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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Johann Friedrich von Schulte

gewaltiguug klagt. Aber erstens ist die Vergewaltigung keine Vergewaltigung
der Gewissen: in den Verkehr des Bischofs mit seiner Diözese, des Pfarrers
mit seiner Gemeinde greift die Staatsgewalt nicht ein; geistliche Amtshand¬
lungen werden nicht mit Strafe bedroht, nirgends widerstrebenden Gemeinden
Pfarrer aufgezwungen; und zweitens sind die Gesetze nicht von einer anders¬
gläubigen Mehrheit gemacht worden, sondern das nominell ganz katholische
französische Volk hat sie sich selbst gegeben. Ob die Abwendung der Masse des
Volkes vom Christentum, die bei dieser Trennung des Staates von der Kirche
offenbar geworden ist, dem Volke zum Heile gereicht, das ist eine andre Frage,
deren Beantwortung von der Zukunft erwartet werden muß; aber der römischen
Kurie gegenüber hat die französische Negierung jedenfalls die allein richtige
Stellung eingenommen.

Mit dieser Bemerkung hätten wir eigentlich eine Kritik des Hauptteils des
Schulteschen Buches eingeleitet, der aus Aktenstücken zur Geschichte der Mai¬
gesetzgebung und der Gründung der Altkatholikengemeiuschaft besteht; doch würde
eine solche Kritik sehr lang ausfallen und ist wohl auch nicht notwendig, da
diese Dinge, auch in den Grenzboten, hinlänglich durchgesprochen worden sind.
Der Verfasser zeichnet viele scharfe Charakterbilder historischer Persönlichkeiten
und erzählt manche interessante Anekdote. Die folgende verdient in weitern
Kreisen bekannt zu werden. Im kritischen Frühsommer 1866 sagte Schulte, der
den Haß der Italiener gegen Österreich kennen gelernt hatte, dem als Minister-
Präsident berufnen böhmischen Statthalter Grafen Belcredi, es würde am besten
sein, wenn Österreich Venezien gegen eine Entschädigung von 400 Millionen
Gulden an Italien abträte; dann hätte es den Rücken frei, falls es zum Kriege
mit Preußen komme, der freilich durch den Verzicht auf die Herzogtümer und
durch Nachgiebigkeit in der Frage des Vorsitzes im Bundestage vermieden werden
könne. Belcredi erwiderte: "Das geht nicht; auch können wir unsre Stellung
in Deutschland und unser Recht in Beziehung auf Schleswig-Holstein nicht
aufgeben und fürchten den Krieg nicht." Daß zwischen Preußen und Italien
ein Bündnisvertrag bestehe, wollte er nicht glauben; er lachte darüber. Schulte
entgegnete: "der Vertrag ist am 8. April in Berlin unterzeichnet worden." Er
erzählt: "Ich hatte die Osterferien in Berlin zugebracht, wo ich im British
Hotel logierte und den italienischen General Govone an der tMs ü'böte zum
Nachbarn hatte, auf dessen andrer Seite sein Adjutant saß. Am 8. April kam
Govone sehr spät, unterhielt sich leise mit dem Adjutanten über den Vertrag
und sagte: do sottoscritto. Nun wußte ich genug, mochte aber nicht mehr hören
und sagte, Govone eine Schüssel reichend: tavorisoa, Likörs. Erschrocken fing
Govone an, seinem Begleiter zu erzählen, er sei in Spandau gewesen und habe
die Festung besichtigt." In nicht wenigen Anekdoten ist Se. Bureaukratius die
Hauptfigur, der zum Beispiel einmal von Berlin aus der Benutzung von Ur¬
kunden Schwierigkeiten bereitete, die der Verwalter der französischen National¬
bibliothek, Delisle, dem deutschen Professor, der überhaupt in alle" französischen


Johann Friedrich von Schulte

gewaltiguug klagt. Aber erstens ist die Vergewaltigung keine Vergewaltigung
der Gewissen: in den Verkehr des Bischofs mit seiner Diözese, des Pfarrers
mit seiner Gemeinde greift die Staatsgewalt nicht ein; geistliche Amtshand¬
lungen werden nicht mit Strafe bedroht, nirgends widerstrebenden Gemeinden
Pfarrer aufgezwungen; und zweitens sind die Gesetze nicht von einer anders¬
gläubigen Mehrheit gemacht worden, sondern das nominell ganz katholische
französische Volk hat sie sich selbst gegeben. Ob die Abwendung der Masse des
Volkes vom Christentum, die bei dieser Trennung des Staates von der Kirche
offenbar geworden ist, dem Volke zum Heile gereicht, das ist eine andre Frage,
deren Beantwortung von der Zukunft erwartet werden muß; aber der römischen
Kurie gegenüber hat die französische Negierung jedenfalls die allein richtige
Stellung eingenommen.

