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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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politische Bildung und Nationalbewußtsein

gleichenden Hinweis auf die überlegnere Haltung der englischen Presse scheint
nicht genügend betont zu sein, daß wir infolge der politischen Zersplitterung in
Deutschland eigentlich keine führenden Zeitungen besitzen. Fast alle, auch um¬
fangreiche deutsche Blätter reichen mit ihrem Leserkreis und damit ihrem Einfluß
kaum über den Marktbereich des Erscheinungsorts hinaus. Ebenso mißlich
steht es mit der politischen Bildung durch das Vereinswesen. Die Militärvereine
halten wohl die nationale Form der Kultur hoch, den Turnvereinen ist ein
Politisch-schulender Zug nicht abzusprechen, der Kolonial- und der Flottenverein;
der Allgemeine deutsche Schulverein und der Ostmarkenverein haben einen fast
sichtbaren Einfluß auf den Umschwung unsers politischen Denkens ausgeübt,
aber alle vermögen nicht eine systematische Durchdenkung der gesamten innern
und äußern politischen Lage des deutschen Vaterlands zu geben, die uns heute
sehr nottut. Diese kann nur durch die ernste Arbeit der Schule erreicht werden.
Der Verfasser erklärt sich entschieden gegen die Zulassung der Jugend zu den
Politischen Versammlungen und Vereinen im neuen Vereinsgesetz.

Sehr lesenswert ist das sechste Kapitel, das die geschichtlichen Versuche
der politischen Unterweisung durch die Schule behandelt. Ausgehend von der
Staatsauffassung der Alten, wo schon der römische Knabe die Zwölftafelgesetze
auswendig wissen wußte, bespricht der Verfasser ausführlich die Bestrebungen der
neuern Zeit bis zu dem Erlaß des Kaisers vom 1. Mai 1889. Mit anerkennens¬
werter Offenheit wird ausgeführt, daß aus dieser Anregung wenig wurde, weil
man damals und in den folgenden Jahren aus den verschiedensten Beweg¬
gründen gegen den Monarchen frondieren wollte, der Bismarck entlassen hatte
und absolutistischer Neigungen verdächtigt wurde. So ist der heutige Stand
der Sache der, "daß der Staat bis jetzt noch nicht den mannhaften Versuch einer
politischen Schulung des Volks schlechthin gemacht hat, wohl aber in einzel¬
politischen Nöten die Schule um Hilfe angegangen hat, zum Teil mit Erfolg".
Kaum ohne Widerspruch werden die Darlegungen des folgenden Abschnitts
hingenommen werden, der eine Apologetik des Versuchs enthält und mit den,
Ergebnis schließt: "Trotz gewisser Schwierigkeiten, die nicht zu verkennen sind,
bestehn also weder grundsätzliche noch methodische Einwände, die eine Einführung
^s staatsbürgerlichen Unterrichts widerrieten." Übergehend zu praktischen
Vorschlägen gibt der Verfasser zu. daß von einer sofortigen Einführung abgesehn
werden müsse, "da die erforderlichen, hierzu befähigten Lehrkräfte fehlen und
eine Einführung ohne diese Grundlage der guten Sache mehr schaden als nützen
würde". Für die Universitäten ist die Einführung eines Kollegs über Politik.
Rücksichtnahme auf den gewollten Zweck bei den historischen, geographischen und
juristischen Vorlesungen nötig, und der Verfasser hält es für möglich und
"ützlich. eine besondre Lehrbefähigung für Staatslehre zu erwerben. Ferner
^ eine Umgestaltung des Lehrplans für die Mittelschulen und Seminare ge¬
lten. Für die eigentliche Volksschulzeit bis zum vierzehnten Lebensjahre kommt
^"e systematische Staatslehre zunächst kaum in Frage, wohl aber für die


politische Bildung und Nationalbewußtsein

gleichenden Hinweis auf die überlegnere Haltung der englischen Presse scheint
nicht genügend betont zu sein, daß wir infolge der politischen Zersplitterung in
Deutschland eigentlich keine führenden Zeitungen besitzen. Fast alle, auch um¬
fangreiche deutsche Blätter reichen mit ihrem Leserkreis und damit ihrem Einfluß
kaum über den Marktbereich des Erscheinungsorts hinaus. Ebenso mißlich
steht es mit der politischen Bildung durch das Vereinswesen. Die Militärvereine
halten wohl die nationale Form der Kultur hoch, den Turnvereinen ist ein
Politisch-schulender Zug nicht abzusprechen, der Kolonial- und der Flottenverein;
der Allgemeine deutsche Schulverein und der Ostmarkenverein haben einen fast
sichtbaren Einfluß auf den Umschwung unsers politischen Denkens ausgeübt,
aber alle vermögen nicht eine systematische Durchdenkung der gesamten innern
und äußern politischen Lage des deutschen Vaterlands zu geben, die uns heute
sehr nottut. Diese kann nur durch die ernste Arbeit der Schule erreicht werden.
Der Verfasser erklärt sich entschieden gegen die Zulassung der Jugend zu den
Politischen Versammlungen und Vereinen im neuen Vereinsgesetz.

