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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Kirche

Hagelschlag versichern, so handeln sie nach dem im Gebot der Nächstenliebe
enthaltnen Grundsatze: alle für einen, einer für alle, und erfüllen außerdem
die Pflicht eines guten Hausvaters und eines klugen Verwalters der von
Gott den Menschen anvertrauten Güter. Man meine ja nicht, es sei über¬
flüssig, dergleichen zu sagen. Man denke nur an Ibsens Gespenster und die
lächerliche Rolle, die der Dichter den Pastor Manders spielen läßt. Als
dieser aufgefordert wird, das neuerbaute Asyl versichern zu lassen, fürchtet er,
man werde ihm, wenn er es tue, das Vertrauen auf Gottes Vorsehung ab¬
sprechen, und er unterläßt die Versicherung, um der Gemeinde kein Ärgernis
zu geben. Eine solche plumpe Karikatur der christlichen Weltanschauung geht
über unsre Bühnen! Und nun die Vererbungsfrage im selben Drama! Weil
der Vater durch Ausschweifung sich selbst vergiftet und der Sohn vom Vater
die Anlage zum Irrsinn geerbt hat, wird mit Gott gehadert, der die Welt
so schlecht eingerichtet habe. Das fehlte gerade noch, daß Gott es übernähme,
die Menschen vor den Folgen ihrer Ausschweifungen zu bewahren und ihnen
damit einen Freibrief zu einem Luderleben ausstellte! Sie vor solchen Übeln
zu schützen, hat er ihnen das Sittengesetz ins Herz geschrieben."

Schiller, Goethe und Lessing werden ja -- anstandshalber -- noch mit¬
unter aufgeführt, auch Shakespeare und (sehr selten freilich) Moliere, daneben
unsre spätern Dichter, die, in gemessenem Abstände, mit Ibsen den Rang
hinter den ganz Großen beanspruchen dürfen, also auf die dritte Stufe ge¬
hören: Hebbel, Otto Ludwig, Grillparzer, Gutzkow. Doch solche Aufführungen
sind Festschmäuse für feinere Seelen, und wie gesagt, was die guten Stücke
wirken, das wirken sie durchs Buch, nicht durch den spärlichen Theatergenuß.
Das tägliche Brot der Theaterbesucher ist andrer Art. Das war schon zu
Lebzeiten der großen Klassiker nicht viel anders. Eine Schauspielerin des
Wiener Burgtheaters soll auf Goethes Frage, ob auch der Tasso dort
manchmal gegeben werde, geantwortet haben: "Wo denkens hin, Exzellenz,
mit so fadem Zeug geben wir uns nit ab." "So so, das ist ja recht schön",
soll die Exzellenz erwidert haben. Eckermann erwähnte einmal, daß sich
Carlyle Mühe gebe, den Wilhelm Meister zu verbreiten; weil er wünsche,
daß jeder Gebildete davon gleichen Gewinn und Genuß hätte. Goethe zog
-- es waren Tischgäste da -- seinen lläus Senates in eine Fensternische und
sprach: "Liebes Kind, ich will Ihnen etwas vertrauen, was Sie sogleich über
vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zugute kommen soll. Meine
Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist
in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für
einzelne Menschen, die etwas ähnliches wollen und suchen und die in ähn¬
lichen Richtungen begriffen sind." Das gilt doch auch von seinen Dramen
mit Ausnahme des Faust, der durch die Gretchenepisode und das szenische
Beiwerk Anziehungskraft ausübt. Das tägliche Brot sind die Novitäten der
Saison, und da es, soviel ich weiß, noch niemand eingefallen ist, einen der
Schöpfer dieser Novitäten einem Ibsen gleichzustellen, so darf ich wohl, ohne


Das Theater als Kirche

Hagelschlag versichern, so handeln sie nach dem im Gebot der Nächstenliebe
enthaltnen Grundsatze: alle für einen, einer für alle, und erfüllen außerdem
die Pflicht eines guten Hausvaters und eines klugen Verwalters der von
Gott den Menschen anvertrauten Güter. Man meine ja nicht, es sei über¬
flüssig, dergleichen zu sagen. Man denke nur an Ibsens Gespenster und die
lächerliche Rolle, die der Dichter den Pastor Manders spielen läßt. Als
dieser aufgefordert wird, das neuerbaute Asyl versichern zu lassen, fürchtet er,
man werde ihm, wenn er es tue, das Vertrauen auf Gottes Vorsehung ab¬
sprechen, und er unterläßt die Versicherung, um der Gemeinde kein Ärgernis
zu geben. Eine solche plumpe Karikatur der christlichen Weltanschauung geht
über unsre Bühnen! Und nun die Vererbungsfrage im selben Drama! Weil
der Vater durch Ausschweifung sich selbst vergiftet und der Sohn vom Vater
die Anlage zum Irrsinn geerbt hat, wird mit Gott gehadert, der die Welt
so schlecht eingerichtet habe. Das fehlte gerade noch, daß Gott es übernähme,
die Menschen vor den Folgen ihrer Ausschweifungen zu bewahren und ihnen
damit einen Freibrief zu einem Luderleben ausstellte! Sie vor solchen Übeln
zu schützen, hat er ihnen das Sittengesetz ins Herz geschrieben."