Mit dieser Bemerkung hätten wir eigentlich eine Kritik des Hauptteils des
Schulteschen Buches eingeleitet, der aus Aktenstücken zur Geschichte der Mai¬
gesetzgebung und der Gründung der Altkatholikengemeiuschaft besteht; doch würde
eine solche Kritik sehr lang ausfallen und ist wohl auch nicht notwendig, da
diese Dinge, auch in den Grenzboten, hinlänglich durchgesprochen worden sind.
Der Verfasser zeichnet viele scharfe Charakterbilder historischer Persönlichkeiten
und erzählt manche interessante Anekdote. Die folgende verdient in weitern
Kreisen bekannt zu werden. Im kritischen Frühsommer 1866 sagte Schulte, der
den Haß der Italiener gegen Österreich kennen gelernt hatte, dem als Minister-
Präsident berufnen böhmischen Statthalter Grafen Belcredi, es würde am besten
sein, wenn Österreich Venezien gegen eine Entschädigung von 400 Millionen
Gulden an Italien abträte; dann hätte es den Rücken frei, falls es zum Kriege
mit Preußen komme, der freilich durch den Verzicht auf die Herzogtümer und
durch Nachgiebigkeit in der Frage des Vorsitzes im Bundestage vermieden werden
könne. Belcredi erwiderte: „Das geht nicht; auch können wir unsre Stellung
in Deutschland und unser Recht in Beziehung auf Schleswig-Holstein nicht
aufgeben und fürchten den Krieg nicht." Daß zwischen Preußen und Italien
ein Bündnisvertrag bestehe, wollte er nicht glauben; er lachte darüber. Schulte
entgegnete: „der Vertrag ist am 8. April in Berlin unterzeichnet worden." Er
erzählt: „Ich hatte die Osterferien in Berlin zugebracht, wo ich im British
Hotel logierte und den italienischen General Govone an der tMs ü'böte zum
Nachbarn hatte, auf dessen andrer Seite sein Adjutant saß. Am 8. April kam
Govone sehr spät, unterhielt sich leise mit dem Adjutanten über den Vertrag
und sagte: do sottoscritto. Nun wußte ich genug, mochte aber nicht mehr hören
und sagte, Govone eine Schüssel reichend: tavorisoa, Likörs. Erschrocken fing
Govone an, seinem Begleiter zu erzählen, er sei in Spandau gewesen und habe
die Festung besichtigt." In nicht wenigen Anekdoten ist Se. Bureaukratius die
Hauptfigur, der zum Beispiel einmal von Berlin aus der Benutzung von Ur¬
kunden Schwierigkeiten bereitete, die der Verwalter der französischen National¬
bibliothek, Delisle, dem deutschen Professor, der überhaupt in alle» französischen


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[0645] Johann Friedrich von Schulte gewaltiguug klagt. Aber erstens ist die Vergewaltigung keine Vergewaltigung der Gewissen: in den Verkehr des Bischofs mit seiner Diözese, des Pfarrers mit seiner Gemeinde greift die Staatsgewalt nicht ein; geistliche Amtshand¬ lungen werden nicht mit Strafe bedroht, nirgends widerstrebenden Gemeinden Pfarrer aufgezwungen; und zweitens sind die Gesetze nicht von einer anders¬ gläubigen Mehrheit gemacht worden, sondern das nominell ganz katholische französische Volk hat sie sich selbst gegeben. Ob die Abwendung der Masse des Volkes vom Christentum, die bei dieser Trennung des Staates von der Kirche offenbar geworden ist, dem Volke zum Heile gereicht, das ist eine andre Frage, deren Beantwortung von der Zukunft erwartet werden muß; aber der römischen Kurie gegenüber hat die französische Negierung jedenfalls die allein richtige Stellung eingenommen. Mit dieser Bemerkung hätten wir eigentlich eine Kritik des Hauptteils des Schulteschen Buches eingeleitet, der aus Aktenstücken zur Geschichte der Mai¬ gesetzgebung und der Gründung der Altkatholikengemeiuschaft besteht; doch würde eine solche Kritik sehr lang ausfallen und ist wohl auch nicht notwendig, da diese Dinge, auch in den Grenzboten, hinlänglich durchgesprochen worden sind. Der Verfasser zeichnet viele scharfe Charakterbilder historischer Persönlichkeiten und erzählt manche interessante Anekdote. Die folgende verdient in weitern Kreisen bekannt zu werden. Im kritischen Frühsommer 1866 sagte Schulte, der den Haß der Italiener gegen Österreich kennen gelernt hatte, dem als Minister- Präsident berufnen böhmischen Statthalter Grafen Belcredi, es würde am besten sein, wenn Österreich Venezien gegen eine Entschädigung von 400 Millionen Gulden an Italien abträte; dann hätte es den Rücken frei, falls es zum Kriege mit Preußen komme, der freilich durch den Verzicht auf die Herzogtümer und durch Nachgiebigkeit in der Frage des Vorsitzes im Bundestage vermieden werden könne. Belcredi erwiderte: „Das geht nicht; auch können wir unsre Stellung in Deutschland und unser Recht in Beziehung auf Schleswig-Holstein nicht aufgeben und fürchten den Krieg nicht." Daß zwischen Preußen und Italien ein Bündnisvertrag bestehe, wollte er nicht glauben; er lachte darüber. Schulte entgegnete: „der Vertrag ist am 8. April in Berlin unterzeichnet worden." Er erzählt: „Ich hatte die Osterferien in Berlin zugebracht, wo ich im British Hotel logierte und den italienischen General Govone an der tMs ü'böte zum Nachbarn hatte, auf dessen andrer Seite sein Adjutant saß. Am 8. April kam Govone sehr spät, unterhielt sich leise mit dem Adjutanten über den Vertrag und sagte: do sottoscritto. Nun wußte ich genug, mochte aber nicht mehr hören und sagte, Govone eine Schüssel reichend: tavorisoa, Likörs. Erschrocken fing Govone an, seinem Begleiter zu erzählen, er sei in Spandau gewesen und habe die Festung besichtigt." In nicht wenigen Anekdoten ist Se. Bureaukratius die Hauptfigur, der zum Beispiel einmal von Berlin aus der Benutzung von Ur¬ kunden Schwierigkeiten bereitete, die der Verwalter der französischen National¬ bibliothek, Delisle, dem deutschen Professor, der überhaupt in alle» französischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/645>, abgerufen am 22.07.2024.