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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Miltonfeier

Deutschen die Sprache Goethes in der Iphigenie oder in seinen zartesten
lyrischen Gedichten sagt, wie sie zu unserm Innersten spricht, das kann ein
Fremder nur in abgeschwächtem und unsicherm Maße empfinden. Und es ist
mehr oder weniger so mit jeder Sprachdichtung. Immerhin vermögen wir
durch treuliches Einlesen auch von den fremdsprachlichen Klängen her starke
Wirkung zu empfangen, wir können auch als Deutsche Sophokles, Tasso und
so viele andre in der Ursprache lieben. Zu diesen vielen andern gehört sicher
nicht an letzter Stelle Milton.*)

Ist doch bei ihm, mehr als bei so vielen, das, was hinter der Sprache
gefühlt wird, oder was aus ihr herausklingt, eine einzigartig starke, hohe, reine,
heldenhafte Seele. Und durch alles zusammen, die Seele des Dichters, den
Vollton der Verse und das Gewaltige der geschilderten Vorgänge, erhält die
Dichtung einen Charakter des Majestätischen, wie er nicht leicht seinesgleichen
findet. Man weiß im deutschen Publikum meist nicht, daß der Text von
Haydns Schöpfung der Dichtung Miltons entnommen ist, und daß es Miltons
Drama Liunson ^.AovisrsL ist, worauf Händel sein Samson-Oratorium auf¬
gebaut hat. Oratorienton in der Tat ist es, den wir überall aus den großen
Dichtungen Miltons vernehmen, nachdem ein lind dahingleitender Harfenton in
den schönsten seiner Jugenddichtungen erklungen war, im I^eiclW, dieser un¬
endlich zarten und reichen Elegie auf den Tod eines Freundes, wie in den
beiden ^Ac^ro und ?evssro80 benannten Stimmungsergießungen. Milton,
der gleich Luther nicht aufhörte, sich an edler Hausmusik zu erfreuen, hatte
nicht zufällig die Orgel zu seinem Instrument erkoren, und oft erscholl zu ihren
Klängen Gesang in den Wohnräumen des früh Erblindeten. Und wie hier alles
innerlich zusammenstimmt, so tönt auch -- damit wir die Worte eines deutschen
Verehrers (Hettners) nachsprechen -- das hohe Lied vom Verlornen Paradiese
"wie vielstimmiger Orgelklang einher, bald mächtig rauschend und bald auch
leise flüsternd".

Durch welche Kunstmittel diese Kraft und dieser Zauber der Sprache ver¬
liehen ist. haben die literarischen Kritiker sorgfältig untersucht und nach Mög¬
lichkeit nachgewiesen. Natürlich sind solche "Mittel" nicht berechnet, sondern
vom Genius unmittelbar ergriffen. Und sie sind schließlich doch etwas Geringes
gegenüber der Gestaltungskraft der dichterischen Phantasie, durch die Milton
ohne jede Widerrede unter den Größten aller Zeiten Stellung nimmt. Das
Innenleben der tatsächlichen Hauptgestalt, des Führers der rebellischen und ge¬
stürzten Engel, die Schöpfung der Reihe dämonischer Typen um ihn, das reich
differenzierte innere und äußere Leben der verdammten Himmelsrebellen in den
höllischen Bereichen, die einzigartig unheimlichen Schattengestalten von Sünde



5) In der Reihe der seit 1682 erschienenen deutschen Übersetzungen dürfte die genau
zweihundert Jahre nach dem Original, also 1867, vom Verlag des Bibliographischen Instituts zu
Hildburghausen veröffentlichte Übertragung von Karl Eitner die letzte und beste geblieben sein.
Miltonfeier

Deutschen die Sprache Goethes in der Iphigenie oder in seinen zartesten
lyrischen Gedichten sagt, wie sie zu unserm Innersten spricht, das kann ein
Fremder nur in abgeschwächtem und unsicherm Maße empfinden. Und es ist
mehr oder weniger so mit jeder Sprachdichtung. Immerhin vermögen wir
durch treuliches Einlesen auch von den fremdsprachlichen Klängen her starke
Wirkung zu empfangen, wir können auch als Deutsche Sophokles, Tasso und
so viele andre in der Ursprache lieben. Zu diesen vielen andern gehört sicher
nicht an letzter Stelle Milton.*)

Ist doch bei ihm, mehr als bei so vielen, das, was hinter der Sprache
gefühlt wird, oder was aus ihr herausklingt, eine einzigartig starke, hohe, reine,
heldenhafte Seele. Und durch alles zusammen, die Seele des Dichters, den
Vollton der Verse und das Gewaltige der geschilderten Vorgänge, erhält die
Dichtung einen Charakter des Majestätischen, wie er nicht leicht seinesgleichen
findet. Man weiß im deutschen Publikum meist nicht, daß der Text von
Haydns Schöpfung der Dichtung Miltons entnommen ist, und daß es Miltons
Drama Liunson ^.AovisrsL ist, worauf Händel sein Samson-Oratorium auf¬
gebaut hat. Oratorienton in der Tat ist es, den wir überall aus den großen
Dichtungen Miltons vernehmen, nachdem ein lind dahingleitender Harfenton in
den schönsten seiner Jugenddichtungen erklungen war, im I^eiclW, dieser un¬
endlich zarten und reichen Elegie auf den Tod eines Freundes, wie in den
beiden ^Ac^ro und ?evssro80 benannten Stimmungsergießungen. Milton,
der gleich Luther nicht aufhörte, sich an edler Hausmusik zu erfreuen, hatte
nicht zufällig die Orgel zu seinem Instrument erkoren, und oft erscholl zu ihren
Klängen Gesang in den Wohnräumen des früh Erblindeten. Und wie hier alles
innerlich zusammenstimmt, so tönt auch — damit wir die Worte eines deutschen
Verehrers (Hettners) nachsprechen — das hohe Lied vom Verlornen Paradiese
„wie vielstimmiger Orgelklang einher, bald mächtig rauschend und bald auch
leise flüsternd".

Durch welche Kunstmittel diese Kraft und dieser Zauber der Sprache ver¬
liehen ist. haben die literarischen Kritiker sorgfältig untersucht und nach Mög¬
lichkeit nachgewiesen. Natürlich sind solche „Mittel" nicht berechnet, sondern
vom Genius unmittelbar ergriffen. Und sie sind schließlich doch etwas Geringes
gegenüber der Gestaltungskraft der dichterischen Phantasie, durch die Milton
ohne jede Widerrede unter den Größten aller Zeiten Stellung nimmt. Das
Innenleben der tatsächlichen Hauptgestalt, des Führers der rebellischen und ge¬
stürzten Engel, die Schöpfung der Reihe dämonischer Typen um ihn, das reich
differenzierte innere und äußere Leben der verdammten Himmelsrebellen in den
höllischen Bereichen, die einzigartig unheimlichen Schattengestalten von Sünde



5) In der Reihe der seit 1682 erschienenen deutschen Übersetzungen dürfte die genau
zweihundert Jahre nach dem Original, also 1867, vom Verlag des Bibliographischen Instituts zu
Hildburghausen veröffentlichte Übertragung von Karl Eitner die letzte und beste geblieben sein.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/544>, abgerufen am 22.07.2024.