Sehr lesenswert ist das sechste Kapitel, das die geschichtlichen Versuche
der politischen Unterweisung durch die Schule behandelt. Ausgehend von der
Staatsauffassung der Alten, wo schon der römische Knabe die Zwölftafelgesetze
auswendig wissen wußte, bespricht der Verfasser ausführlich die Bestrebungen der
neuern Zeit bis zu dem Erlaß des Kaisers vom 1. Mai 1889. Mit anerkennens¬
werter Offenheit wird ausgeführt, daß aus dieser Anregung wenig wurde, weil
man damals und in den folgenden Jahren aus den verschiedensten Beweg¬
gründen gegen den Monarchen frondieren wollte, der Bismarck entlassen hatte
und absolutistischer Neigungen verdächtigt wurde. So ist der heutige Stand
der Sache der, „daß der Staat bis jetzt noch nicht den mannhaften Versuch einer
politischen Schulung des Volks schlechthin gemacht hat, wohl aber in einzel¬
politischen Nöten die Schule um Hilfe angegangen hat, zum Teil mit Erfolg".
Kaum ohne Widerspruch werden die Darlegungen des folgenden Abschnitts
hingenommen werden, der eine Apologetik des Versuchs enthält und mit den,
Ergebnis schließt: „Trotz gewisser Schwierigkeiten, die nicht zu verkennen sind,
bestehn also weder grundsätzliche noch methodische Einwände, die eine Einführung
^s staatsbürgerlichen Unterrichts widerrieten." Übergehend zu praktischen
Vorschlägen gibt der Verfasser zu. daß von einer sofortigen Einführung abgesehn
werden müsse, „da die erforderlichen, hierzu befähigten Lehrkräfte fehlen und
eine Einführung ohne diese Grundlage der guten Sache mehr schaden als nützen
würde". Für die Universitäten ist die Einführung eines Kollegs über Politik.
Rücksichtnahme auf den gewollten Zweck bei den historischen, geographischen und
juristischen Vorlesungen nötig, und der Verfasser hält es für möglich und
"ützlich. eine besondre Lehrbefähigung für Staatslehre zu erwerben. Ferner
^ eine Umgestaltung des Lehrplans für die Mittelschulen und Seminare ge¬
lten. Für die eigentliche Volksschulzeit bis zum vierzehnten Lebensjahre kommt
^"e systematische Staatslehre zunächst kaum in Frage, wohl aber für die


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[0479] politische Bildung und Nationalbewußtsein gleichenden Hinweis auf die überlegnere Haltung der englischen Presse scheint nicht genügend betont zu sein, daß wir infolge der politischen Zersplitterung in Deutschland eigentlich keine führenden Zeitungen besitzen. Fast alle, auch um¬ fangreiche deutsche Blätter reichen mit ihrem Leserkreis und damit ihrem Einfluß kaum über den Marktbereich des Erscheinungsorts hinaus. Ebenso mißlich steht es mit der politischen Bildung durch das Vereinswesen. Die Militärvereine halten wohl die nationale Form der Kultur hoch, den Turnvereinen ist ein Politisch-schulender Zug nicht abzusprechen, der Kolonial- und der Flottenverein; der Allgemeine deutsche Schulverein und der Ostmarkenverein haben einen fast sichtbaren Einfluß auf den Umschwung unsers politischen Denkens ausgeübt, aber alle vermögen nicht eine systematische Durchdenkung der gesamten innern und äußern politischen Lage des deutschen Vaterlands zu geben, die uns heute sehr nottut. Diese kann nur durch die ernste Arbeit der Schule erreicht werden. Der Verfasser erklärt sich entschieden gegen die Zulassung der Jugend zu den Politischen Versammlungen und Vereinen im neuen Vereinsgesetz. Sehr lesenswert ist das sechste Kapitel, das die geschichtlichen Versuche der politischen Unterweisung durch die Schule behandelt. Ausgehend von der Staatsauffassung der Alten, wo schon der römische Knabe die Zwölftafelgesetze auswendig wissen wußte, bespricht der Verfasser ausführlich die Bestrebungen der neuern Zeit bis zu dem Erlaß des Kaisers vom 1. Mai 1889. Mit anerkennens¬ werter Offenheit wird ausgeführt, daß aus dieser Anregung wenig wurde, weil man damals und in den folgenden Jahren aus den verschiedensten Beweg¬ gründen gegen den Monarchen frondieren wollte, der Bismarck entlassen hatte und absolutistischer Neigungen verdächtigt wurde. So ist der heutige Stand der Sache der, „daß der Staat bis jetzt noch nicht den mannhaften Versuch einer politischen Schulung des Volks schlechthin gemacht hat, wohl aber in einzel¬ politischen Nöten die Schule um Hilfe angegangen hat, zum Teil mit Erfolg". Kaum ohne Widerspruch werden die Darlegungen des folgenden Abschnitts hingenommen werden, der eine Apologetik des Versuchs enthält und mit den, Ergebnis schließt: „Trotz gewisser Schwierigkeiten, die nicht zu verkennen sind, bestehn also weder grundsätzliche noch methodische Einwände, die eine Einführung ^s staatsbürgerlichen Unterrichts widerrieten." Übergehend zu praktischen Vorschlägen gibt der Verfasser zu. daß von einer sofortigen Einführung abgesehn werden müsse, „da die erforderlichen, hierzu befähigten Lehrkräfte fehlen und eine Einführung ohne diese Grundlage der guten Sache mehr schaden als nützen würde". Für die Universitäten ist die Einführung eines Kollegs über Politik. Rücksichtnahme auf den gewollten Zweck bei den historischen, geographischen und juristischen Vorlesungen nötig, und der Verfasser hält es für möglich und "ützlich. eine besondre Lehrbefähigung für Staatslehre zu erwerben. Ferner ^ eine Umgestaltung des Lehrplans für die Mittelschulen und Seminare ge¬ lten. Für die eigentliche Volksschulzeit bis zum vierzehnten Lebensjahre kommt ^"e systematische Staatslehre zunächst kaum in Frage, wohl aber für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/479>, abgerufen am 22.07.2024.