Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Theater als Airche

einer Änderung ihrer Richtung, um aus dem Verbrecher einen Helden zu
machen. "Das ästhetische Urteil enthält hierin mehr Wahres, als man ge¬
wöhnlich glaubt. Offenbar kündigen Laster, die von Willensstärke zeugen,
eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freiheit an als Tugenden,
die eine Stütze von der Neigung entlehnen, weil es den konsequenten Böse¬
wicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige Umkehrung der
Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an
das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden." Die Personen der spätern
Stücke Ibsens sind nun meist Schwächlinge oder konfuse Leute, die nicht
wissen, was sie wollen; beweisen sie aber Willenskraft, so sind sie entweder
verschroben wie Hilde Mangel und der Baumeister Solneß oder ekelhafte
Scheusale wie Hedda Gabler. Diese hat jüngst als einen häufig vorkommenden
Typ und darum auf der Bühne daseinsberechtigt ein Theaterreferent gegen
die heftigen Anklagen verteidigt, die der empörte Rosegger in einem offnen
Schreiben an Ibsen gegen sie geschleudert hatte. Der Anwalt würde sich
seine Mühe erspart haben, wenn er wüßte, daß nach einem Bericht des
Münchner Hofschauspielers Schneider Ibsen bloß hat zeigen wollen, "in welche
Exzentrizitäten eine lebhaft veranlagte Frau, die sich in gesegneten Umständen
befindet, in einem vorgerückten Stadium ihres Zustandes verfallen kann".
Also ein Krankheitsbild! Das gehört doch nicht aus die Bühne, sondern in
eine medizinische Zeitschrift. Eine derbe und gute Abfertigung der "Gespenster"
fand ich dieser Tage in einem katholischen Sonntagsblatte. Bei einem
Brückeneinsturz in Köln waren Menschen verunglückt. Bald darauf sah man
im Schaufenster eines Buchhändlers eine Broschüre, die diesen Einsturz und
ähnliche Unglücksfälle zu einem Beweise gegen das Dasein Gottes verwandte.
Das Blatt schreibt nun: "Wenn eine Hausfrau in bodenlosem Leichtsinn
Rattengift im Küchenschrank aufbewahrt, es gelegentlich unter die Speisen
mischt und damit die Familie vergiftet; wenn am Lötschberge in der Schweiz
ein Haus gebaut wird auf einem Platze, den die Eingebornen als lawinen¬
gefährlich bezeichnen, und eine niedergehende Mure dann auch richtig das
neue Haus begräbt; wenn eine leichtsinnig gebaute Brücke einstürzt; wenn
falsche Weichenstellung einen Zusammenstoß herbeiführt -- ist an alledem der
Uebe Gott schuld? Das mag man dort glauben, wo man der Ansicht ist,
falls ein Gott existierte, so würde dieser verpflichtet sein, bei erwachsnen
Menschen Kindermädchen zu spielen. Mit der christlichen Weltanschauung hat
diese Vorstellung von Gott, die bei den Freidenkern zu herrschen scheint,
nichts gemein. Wir halten dafür, daß der Mensch von Gott seinen Verstand
bekommen habe, nicht um ihn in die Schublade einzusperren, sondern um ihn
zu gebrauchen und so die Gefahren abzuwenden, die aus Nachlässigkeit und
Unverstand zu erwachsen pflegen. Wenn also zum Beispiel der Mensch sein
Haus mit einem Blitzableiter versieht, so entspricht das dem Gebot des
Schöpfers: Beherrschet die Erde und machet sie (und natürlich auch ihre
Kräfte) euch Untertan! Und wenn sich die Leute gegen Brandschäden und


Das Theater als Airche

einer Änderung ihrer Richtung, um aus dem Verbrecher einen Helden zu
machen. „Das ästhetische Urteil enthält hierin mehr Wahres, als man ge¬
wöhnlich glaubt. Offenbar kündigen Laster, die von Willensstärke zeugen,
eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freiheit an als Tugenden,
die eine Stütze von der Neigung entlehnen, weil es den konsequenten Böse¬
wicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige Umkehrung der
Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an
das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden." Die Personen der spätern
Stücke Ibsens sind nun meist Schwächlinge oder konfuse Leute, die nicht
wissen, was sie wollen; beweisen sie aber Willenskraft, so sind sie entweder
verschroben wie Hilde Mangel und der Baumeister Solneß oder ekelhafte
Scheusale wie Hedda Gabler. Diese hat jüngst als einen häufig vorkommenden
Typ und darum auf der Bühne daseinsberechtigt ein Theaterreferent gegen
die heftigen Anklagen verteidigt, die der empörte Rosegger in einem offnen
Schreiben an Ibsen gegen sie geschleudert hatte. Der Anwalt würde sich
seine Mühe erspart haben, wenn er wüßte, daß nach einem Bericht des
Münchner Hofschauspielers Schneider Ibsen bloß hat zeigen wollen, „in welche
Exzentrizitäten eine lebhaft veranlagte Frau, die sich in gesegneten Umständen
befindet, in einem vorgerückten Stadium ihres Zustandes verfallen kann".
