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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

ich oben gezeichnet habe, aber es ist auf ihr freilich endlich wieder ein starkes
und ungewöhnliches Werk, wie wir es von Frau Viebig so lange schon er¬
wartet haben. Auch sie ist keine Heimatkünstlerin im engen Sinn, aber sie kann
sich zur großen Kunst nur emporschwingen von dem Boden ihres Heimatlandes
her. Wie es bezeichnend war, daß in "Einer Mutter Sohn" die Schwäche
einsetzte, nachdem das Venn verlassen war, so hatte sie in ^.dsolvo es vollends
den Boden unter den Füßen verloren und war an Konflikten gescheitert, zu
deren Darstellung ihr äußere und innere Maßstäbe fehlten. Hier, wo sie wieder
in jedem Sinne ganz zu Hause ist, bringt sie eine Fülle echter Menschen, ein
Stück großer Natur. Ich habe vor der Schilderung der Gestalten des Dorfes
Heckenbroich gelegentlich an Mittels Bauern und Feldarbeiter denken müssen,
wie sie sich in großen Linien, menschlich und dennoch über gewöhnliches Maß
erhöht, von Feld und Himmel abheben. So ist denn das Venn wirklich Angel¬
punkt und nicht nur Milieu dieses Romans geworden, und Clara Viebig er¬
scheint, indem sie da anknüpft, wo sie einst aufhörte, wieder wegesgewiß auf
den Spuren, die sie einst zur "Wacht am Rhein" führten. Ja, das geht bis
in Einzelheiten: die Schilderung des polnischen Katholizismus in L.bsolvo
konnte ich einst an dieser Stelle nicht als echt gelten lassen -- die Echternacher
Springprozession "und die Gläubigkeit dieser Eifelbewohner macht den Eindruck
unbedingter Lebenstreue. Das Zolasche Element, das Clara Viebig ohne Zweifel
hat, kommt ihr hier zugute, wo ihre Verwachsenheit mit dem Boden doch der
exakten Schilderung die Wärme gibt, ohne die wir selbst vor einem Werk nicht
warm werden können.

Noch ein drittesmal sei Theodor Fontane genannt. Der Verlag von S. Fischer
veröffentlicht eine Bibliothek zeitgenössischer Romane zu dem außerordentlich
billigen Preis von einer Mark für den zehn Bogen starken, gut gedruckten und
gebundnen Band. Als erstes Werk bringt der Verlag Fontanes "L'Adultera",
sicherlich nicht sein stärkstes, aber eines seiner interessantesten Bücher. Es zeigt
Fontane im Übergang von den Kriminalromanen früherer Jahre zu den Berliner
Romanen seiner Altersreife; und wir bewundern schon hier die Feinheit im
Detail, den Reiz der Gespräche, die Kunst, durch Andeutung zu malen. Und
typisch tritt hier schon die Frage auf, die dann bis heute immer wieder unsre
Literatur durchdringt: wohin treiben wir? Es ist gewiß merkwürdig, daß sie
sich in den Büchern immer noch nicht in die Frage: wie handeln wir? umsetzt;
und auch in diesem Sinne wird man sagen müssen, daß die Prosaepik des
industriellen Deutschlands schwächere Muskeln und schmächtiger" Bau hat als
die des viel verspotteten Volks der Dichter und Denker. Die Frage aber,
inwiefern diese Gegensätze zwischen Wirklichkeit und Literatur einem ursächlichen
Zusammenhang entspringen, wird vielleicht ein andrer -- am Ende versucht es
Carl Jentsch einmal -- an dieser Stelle besser beantworten können als ich.




Neue Romane und Novellen

ich oben gezeichnet habe, aber es ist auf ihr freilich endlich wieder ein starkes
und ungewöhnliches Werk, wie wir es von Frau Viebig so lange schon er¬
wartet haben. Auch sie ist keine Heimatkünstlerin im engen Sinn, aber sie kann
sich zur großen Kunst nur emporschwingen von dem Boden ihres Heimatlandes
her. Wie es bezeichnend war, daß in „Einer Mutter Sohn" die Schwäche
einsetzte, nachdem das Venn verlassen war, so hatte sie in ^.dsolvo es vollends
den Boden unter den Füßen verloren und war an Konflikten gescheitert, zu
deren Darstellung ihr äußere und innere Maßstäbe fehlten. Hier, wo sie wieder
in jedem Sinne ganz zu Hause ist, bringt sie eine Fülle echter Menschen, ein
Stück großer Natur. Ich habe vor der Schilderung der Gestalten des Dorfes
Heckenbroich gelegentlich an Mittels Bauern und Feldarbeiter denken müssen,
wie sie sich in großen Linien, menschlich und dennoch über gewöhnliches Maß
erhöht, von Feld und Himmel abheben. So ist denn das Venn wirklich Angel¬
punkt und nicht nur Milieu dieses Romans geworden, und Clara Viebig er¬
scheint, indem sie da anknüpft, wo sie einst aufhörte, wieder wegesgewiß auf
den Spuren, die sie einst zur „Wacht am Rhein" führten. Ja, das geht bis
in Einzelheiten: die Schilderung des polnischen Katholizismus in L.bsolvo
konnte ich einst an dieser Stelle nicht als echt gelten lassen — die Echternacher
Springprozession »und die Gläubigkeit dieser Eifelbewohner macht den Eindruck
unbedingter Lebenstreue. Das Zolasche Element, das Clara Viebig ohne Zweifel
hat, kommt ihr hier zugute, wo ihre Verwachsenheit mit dem Boden doch der
exakten Schilderung die Wärme gibt, ohne die wir selbst vor einem Werk nicht
warm werden können.

Noch ein drittesmal sei Theodor Fontane genannt. Der Verlag von S. Fischer
veröffentlicht eine Bibliothek zeitgenössischer Romane zu dem außerordentlich
billigen Preis von einer Mark für den zehn Bogen starken, gut gedruckten und
gebundnen Band. Als erstes Werk bringt der Verlag Fontanes „L'Adultera",
sicherlich nicht sein stärkstes, aber eines seiner interessantesten Bücher. Es zeigt
Fontane im Übergang von den Kriminalromanen früherer Jahre zu den Berliner
Romanen seiner Altersreife; und wir bewundern schon hier die Feinheit im
Detail, den Reiz der Gespräche, die Kunst, durch Andeutung zu malen. Und
typisch tritt hier schon die Frage auf, die dann bis heute immer wieder unsre
Literatur durchdringt: wohin treiben wir? Es ist gewiß merkwürdig, daß sie
sich in den Büchern immer noch nicht in die Frage: wie handeln wir? umsetzt;
und auch in diesem Sinne wird man sagen müssen, daß die Prosaepik des
industriellen Deutschlands schwächere Muskeln und schmächtiger» Bau hat als
die des viel verspotteten Volks der Dichter und Denker. Die Frage aber,
inwiefern diese Gegensätze zwischen Wirklichkeit und Literatur einem ursächlichen
Zusammenhang entspringen, wird vielleicht ein andrer — am Ende versucht es
Carl Jentsch einmal — an dieser Stelle besser beantworten können als ich.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/552>, abgerufen am 22.07.2024.