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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Natur

Charaktereigenschaften aller deutschen Stämme: die Freude an der Natur,
mehr und mehr abhanden gekommen ist. Zwar haben die modernen Ver¬
kehrsverhältnisse das Reisen erleichtert; in kaum vierundzwanzig Stunden
kann der deutsche Binnenländer die Fjorde Norwegens und die Gestade des
Mittelmeers erreichen, und er macht auch von der Gelegenheit, fremde Gegenden
zu besuchen, ausgiebigen Gebrauch, aber die Schnelligkeit des Reifens und
das gesellschaftliche Leben in den großen Fremdenzentren lassen ihn kaum
zum flüchtigen Genusse landschaftlicher Reize, geschweige denn zu einer sinnigen
Betrcichtuug der organischen Natur, der Fauna und Flora der bereisten
Gegenden kommen.

Die Trostlosigkeit der großstädtischen Steinwüsten ist von deren Be¬
wohnern längst schmerzlich empfunden worden, und man arbeitet allenthalben
daran, jeden Quadratmeter des noch unbebauten Bodens für die Allgemein¬
heit zu retten und in der Form von öffentlichen Gartenanlagen Oasen zu
schaffen, die das Auge des Passanten durch das Grün ihrer Rasenflächen
und Baumpflanzungen erfreuen. Aber es ist eine künstlich geschaffne, zurecht¬
gestutzte und frisierte Natur, die da entsteht, und die den Einsichtigen nicht
über die Ode des Großstadtlebens hinwegzutäuschen vermag. Und so ertönt
der sehnsüchtige Ruf: "Zurück zur Natur, zur echten, ursprünglichen Natur
unsers schönen Vaterlandes!" immer lauter.

Allerdings: in der theoretischen Kenntnis der Natur haben wirs herrlich
weit gebracht. Leute, die nie in ihrem Leben die Metamorphose eines
Schmetterlings mit eignen Augen beobachtet haben, vertiefen sich mit heißem
Bemühen in wissenschaftliche Werke über biologische Fragen, über die Ent¬
stehung der Arten, über Anpassung, Mimikry und Symbiose, und jede noch
so gewagte Hypothese findet begeisterte Anhänger, eben weil den meisten
Wissensdurstigen die elementarsten Naturkenntnisse und deshalb auch die Fähig¬
keit der Kritik fehlen. Erfreulicherweise hat die Schule diesen Mißstand er¬
kannt, und die Einsicht, daß die Basis alles Wissens die Vertrautheit mit
der Natur der engern Heimat sein muß, bricht sich in den führenden päda¬
gogischen Kreisen immer mehr Bahn. Vereine haben sich gebildet, die es
als ihre Aufgabe betrachten, im aufklärenden Sinne zu wirken und für die
gebührende Würdigung und Erhaltung unsrer "Naturdenkmäler" Propaganda
zu machen. Aber es muß noch mehr geschehen. Solange jeder Deutsche,
und sei es der einfachste Mann, solange ganz besonders die deutsche Jugend
noch nicht im großen Vaterhause der deutschen Natur völlig daheim ist, gibt
es noch viel zu tun.

In den Dienst dieser Bestrebungen hat sich neuerdings auch die Firma
Friedrich Wilhelm Grunvw gestellt. Sie hat auf Anregung Hanns Fechners
im vergangnen Jahre eine" Vogelkalender zur Einführung in unsre
heimische Vogelwelt herausgebracht, dessen Verfasser der bekannte Orni-
tholvge Otto Kleinschmidt und dessen Illustrator Berthold Clauß ist.


Die deutsche Natur

Charaktereigenschaften aller deutschen Stämme: die Freude an der Natur,
mehr und mehr abhanden gekommen ist. Zwar haben die modernen Ver¬
kehrsverhältnisse das Reisen erleichtert; in kaum vierundzwanzig Stunden
kann der deutsche Binnenländer die Fjorde Norwegens und die Gestade des
Mittelmeers erreichen, und er macht auch von der Gelegenheit, fremde Gegenden
zu besuchen, ausgiebigen Gebrauch, aber die Schnelligkeit des Reifens und
das gesellschaftliche Leben in den großen Fremdenzentren lassen ihn kaum
zum flüchtigen Genusse landschaftlicher Reize, geschweige denn zu einer sinnigen
Betrcichtuug der organischen Natur, der Fauna und Flora der bereisten
Gegenden kommen.

Die Trostlosigkeit der großstädtischen Steinwüsten ist von deren Be¬
wohnern längst schmerzlich empfunden worden, und man arbeitet allenthalben
daran, jeden Quadratmeter des noch unbebauten Bodens für die Allgemein¬
heit zu retten und in der Form von öffentlichen Gartenanlagen Oasen zu
schaffen, die das Auge des Passanten durch das Grün ihrer Rasenflächen
und Baumpflanzungen erfreuen. Aber es ist eine künstlich geschaffne, zurecht¬
gestutzte und frisierte Natur, die da entsteht, und die den Einsichtigen nicht
über die Ode des Großstadtlebens hinwegzutäuschen vermag. Und so ertönt
der sehnsüchtige Ruf: „Zurück zur Natur, zur echten, ursprünglichen Natur
unsers schönen Vaterlandes!" immer lauter.

