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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Höhe bleibt. In derselben Statistik wird die stärkere Beteiligung der Jugend
am Verbrechertum auf die Tatsache zurückgeführt, daß heute in der Presse alles
gesagt, ausgebreitet, gedruckt und gezeichnet wird. Danach trägt also die Presse
einen großen Teil der Schuld. Allerdings übersteigt jetzt die Reportage Pariser
Zeitungen bei sensationellen Verbrechen alle Grenzen des Geschmacks und der
Gesittung. Die gräßlichsten Einzelheiten werden bei Morden in den Zeitungen
Photvgraphisch wiedergegeben. Man sieht nackte Frauenleichcn in Blutlachen
auf dem Boden. Die Gliedmaßen zerstückelter Leichname werden sorgfältig
numeriert nebeneinander vor Augen geführt, und die Bilder der Herren Mörder
nehmen natürlich den Hauptplatz ein. Für einen Pariser Apachen ist es fast
Ehrensache geworden, in der Pariser bürgerlichen Presse als glorreicher Ver¬
brecher abkonterfeit zu werden. Und es ist ganz selbstverständlich, daß durch
diese Reklame das jugendliche Gemüt am stärksten getroffen wird. Im Jahre 1905
wurde" in Paris, namentlich im Westen der Stadt. 36 Morde oder Mord¬
versuche verübt, bei denen das jugendliche Alter der Verbrecher auffiel. Keiner
von ihnen war zwanzig Jahre alt! Die wachsende Beteiligung der Jugend
am Verbrechen, und zwar am schweren Verbrechen, wird deshalb in Frankreich
nirgendwo ernstlich bezweifelt. Über die Ursachen dieser Erscheinung, von denen
ich schon einige erwähnt habe, ist man sich allerdings nicht ganz so einig, wie
aus dem Verlauf der folgenden Darlegungen hervorgehn wird.

Vergessen darf man nicht, um damit zu beginnen, daß ein im sozialen
Leben der modernen Völker immer wichtiger werdender Faktor, nämlich die
Fabrik, an der Verderbnis auch der französischen Jugend zum Teil mit schuld
ist. wenn auch kaum jemand so weit gehn wird wie Herr Viviani, der in der
Tyrannei des kapitalistischen Systems und der Verelendung der Massen die
Hauptursachen für das Anwachsen des jugendlichen Verbrechertums sieht und
die Fabrik das Laboratorium des Verbrechens nennt. Allerdings war Herr
Viviani, als er diesen Ausspruch tat, uoch nicht Arbeitsminister im Kabinett
Clemenceau. sondern einfacher sozialistischer Journalist und Mitarbeiter der
Laterne. .Und ich weiß nicht, ob er heute noch ganz so absprechend ur¬
teilen wird. Unschuldig ist freilich die französische Bourgeoisie durchaus nicht.
Durch ihre innere Gleichgiltigkeit gegenüber der Frage und ihre Unterlassungs¬
sünden hat sie vielmehr' zweifellos das jugendliche Verbrechertum mit gro߬
züchten helfen.

Mit welcher Fahrlässigkeit zum Beispiel behandelt sie die Unterbringung
der jugendlichen Vagabunden. Daß diese unbedingt von der Straße aufgelesen
werden müßten, noch ehe sie ein Verbrechen begehn, ist eine selbstverständliche
Forderung, bei deren Verwirklichung es in Frankreich aber außerordentlich
hapert. Die Gesellschaft vergißt, die pflichtvergeßnen Eltern zur Rechenschaft
^ ziehn. die ihre Kinder, statt sie in die Schule zu schicken, auf der Straße
herumbummeln lassen. Aber gegen eine einigermaßen wirksame und energische
Überwachung des Familienlebens zum Zwecke der Zurückdrängung der Va-
gabondage bäumt sich die französische Auffassung von Freiheit auf. Vielen


Höhe bleibt. In derselben Statistik wird die stärkere Beteiligung der Jugend
am Verbrechertum auf die Tatsache zurückgeführt, daß heute in der Presse alles
gesagt, ausgebreitet, gedruckt und gezeichnet wird. Danach trägt also die Presse
einen großen Teil der Schuld. Allerdings übersteigt jetzt die Reportage Pariser
Zeitungen bei sensationellen Verbrechen alle Grenzen des Geschmacks und der
Gesittung. Die gräßlichsten Einzelheiten werden bei Morden in den Zeitungen
Photvgraphisch wiedergegeben. Man sieht nackte Frauenleichcn in Blutlachen
auf dem Boden. Die Gliedmaßen zerstückelter Leichname werden sorgfältig
numeriert nebeneinander vor Augen geführt, und die Bilder der Herren Mörder
nehmen natürlich den Hauptplatz ein. Für einen Pariser Apachen ist es fast
Ehrensache geworden, in der Pariser bürgerlichen Presse als glorreicher Ver¬
brecher abkonterfeit zu werden. Und es ist ganz selbstverständlich, daß durch
diese Reklame das jugendliche Gemüt am stärksten getroffen wird. Im Jahre 1905
wurde« in Paris, namentlich im Westen der Stadt. 36 Morde oder Mord¬
versuche verübt, bei denen das jugendliche Alter der Verbrecher auffiel. Keiner
von ihnen war zwanzig Jahre alt! Die wachsende Beteiligung der Jugend
am Verbrechen, und zwar am schweren Verbrechen, wird deshalb in Frankreich
nirgendwo ernstlich bezweifelt. Über die Ursachen dieser Erscheinung, von denen
ich schon einige erwähnt habe, ist man sich allerdings nicht ganz so einig, wie
aus dem Verlauf der folgenden Darlegungen hervorgehn wird.