Schiller, Goethe und Lessing werden ja — anstandshalber — noch mit¬
unter aufgeführt, auch Shakespeare und (sehr selten freilich) Moliere, daneben
unsre spätern Dichter, die, in gemessenem Abstände, mit Ibsen den Rang
hinter den ganz Großen beanspruchen dürfen, also auf die dritte Stufe ge¬
hören: Hebbel, Otto Ludwig, Grillparzer, Gutzkow. Doch solche Aufführungen
sind Festschmäuse für feinere Seelen, und wie gesagt, was die guten Stücke
wirken, das wirken sie durchs Buch, nicht durch den spärlichen Theatergenuß.
Das tägliche Brot der Theaterbesucher ist andrer Art. Das war schon zu
Lebzeiten der großen Klassiker nicht viel anders. Eine Schauspielerin des
Wiener Burgtheaters soll auf Goethes Frage, ob auch der Tasso dort
manchmal gegeben werde, geantwortet haben: „Wo denkens hin, Exzellenz,
mit so fadem Zeug geben wir uns nit ab." „So so, das ist ja recht schön",
soll die Exzellenz erwidert haben. Eckermann erwähnte einmal, daß sich
Carlyle Mühe gebe, den Wilhelm Meister zu verbreiten; weil er wünsche,
daß jeder Gebildete davon gleichen Gewinn und Genuß hätte. Goethe zog
— es waren Tischgäste da — seinen lläus Senates in eine Fensternische und
sprach: „Liebes Kind, ich will Ihnen etwas vertrauen, was Sie sogleich über
vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zugute kommen soll. Meine
Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist
in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für
einzelne Menschen, die etwas ähnliches wollen und suchen und die in ähn¬
lichen Richtungen begriffen sind." Das gilt doch auch von seinen Dramen
mit Ausnahme des Faust, der durch die Gretchenepisode und das szenische
Beiwerk Anziehungskraft ausübt. Das tägliche Brot sind die Novitäten der
Saison, und da es, soviel ich weiß, noch niemand eingefallen ist, einen der
Schöpfer dieser Novitäten einem Ibsen gleichzustellen, so darf ich wohl, ohne


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[0444] Das Theater als Kirche Hagelschlag versichern, so handeln sie nach dem im Gebot der Nächstenliebe enthaltnen Grundsatze: alle für einen, einer für alle, und erfüllen außerdem die Pflicht eines guten Hausvaters und eines klugen Verwalters der von Gott den Menschen anvertrauten Güter. Man meine ja nicht, es sei über¬ flüssig, dergleichen zu sagen. Man denke nur an Ibsens Gespenster und die lächerliche Rolle, die der Dichter den Pastor Manders spielen läßt. Als dieser aufgefordert wird, das neuerbaute Asyl versichern zu lassen, fürchtet er, man werde ihm, wenn er es tue, das Vertrauen auf Gottes Vorsehung ab¬ sprechen, und er unterläßt die Versicherung, um der Gemeinde kein Ärgernis zu geben. Eine solche plumpe Karikatur der christlichen Weltanschauung geht über unsre Bühnen! Und nun die Vererbungsfrage im selben Drama! Weil der Vater durch Ausschweifung sich selbst vergiftet und der Sohn vom Vater die Anlage zum Irrsinn geerbt hat, wird mit Gott gehadert, der die Welt so schlecht eingerichtet habe. Das fehlte gerade noch, daß Gott es übernähme, die Menschen vor den Folgen ihrer Ausschweifungen zu bewahren und ihnen damit einen Freibrief zu einem Luderleben ausstellte! Sie vor solchen Übeln zu schützen, hat er ihnen das Sittengesetz ins Herz geschrieben." Schiller, Goethe und Lessing werden ja — anstandshalber — noch mit¬ unter aufgeführt, auch Shakespeare und (sehr selten freilich) Moliere, daneben unsre spätern Dichter, die, in gemessenem Abstände, mit Ibsen den Rang hinter den ganz Großen beanspruchen dürfen, also auf die dritte Stufe ge¬ hören: Hebbel, Otto Ludwig, Grillparzer, Gutzkow. Doch solche Aufführungen sind Festschmäuse für feinere Seelen, und wie gesagt, was die guten Stücke wirken, das wirken sie durchs Buch, nicht durch den spärlichen Theatergenuß. Das tägliche Brot der Theaterbesucher ist andrer Art. Das war schon zu Lebzeiten der großen Klassiker nicht viel anders. Eine Schauspielerin des Wiener Burgtheaters soll auf Goethes Frage, ob auch der Tasso dort manchmal gegeben werde, geantwortet haben: „Wo denkens hin, Exzellenz, mit so fadem Zeug geben wir uns nit ab." „So so, das ist ja recht schön", soll die Exzellenz erwidert haben. Eckermann erwähnte einmal, daß sich Carlyle Mühe gebe, den Wilhelm Meister zu verbreiten; weil er wünsche, daß jeder Gebildete davon gleichen Gewinn und Genuß hätte. Goethe zog — es waren Tischgäste da — seinen lläus Senates in eine Fensternische und sprach: „Liebes Kind, ich will Ihnen etwas vertrauen, was Sie sogleich über vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zugute kommen soll. Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas ähnliches wollen und suchen und die in ähn¬ lichen Richtungen begriffen sind." Das gilt doch auch von seinen Dramen mit Ausnahme des Faust, der durch die Gretchenepisode und das szenische Beiwerk Anziehungskraft ausübt. Das tägliche Brot sind die Novitäten der Saison, und da es, soviel ich weiß, noch niemand eingefallen ist, einen der Schöpfer dieser Novitäten einem Ibsen gleichzustellen, so darf ich wohl, ohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/444>, abgerufen am 22.07.2024.