Allerdings: in der theoretischen Kenntnis der Natur haben wirs herrlich
weit gebracht. Leute, die nie in ihrem Leben die Metamorphose eines
Schmetterlings mit eignen Augen beobachtet haben, vertiefen sich mit heißem
Bemühen in wissenschaftliche Werke über biologische Fragen, über die Ent¬
stehung der Arten, über Anpassung, Mimikry und Symbiose, und jede noch
so gewagte Hypothese findet begeisterte Anhänger, eben weil den meisten
Wissensdurstigen die elementarsten Naturkenntnisse und deshalb auch die Fähig¬
keit der Kritik fehlen. Erfreulicherweise hat die Schule diesen Mißstand er¬
kannt, und die Einsicht, daß die Basis alles Wissens die Vertrautheit mit
der Natur der engern Heimat sein muß, bricht sich in den führenden päda¬
gogischen Kreisen immer mehr Bahn. Vereine haben sich gebildet, die es
als ihre Aufgabe betrachten, im aufklärenden Sinne zu wirken und für die
gebührende Würdigung und Erhaltung unsrer „Naturdenkmäler" Propaganda
zu machen. Aber es muß noch mehr geschehen. Solange jeder Deutsche,
und sei es der einfachste Mann, solange ganz besonders die deutsche Jugend
noch nicht im großen Vaterhause der deutschen Natur völlig daheim ist, gibt
es noch viel zu tun.

In den Dienst dieser Bestrebungen hat sich neuerdings auch die Firma
Friedrich Wilhelm Grunvw gestellt. Sie hat auf Anregung Hanns Fechners
im vergangnen Jahre eine» Vogelkalender zur Einführung in unsre
heimische Vogelwelt herausgebracht, dessen Verfasser der bekannte Orni-
tholvge Otto Kleinschmidt und dessen Illustrator Berthold Clauß ist.


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[0597] Die deutsche Natur Charaktereigenschaften aller deutschen Stämme: die Freude an der Natur, mehr und mehr abhanden gekommen ist. Zwar haben die modernen Ver¬ kehrsverhältnisse das Reisen erleichtert; in kaum vierundzwanzig Stunden kann der deutsche Binnenländer die Fjorde Norwegens und die Gestade des Mittelmeers erreichen, und er macht auch von der Gelegenheit, fremde Gegenden zu besuchen, ausgiebigen Gebrauch, aber die Schnelligkeit des Reifens und das gesellschaftliche Leben in den großen Fremdenzentren lassen ihn kaum zum flüchtigen Genusse landschaftlicher Reize, geschweige denn zu einer sinnigen Betrcichtuug der organischen Natur, der Fauna und Flora der bereisten Gegenden kommen. Die Trostlosigkeit der großstädtischen Steinwüsten ist von deren Be¬ wohnern längst schmerzlich empfunden worden, und man arbeitet allenthalben daran, jeden Quadratmeter des noch unbebauten Bodens für die Allgemein¬ heit zu retten und in der Form von öffentlichen Gartenanlagen Oasen zu schaffen, die das Auge des Passanten durch das Grün ihrer Rasenflächen und Baumpflanzungen erfreuen. Aber es ist eine künstlich geschaffne, zurecht¬ gestutzte und frisierte Natur, die da entsteht, und die den Einsichtigen nicht über die Ode des Großstadtlebens hinwegzutäuschen vermag. Und so ertönt der sehnsüchtige Ruf: „Zurück zur Natur, zur echten, ursprünglichen Natur unsers schönen Vaterlandes!" immer lauter. Allerdings: in der theoretischen Kenntnis der Natur haben wirs herrlich weit gebracht. Leute, die nie in ihrem Leben die Metamorphose eines Schmetterlings mit eignen Augen beobachtet haben, vertiefen sich mit heißem Bemühen in wissenschaftliche Werke über biologische Fragen, über die Ent¬ stehung der Arten, über Anpassung, Mimikry und Symbiose, und jede noch so gewagte Hypothese findet begeisterte Anhänger, eben weil den meisten Wissensdurstigen die elementarsten Naturkenntnisse und deshalb auch die Fähig¬ keit der Kritik fehlen. Erfreulicherweise hat die Schule diesen Mißstand er¬ kannt, und die Einsicht, daß die Basis alles Wissens die Vertrautheit mit der Natur der engern Heimat sein muß, bricht sich in den führenden päda¬ gogischen Kreisen immer mehr Bahn. Vereine haben sich gebildet, die es als ihre Aufgabe betrachten, im aufklärenden Sinne zu wirken und für die gebührende Würdigung und Erhaltung unsrer „Naturdenkmäler" Propaganda zu machen. Aber es muß noch mehr geschehen. Solange jeder Deutsche, und sei es der einfachste Mann, solange ganz besonders die deutsche Jugend noch nicht im großen Vaterhause der deutschen Natur völlig daheim ist, gibt es noch viel zu tun. In den Dienst dieser Bestrebungen hat sich neuerdings auch die Firma Friedrich Wilhelm Grunvw gestellt. Sie hat auf Anregung Hanns Fechners im vergangnen Jahre eine» Vogelkalender zur Einführung in unsre heimische Vogelwelt herausgebracht, dessen Verfasser der bekannte Orni- tholvge Otto Kleinschmidt und dessen Illustrator Berthold Clauß ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/597>, abgerufen am 22.07.2024.