Also ein Krankheitsbild! Das gehört doch nicht aus die Bühne, sondern in
eine medizinische Zeitschrift. Eine derbe und gute Abfertigung der „Gespenster"
fand ich dieser Tage in einem katholischen Sonntagsblatte. Bei einem
Brückeneinsturz in Köln waren Menschen verunglückt. Bald darauf sah man
im Schaufenster eines Buchhändlers eine Broschüre, die diesen Einsturz und
ähnliche Unglücksfälle zu einem Beweise gegen das Dasein Gottes verwandte.
Das Blatt schreibt nun: „Wenn eine Hausfrau in bodenlosem Leichtsinn
Rattengift im Küchenschrank aufbewahrt, es gelegentlich unter die Speisen
mischt und damit die Familie vergiftet; wenn am Lötschberge in der Schweiz
ein Haus gebaut wird auf einem Platze, den die Eingebornen als lawinen¬
gefährlich bezeichnen, und eine niedergehende Mure dann auch richtig das
neue Haus begräbt; wenn eine leichtsinnig gebaute Brücke einstürzt; wenn
falsche Weichenstellung einen Zusammenstoß herbeiführt — ist an alledem der
Uebe Gott schuld? Das mag man dort glauben, wo man der Ansicht ist,
falls ein Gott existierte, so würde dieser verpflichtet sein, bei erwachsnen
Menschen Kindermädchen zu spielen. Mit der christlichen Weltanschauung hat
diese Vorstellung von Gott, die bei den Freidenkern zu herrschen scheint,
nichts gemein. Wir halten dafür, daß der Mensch von Gott seinen Verstand
bekommen habe, nicht um ihn in die Schublade einzusperren, sondern um ihn
zu gebrauchen und so die Gefahren abzuwenden, die aus Nachlässigkeit und
Unverstand zu erwachsen pflegen. Wenn also zum Beispiel der Mensch sein
Haus mit einem Blitzableiter versieht, so entspricht das dem Gebot des
Schöpfers: Beherrschet die Erde und machet sie (und natürlich auch ihre
Kräfte) euch Untertan! Und wenn sich die Leute gegen Brandschäden und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0443" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/310854"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Theater als Airche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2420" prev="#ID_2419" next="#ID_2421"> einer Änderung ihrer Richtung, um aus dem Verbrecher einen Helden zu<lb/>
machen. &#x201E;Das ästhetische Urteil enthält hierin mehr Wahres, als man ge¬<lb/>
wöhnlich glaubt. Offenbar kündigen Laster, die von Willensstärke zeugen,<lb/>
eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freiheit an als Tugenden,<lb/>
die eine Stütze von der Neigung entlehnen, weil es den konsequenten Böse¬<lb/>
wicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige Umkehrung der<lb/>
Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an<lb/>
das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden." Die Personen der spätern<lb/>
Stücke Ibsens sind nun meist Schwächlinge oder konfuse Leute, die nicht<lb/>
wissen, was sie wollen; beweisen sie aber Willenskraft, so sind sie entweder<lb/>
verschroben wie Hilde Mangel und der Baumeister Solneß oder ekelhafte<lb/>
Scheusale wie Hedda Gabler. Diese hat jüngst als einen häufig vorkommenden<lb/>
Typ und darum auf der Bühne daseinsberechtigt ein Theaterreferent gegen<lb/>
die heftigen Anklagen verteidigt, die der empörte Rosegger in einem offnen<lb/>
Schreiben an Ibsen gegen sie geschleudert hatte. Der Anwalt würde sich<lb/>
seine Mühe erspart haben, wenn er wüßte, daß nach einem Bericht des<lb/>
Münchner Hofschauspielers Schneider Ibsen bloß hat zeigen wollen, &#x201E;in welche<lb/>
Exzentrizitäten eine lebhaft veranlagte Frau, die sich in gesegneten Umständen<lb/>
befindet, in einem vorgerückten Stadium ihres Zustandes verfallen kann".<lb/>
Also ein Krankheitsbild! Das gehört doch nicht aus die Bühne, sondern in<lb/>
eine medizinische Zeitschrift. Eine derbe und gute Abfertigung der &#x201E;Gespenster"<lb/>
fand ich dieser Tage in einem katholischen Sonntagsblatte. Bei einem<lb/>
Brückeneinsturz in Köln waren Menschen verunglückt. Bald darauf sah man<lb/>
im Schaufenster eines Buchhändlers eine Broschüre, die diesen Einsturz und<lb/>
ähnliche Unglücksfälle zu einem Beweise gegen das Dasein Gottes verwandte.<lb/>
Das Blatt schreibt nun: &#x201E;Wenn eine Hausfrau in bodenlosem Leichtsinn<lb/>
Rattengift im Küchenschrank aufbewahrt, es gelegentlich unter die Speisen<lb/>
mischt und damit die Familie vergiftet; wenn am Lötschberge in der Schweiz<lb/>
ein Haus gebaut wird auf einem Platze, den die Eingebornen als lawinen¬<lb/>
