb/>
zu legen. Wir Deutschen haben ohne jeden politischen Ehrgeiz in der Türkei<lb/>
lediglich als Kulturpioniere und uneigennützige Vermittler wirtschaftlichen und mili¬<lb/>
tärischen Fortschritts gewirkt. Wir haben diese an sich schon bescheidnen Ziele mit einer<lb/>
Zurückhaltung und einem Gerechtigkeitssinn verfolgt, die in der Weltgeschichte ihres¬<lb/>
gleichen suchen. Wesentlich durch deutsche Arbeit ist die heutige Generation der ge¬<lb/>
bildeten Türken überhaupt in den Stand gesetzt worden, die konstitutionelle Be¬<lb/>
wegung erfolgreich durchzuführen. Die Antwort darauf ist, daß sich die Jung¬<lb/>
türken heute das Ansehen geben, als ob sie eher deutschfeindlich als deutschfreundlich<lb/>
seien. Allerdings darf man in dieser Feststellung Wohl nicht zu weit gehn, da sich<lb/>
die eigentliche Feindseligkeit gegen Österreich richtet und die große Menge den<lb/>
Deutsch-Österreicher und den Reichsdeutschen nicht auseinanderhält. Aber mich in<lb/>
den Kreisen, die den Unterschied zu machen versteh», ist die Stimmung gegen<lb/>
Deutschland mindestens kühl, und man schenkt ohne weiteres den Einflüsterungen<lb/>
Glauben, die &#x2014; der Wahrheit und den Tntsachen entgegen &#x2014; den deutschen Einfluß</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0660] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wartung der Jungtürken, nicht geleistet, und das scheint keinen besonders günstigen Eindruck bei den Freunden des neuen Regiments hervorgerufen zu haben. Nach unsern europäischen Rechtsbegriffen könnte man sagen, daß der Sultan logisch handelte, als er den Eid auf die Verfassung nicht erneuerte. Denn er hatte ja die schon beschworne Verfassung vor zweiunddreißig Jahren nicht aufgehoben, sondern nur suspendiert; er kann also für seine Auffassung anführen, daß der freiwillige Entschluß, die Suspension aufzuheben, Garantie genug sei, und daß er mit einer Wiederholung des schon geleisteten Eides nur zugebe, daß jene Suspension eine tatsächliche Aufhebung und insofern eine Verletzung des frühern Eides sei. Aber die orientalische Denkweise ist, so sehr sie derartigen spitzfindigen Begründungen sonst zugänglich ist, doch sehr eigenartig in ihren praktischen Schlußfolgerungen. Diesmal ist die ganze Politische Atmosphäre noch zu sehr von Mißtrauen erfüllt, und dadurch sehen sich die neuen türkischen Machthaber vielfach beengt und gefesselt. Die Lage zeigt deshalb immer noch Unklarheiten und Schwankungen, obwohl man die Ruhe und die Besonnenheit der jungtürkischen Reformpartei und ihrer Leiter ehrlich anerkennen muß. Eine gänzlich ungeschulte und unerfahrne öffentliche Meinung, wie sie einer unzureichenden Volksbildung entspricht, und wie sie eben erst aus langem Schlaf aufgerüttelt worden ist, auf der einen Seite, und dem¬ gegenüber auf der andern der verhaltne Rachedurst einer zurückgedrängten Partei, die mit grenzenloser Korruption und allen Mitteln der Verschlagenheit bisher die Lage beherrscht hatte — das sind Scylla und Charybdis, zwischen denen die jungtürkischen Patrioten ihr Schiff hindurchsteuern müssen. Bis jetzt haben sie es mit bemerkenswerter Geschicklichkeit zuwege gebracht und dafür die Sympathien der auswärtigen Regierungen und Volksvertretungen geerntet. Aus zahlreichen Kundgebungen geht hervor, daß die neuste Entwicklung der Türkei überall mit Wohlwollen und Teilnahme beobachtet wird, mich da, wo besondre Interessen und politische Maßnahmen Gegensätze hervorgerufen haben. Eine merkwürdige Blüte dieser Entwicklung ist die Englanderei der Jung¬ türken, eine Erscheinung, die gelegentlich in einem wahren Paroxysmus der Volks¬ massen hervortritt. Für Leute, denen es Bedürfnis ist, den Laus der Welt unter sentimentalen Gesichtspunkten zu betrachte», könnte diese Erscheinung beinahe etwas niederschmetterndes haben. Das englische Volk, für dessen Vorzüge wir gewiß nicht blind sind, hat doch in der Verfolgung der Ziele seiner Weltherrschaft immer eine nackte Interessenpolitik innegehalten, deren Methoden sehr rücksichtslos, häufig genug einfach brutal zu nennen waren. Für die Türkei hat England seit Jahr¬ zehnten keinen Finger gerührt, wohl aber mancherlei unternommen, was den Interessen und dem Ansehen der Türkei innerhalb der Welt des Islam schnurstracks zuwider¬ läuft. Dennoch genügt die rein theoretische Begeisterung sür gewisse Formen politischer Freiheit, um die Bevölkerung des osmanischen Reichs England zu Füßen zu legen. Wir Deutschen haben ohne jeden politischen Ehrgeiz in der Türkei lediglich als Kulturpioniere und uneigennützige Vermittler wirtschaftlichen und mili¬ tärischen Fortschritts gewirkt. Wir haben diese an sich schon bescheidnen Ziele mit einer Zurückhaltung und einem Gerechtigkeitssinn verfolgt, die in der Weltgeschichte ihres¬ gleichen suchen. Wesentlich durch deutsche Arbeit ist die heutige Generation der ge¬ bildeten Türken überhaupt in den Stand gesetzt worden, die konstitutionelle Be¬ wegung erfolgreich durchzuführen. Die Antwort darauf ist, daß sich die Jung¬ türken heute das Ansehen geben, als ob sie eher deutschfeindlich als deutschfreundlich seien. Allerdings darf man in dieser Feststellung Wohl nicht zu weit gehn, da sich die eigentliche Feindseligkeit gegen Österreich richtet und die große Menge den Deutsch-Österreicher und den Reichsdeutschen nicht auseinanderhält. Aber mich in den Kreisen, die den Unterschied zu machen versteh», ist die Stimmung gegen Deutschland mindestens kühl, und man schenkt ohne weiteres den Einflüsterungen Glauben, die — der Wahrheit und den Tntsachen entgegen — den deutschen Einfluß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/660
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/660>, abgerufen am 22.07.2024.