Vergessen darf man nicht, um damit zu beginnen, daß ein im sozialen
Leben der modernen Völker immer wichtiger werdender Faktor, nämlich die
Fabrik, an der Verderbnis auch der französischen Jugend zum Teil mit schuld
ist. wenn auch kaum jemand so weit gehn wird wie Herr Viviani, der in der
Tyrannei des kapitalistischen Systems und der Verelendung der Massen die
Hauptursachen für das Anwachsen des jugendlichen Verbrechertums sieht und
die Fabrik das Laboratorium des Verbrechens nennt. Allerdings war Herr
Viviani, als er diesen Ausspruch tat, uoch nicht Arbeitsminister im Kabinett
Clemenceau. sondern einfacher sozialistischer Journalist und Mitarbeiter der
Laterne. .Und ich weiß nicht, ob er heute noch ganz so absprechend ur¬
teilen wird. Unschuldig ist freilich die französische Bourgeoisie durchaus nicht.
Durch ihre innere Gleichgiltigkeit gegenüber der Frage und ihre Unterlassungs¬
sünden hat sie vielmehr' zweifellos das jugendliche Verbrechertum mit gro߬
züchten helfen.

Mit welcher Fahrlässigkeit zum Beispiel behandelt sie die Unterbringung
der jugendlichen Vagabunden. Daß diese unbedingt von der Straße aufgelesen
werden müßten, noch ehe sie ein Verbrechen begehn, ist eine selbstverständliche
Forderung, bei deren Verwirklichung es in Frankreich aber außerordentlich
hapert. Die Gesellschaft vergißt, die pflichtvergeßnen Eltern zur Rechenschaft
^ ziehn. die ihre Kinder, statt sie in die Schule zu schicken, auf der Straße
herumbummeln lassen. Aber gegen eine einigermaßen wirksame und energische
Überwachung des Familienlebens zum Zwecke der Zurückdrängung der Va-
gabondage bäumt sich die französische Auffassung von Freiheit auf. Vielen


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[0483] Höhe bleibt. In derselben Statistik wird die stärkere Beteiligung der Jugend am Verbrechertum auf die Tatsache zurückgeführt, daß heute in der Presse alles gesagt, ausgebreitet, gedruckt und gezeichnet wird. Danach trägt also die Presse einen großen Teil der Schuld. Allerdings übersteigt jetzt die Reportage Pariser Zeitungen bei sensationellen Verbrechen alle Grenzen des Geschmacks und der Gesittung. Die gräßlichsten Einzelheiten werden bei Morden in den Zeitungen Photvgraphisch wiedergegeben. Man sieht nackte Frauenleichcn in Blutlachen auf dem Boden. Die Gliedmaßen zerstückelter Leichname werden sorgfältig numeriert nebeneinander vor Augen geführt, und die Bilder der Herren Mörder nehmen natürlich den Hauptplatz ein. Für einen Pariser Apachen ist es fast Ehrensache geworden, in der Pariser bürgerlichen Presse als glorreicher Ver¬ brecher abkonterfeit zu werden. Und es ist ganz selbstverständlich, daß durch diese Reklame das jugendliche Gemüt am stärksten getroffen wird. Im Jahre 1905 wurde« in Paris, namentlich im Westen der Stadt. 36 Morde oder Mord¬ versuche verübt, bei denen das jugendliche Alter der Verbrecher auffiel. Keiner von ihnen war zwanzig Jahre alt! Die wachsende Beteiligung der Jugend am Verbrechen, und zwar am schweren Verbrechen, wird deshalb in Frankreich nirgendwo ernstlich bezweifelt. Über die Ursachen dieser Erscheinung, von denen ich schon einige erwähnt habe, ist man sich allerdings nicht ganz so einig, wie aus dem Verlauf der folgenden Darlegungen hervorgehn wird. Vergessen darf man nicht, um damit zu beginnen, daß ein im sozialen Leben der modernen Völker immer wichtiger werdender Faktor, nämlich die Fabrik, an der Verderbnis auch der französischen Jugend zum Teil mit schuld ist. wenn auch kaum jemand so weit gehn wird wie Herr Viviani, der in der Tyrannei des kapitalistischen Systems und der Verelendung der Massen die Hauptursachen für das Anwachsen des jugendlichen Verbrechertums sieht und die Fabrik das Laboratorium des Verbrechens nennt. Allerdings war Herr Viviani, als er diesen Ausspruch tat, uoch nicht Arbeitsminister im Kabinett Clemenceau. sondern einfacher sozialistischer Journalist und Mitarbeiter der Laterne. .Und ich weiß nicht, ob er heute noch ganz so absprechend ur¬ teilen wird. Unschuldig ist freilich die französische Bourgeoisie durchaus nicht. Durch ihre innere Gleichgiltigkeit gegenüber der Frage und ihre Unterlassungs¬ sünden hat sie vielmehr' zweifellos das jugendliche Verbrechertum mit gro߬ züchten helfen. Mit welcher Fahrlässigkeit zum Beispiel behandelt sie die Unterbringung der jugendlichen Vagabunden. Daß diese unbedingt von der Straße aufgelesen werden müßten, noch ehe sie ein Verbrechen begehn, ist eine selbstverständliche Forderung, bei deren Verwirklichung es in Frankreich aber außerordentlich hapert. Die Gesellschaft vergißt, die pflichtvergeßnen Eltern zur Rechenschaft ^ ziehn. die ihre Kinder, statt sie in die Schule zu schicken, auf der Straße herumbummeln lassen. Aber gegen eine einigermaßen wirksame und energische Überwachung des Familienlebens zum Zwecke der Zurückdrängung der Va- gabondage bäumt sich die französische Auffassung von Freiheit auf. Vielen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/483>, abgerufen am 22.07.2024.