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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Lin Ereignis in meinem Berufsleben
Gertrud Oetersson, Strafcmstciltsoberbecimtin von in

as ich hier erzählen will, ist nicht die Geschichte eines Erlebnisses,
das etwa mein Leben reicher oder ärmer gemacht, auch nicht eines
solchen, das es in andre Bahnen gelenkt hatte, und doch gab es eine
Zeit, wo die furchtbare Tragik des Menschenschicksals, von dem ich
hier sprechen will, mich schwer bedrückte, und "och heute, wo die be¬
treffende Person längst verschollen ist, will die Erinnerung nicht weichen
an das Lebensgeschick, das sich in einer ernsten Stunde mit rücksichtsloser Offenheit
vor meinen Blicken entrollte.

Als Strafanstaltsbeamtin habe ich Gefängnis und Zuchthaus in allernächster
Nähe kennen lernen. Jahrelang glitt die lange Kette der Zuchthäusler an mir
vorüber, morgens zum Einmarsch in die Arbeitssäle und abends zum Einmarsch in
die Schlafsäle. Täglich sinds dieselben Gesichter mit demselben Ausdruck, Haß, Re¬
signation oder Roheit; selten verschiebt sich die Kette, selten gibts ein andres Bild.

Es war an einem eisigkalten Januarmorgen, als ich etwas nach sechs Uhr als
diensthabende Oberbeamtin den Schlafsaal des Zuchthauses......betrat. Die
Leute waren schon fertig zum Ausmarsch aus ihre" Kojen, das sind eiserne Ver¬
schlüge mit Türen, zur Hälfte aus Eisendraht, in denen nur Bett und Schemel
Platz haben, herausgetreten. Das Glockenzeichen ertönte, und vorbei an mir zog
der Zug über den nur matterhellten Hof. durch den mit eisiger Schärfe der Wind
fegte, hinüber in die hellerleuchteten Arbeitssäle, in denen in wenig Augenblicken
das Feuer im Ofen lustig prasseln und eine wohlige Wärme die erstarrten Glieder
wieder aufwärmen wird.

Die Hausordnung im Zuchthause schreibt vor, daß die weiblichen Sträflinge
das Haar in der Mitte gescheitelt und die Flechten glatt um den Kopf gelegt tragen.
Ohne Ausnahme muß diese Haartracht von allen, ob jung oder alt, getragen werden.
So fiel es denn besonders auf, daß eine der letzten im Zuge ihr Haar unordentlich
und lässig nur in einem dicken Knoten am Hinterkopf zusammengerafft hatte. Die
Person war mir noch unbekannt, sie mußte also zum erstenmal in diesem Zuge gehn.
Ich rief sie zu mir heran, fragte sie nach ihrem Namen und erfuhr im nächsten
Augenblick von der Aufseherin, daß sie sich geweigert habe, ihr Haar ordnungsgemäß
zu machen, daß sie überhaupt eine widerspenstige, heftige und unordentliche Person
sei, die bei der nächsten Gelegenheit sicher auf eine Anzeige zu rechnen habe.

Hedwtg R., so hieß das Mädchen, stand ruhig dabei; ohne eine Miene zu
verziehen, hörte sie die Klagen der Aufseherin mit an. Auf meine Frage, ob sie
die Hausordnung nicht kenne, und ob sie nicht wisse, daß Widerspenstigkeit streng
bestraft werde, erhielt ich die ruhige und gleichgiltige Antwort: O ja, ich habe
schon eine Zuchthaus- und verschiedne Gefängnisstrafen hinter mir, ich kenne die
Hausordnung. Ich entließ sie nun mit dem Bemerken, daß ich trotz der traurigen
Charakteristik, die mir die Aufseherin von ihr gegeben habe, hoffe, daß sie sich fügen


Grenzboten IV 1908 86


Lin Ereignis in meinem Berufsleben
Gertrud Oetersson, Strafcmstciltsoberbecimtin von in

as ich hier erzählen will, ist nicht die Geschichte eines Erlebnisses,
das etwa mein Leben reicher oder ärmer gemacht, auch nicht eines
solchen, das es in andre Bahnen gelenkt hatte, und doch gab es eine
Zeit, wo die furchtbare Tragik des Menschenschicksals, von dem ich
hier sprechen will, mich schwer bedrückte, und »och heute, wo die be¬
treffende Person längst verschollen ist, will die Erinnerung nicht weichen
an das Lebensgeschick, das sich in einer ernsten Stunde mit rücksichtsloser Offenheit
vor meinen Blicken entrollte.

Als Strafanstaltsbeamtin habe ich Gefängnis und Zuchthaus in allernächster
Nähe kennen lernen. Jahrelang glitt die lange Kette der Zuchthäusler an mir
vorüber, morgens zum Einmarsch in die Arbeitssäle und abends zum Einmarsch in
die Schlafsäle. Täglich sinds dieselben Gesichter mit demselben Ausdruck, Haß, Re¬
signation oder Roheit; selten verschiebt sich die Kette, selten gibts ein andres Bild.

Es war an einem eisigkalten Januarmorgen, als ich etwas nach sechs Uhr als
diensthabende Oberbeamtin den Schlafsaal des Zuchthauses......betrat. Die
Leute waren schon fertig zum Ausmarsch aus ihre» Kojen, das sind eiserne Ver¬
schlüge mit Türen, zur Hälfte aus Eisendraht, in denen nur Bett und Schemel
Platz haben, herausgetreten. Das Glockenzeichen ertönte, und vorbei an mir zog
der Zug über den nur matterhellten Hof. durch den mit eisiger Schärfe der Wind
fegte, hinüber in die hellerleuchteten Arbeitssäle, in denen in wenig Augenblicken
das Feuer im Ofen lustig prasseln und eine wohlige Wärme die erstarrten Glieder
wieder aufwärmen wird.