gefährlich bezeichnen, und eine niedergehende Mure dann auch richtig das<lb/>
neue Haus begräbt; wenn eine leichtsinnig gebaute Brücke einstürzt; wenn<lb/>
falsche Weichenstellung einen Zusammenstoß herbeiführt &#x2014; ist an alledem der<lb/>
Uebe Gott schuld? Das mag man dort glauben, wo man der Ansicht ist,<lb/>
falls ein Gott existierte, so würde dieser verpflichtet sein, bei erwachsnen<lb/>
Menschen Kindermädchen zu spielen. Mit der christlichen Weltanschauung hat<lb/>
diese Vorstellung von Gott, die bei den Freidenkern zu herrschen scheint,<lb/>
nichts gemein. Wir halten dafür, daß der Mensch von Gott seinen Verstand<lb/>
bekommen habe, nicht um ihn in die Schublade einzusperren, sondern um ihn<lb/>
zu gebrauchen und so die Gefahren abzuwenden, die aus Nachlässigkeit und<lb/>
Unverstand zu erwachsen pflegen. Wenn also zum Beispiel der Mensch sein<lb/>
Haus mit einem Blitzableiter versieht, so entspricht das dem Gebot des<lb/>
Schöpfers: Beherrschet die Erde und machet sie (und natürlich auch ihre<lb/>
Kräfte) euch Untertan!  Und wenn sich die Leute gegen Brandschäden und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0443] Das Theater als Airche einer Änderung ihrer Richtung, um aus dem Verbrecher einen Helden zu machen. „Das ästhetische Urteil enthält hierin mehr Wahres, als man ge¬ wöhnlich glaubt. Offenbar kündigen Laster, die von Willensstärke zeugen, eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freiheit an als Tugenden, die eine Stütze von der Neigung entlehnen, weil es den konsequenten Böse¬ wicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige Umkehrung der Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden." Die Personen der spätern Stücke Ibsens sind nun meist Schwächlinge oder konfuse Leute, die nicht wissen, was sie wollen; beweisen sie aber Willenskraft, so sind sie entweder verschroben wie Hilde Mangel und der Baumeister Solneß oder ekelhafte Scheusale wie Hedda Gabler. Diese hat jüngst als einen häufig vorkommenden Typ und darum auf der Bühne daseinsberechtigt ein Theaterreferent gegen die heftigen Anklagen verteidigt, die der empörte Rosegger in einem offnen Schreiben an Ibsen gegen sie geschleudert hatte. Der Anwalt würde sich seine Mühe erspart haben, wenn er wüßte, daß nach einem Bericht des Münchner Hofschauspielers Schneider Ibsen bloß hat zeigen wollen, „in welche Exzentrizitäten eine lebhaft veranlagte Frau, die sich in gesegneten Umständen befindet, in einem vorgerückten Stadium ihres Zustandes verfallen kann". Also ein Krankheitsbild! Das gehört doch nicht aus die Bühne, sondern in eine medizinische Zeitschrift. Eine derbe und gute Abfertigung der „Gespenster" fand ich dieser Tage in einem katholischen Sonntagsblatte. Bei einem Brückeneinsturz in Köln waren Menschen verunglückt. Bald darauf sah man im Schaufenster eines Buchhändlers eine Broschüre, die diesen Einsturz und ähnliche Unglücksfälle zu einem Beweise gegen das Dasein Gottes verwandte. Das Blatt schreibt nun: „Wenn eine Hausfrau in bodenlosem Leichtsinn Rattengift im Küchenschrank aufbewahrt, es gelegentlich unter die Speisen mischt und damit die Familie vergiftet; wenn am Lötschberge in der Schweiz ein Haus gebaut wird auf einem Platze, den die Eingebornen als lawinen¬ gefährlich bezeichnen, und eine niedergehende Mure dann auch richtig das neue Haus begräbt; wenn eine leichtsinnig gebaute Brücke einstürzt; wenn falsche Weichenstellung einen Zusammenstoß herbeiführt — ist an alledem der Uebe Gott schuld? Das mag man dort glauben, wo man der Ansicht ist, falls ein Gott existierte, so würde dieser verpflichtet sein, bei erwachsnen Menschen Kindermädchen zu spielen. Mit der christlichen Weltanschauung hat diese Vorstellung von Gott, die bei den Freidenkern zu herrschen scheint, nichts gemein. Wir halten dafür, daß der Mensch von Gott seinen Verstand bekommen habe, nicht um ihn in die Schublade einzusperren, sondern um ihn zu gebrauchen und so die Gefahren abzuwenden, die aus Nachlässigkeit und Unverstand zu erwachsen pflegen. Wenn also zum Beispiel der Mensch sein Haus mit einem Blitzableiter versieht, so entspricht das dem Gebot des Schöpfers: Beherrschet die Erde und machet sie (und natürlich auch ihre Kräfte) euch Untertan! Und wenn sich die Leute gegen Brandschäden und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/443
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/443>, abgerufen am 22.07.2024.