Die Hausordnung im Zuchthause schreibt vor, daß die weiblichen Sträflinge
das Haar in der Mitte gescheitelt und die Flechten glatt um den Kopf gelegt tragen.
Ohne Ausnahme muß diese Haartracht von allen, ob jung oder alt, getragen werden.
So fiel es denn besonders auf, daß eine der letzten im Zuge ihr Haar unordentlich
und lässig nur in einem dicken Knoten am Hinterkopf zusammengerafft hatte. Die
Person war mir noch unbekannt, sie mußte also zum erstenmal in diesem Zuge gehn.
Ich rief sie zu mir heran, fragte sie nach ihrem Namen und erfuhr im nächsten
Augenblick von der Aufseherin, daß sie sich geweigert habe, ihr Haar ordnungsgemäß
zu machen, daß sie überhaupt eine widerspenstige, heftige und unordentliche Person
sei, die bei der nächsten Gelegenheit sicher auf eine Anzeige zu rechnen habe.

Hedwtg R., so hieß das Mädchen, stand ruhig dabei; ohne eine Miene zu
verziehen, hörte sie die Klagen der Aufseherin mit an. Auf meine Frage, ob sie
die Hausordnung nicht kenne, und ob sie nicht wisse, daß Widerspenstigkeit streng
bestraft werde, erhielt ich die ruhige und gleichgiltige Antwort: O ja, ich habe
schon eine Zuchthaus- und verschiedne Gefängnisstrafen hinter mir, ich kenne die
Hausordnung. Ich entließ sie nun mit dem Bemerken, daß ich trotz der traurigen
Charakteristik, die mir die Aufseherin von ihr gegeben habe, hoffe, daß sie sich fügen


Grenzboten IV 1908 86
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[0649] [Abbildung] Lin Ereignis in meinem Berufsleben Gertrud Oetersson, Strafcmstciltsoberbecimtin von in as ich hier erzählen will, ist nicht die Geschichte eines Erlebnisses, das etwa mein Leben reicher oder ärmer gemacht, auch nicht eines solchen, das es in andre Bahnen gelenkt hatte, und doch gab es eine Zeit, wo die furchtbare Tragik des Menschenschicksals, von dem ich hier sprechen will, mich schwer bedrückte, und »och heute, wo die be¬ treffende Person längst verschollen ist, will die Erinnerung nicht weichen an das Lebensgeschick, das sich in einer ernsten Stunde mit rücksichtsloser Offenheit vor meinen Blicken entrollte. Als Strafanstaltsbeamtin habe ich Gefängnis und Zuchthaus in allernächster Nähe kennen lernen. Jahrelang glitt die lange Kette der Zuchthäusler an mir vorüber, morgens zum Einmarsch in die Arbeitssäle und abends zum Einmarsch in die Schlafsäle. Täglich sinds dieselben Gesichter mit demselben Ausdruck, Haß, Re¬ signation oder Roheit; selten verschiebt sich die Kette, selten gibts ein andres Bild. Es war an einem eisigkalten Januarmorgen, als ich etwas nach sechs Uhr als diensthabende Oberbeamtin den Schlafsaal des Zuchthauses......betrat. Die Leute waren schon fertig zum Ausmarsch aus ihre» Kojen, das sind eiserne Ver¬ schlüge mit Türen, zur Hälfte aus Eisendraht, in denen nur Bett und Schemel Platz haben, herausgetreten. Das Glockenzeichen ertönte, und vorbei an mir zog der Zug über den nur matterhellten Hof. durch den mit eisiger Schärfe der Wind fegte, hinüber in die hellerleuchteten Arbeitssäle, in denen in wenig Augenblicken das Feuer im Ofen lustig prasseln und eine wohlige Wärme die erstarrten Glieder wieder aufwärmen wird. Die Hausordnung im Zuchthause schreibt vor, daß die weiblichen Sträflinge das Haar in der Mitte gescheitelt und die Flechten glatt um den Kopf gelegt tragen. Ohne Ausnahme muß diese Haartracht von allen, ob jung oder alt, getragen werden. So fiel es denn besonders auf, daß eine der letzten im Zuge ihr Haar unordentlich und lässig nur in einem dicken Knoten am Hinterkopf zusammengerafft hatte. Die Person war mir noch unbekannt, sie mußte also zum erstenmal in diesem Zuge gehn. Ich rief sie zu mir heran, fragte sie nach ihrem Namen und erfuhr im nächsten Augenblick von der Aufseherin, daß sie sich geweigert habe, ihr Haar ordnungsgemäß zu machen, daß sie überhaupt eine widerspenstige, heftige und unordentliche Person sei, die bei der nächsten Gelegenheit sicher auf eine Anzeige zu rechnen habe. Hedwtg R., so hieß das Mädchen, stand ruhig dabei; ohne eine Miene zu verziehen, hörte sie die Klagen der Aufseherin mit an. Auf meine Frage, ob sie die Hausordnung nicht kenne, und ob sie nicht wisse, daß Widerspenstigkeit streng bestraft werde, erhielt ich die ruhige und gleichgiltige Antwort: O ja, ich habe schon eine Zuchthaus- und verschiedne Gefängnisstrafen hinter mir, ich kenne die Hausordnung. Ich entließ sie nun mit dem Bemerken, daß ich trotz der traurigen Charakteristik, die mir die Aufseherin von ihr gegeben habe, hoffe, daß sie sich fügen Grenzboten IV 1908 86

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/649>, abgerufen am 25.08.2024.