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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Kirche

soll ihm das Theater schaffen helfen. Aber wie sieht es um die Erfüllung
seines Wunsches aus? Seit Goethes Götz, Schillers Wallenstein und Tell
ist uns kein vaterländisches Drama großen Stils mehr beschert worden.
Einige Neuere haben mehr preußisch- als deutschpatriotische Stücke geschrieben,
aber diese haben sich die Bühne nicht erobert. Wagners Musikdramen,
wenigstens die Nibelungentrilogie, werden von manchen für echt deutsch er¬
klärt; andre jedoch bestreiten es,*) und jedenfalls bleibt ihre Wirkung schon
der schwer verständlichen Musik und der Kosten der Aufführung wegen auf
die Kreise der Vornehmen und Reichen beschränkt. Otto Ludwigs Erbförster
ist gewiß deutsch, aber was bedeutet er für die Bühne neben der Luftiger
Witwe und dem Weißen Rössel? Was unsre Bühne beherrscht, das sind die
französischen Ehebruch- und Dirnenstücke, die, wie wir von Schmidt ver¬
nommen haben, nicht einmal in Frankreich volkstümlich, sondern nur dem
Geschmack der dekadenten Weltstadtgesellschaft angepaßt sind, dann die be¬
rühmten Skandinavier und die nach diesen Vorbildern gearbeiteten Stücke
deutscher Autoren.

Lohnt es sich da noch, nach dem Keime der im Theater zu installierenden
Zukunftskirche zu suchen? Werden die dramatischen Produktionen an der
hohen Aufgabe, die man der Bühne zuweisen möchte, gemessen, so müssen
wir sie nach vier Stufen ordnen. Auf der ersten und niedrigsten stehn die
negativ wirkenden, die schlimme Leidenschaften erregen und falsche, verderbliche
Meinungen verbreiten. Eine Stufe höher finden wir die harmlosen, die
bloß unterhalten und erheitern und damit immerhin Dank verdienen. Auf
der dritten, bis jetzt höchsten treffen wir die Stücke von ästhetischem Wert
und von Gedankenreichtum. Sollte das Theater die Kirche ersetzen, so müßte
eine höchste vierte Stufe erklommen werden. Die Stücke dieser Stufe müßten
den Vorzügen derer der dritten noch den zugesellen, daß sie die neue Welt¬
anschauung und die neue Moral, die beide zusammen das Christentum ersetzen
sollen, in verständlicher und packender Weise lehrten. Ob nun auf dem
Boden des naturwissenschaftlich-materialistischen oder des idealistischen Monis¬
mus -- nur um eine dieser beiden Weltanschauungen kann es sich handeln
überhaupt dramatische Poesie gedeihen kann (lyrische haben wir schon, nament¬
lich solche von pessimistischer Färbung), das muß erst die Zukunft lehren?
jedenfalls ist damit noch kein Versuch gemacht worden. Sehen wir nun zu,
auf welchen der drei andern Stufen die modernen Bühnenerzeugnisse unter¬
zubringen sind, so müssen wir natürlich mit denen Ibsens beginnen, weil er
der anerkannt größte Dramatiker der letzten Jahrzehnte ist. Seine nordisch-



*) Nachträglich lese ich in einem Abschnitt aus dem jetzt veröffentlichten Werke Loo^
Komo von Nietzsche: "Ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche
xs,r sxvöllöiK-s. ... So gewiß Wagner unter Deutschen bloß ein Mißverständnis ist, so gewiß
bin ichs und werde es immer sein." Er rühmt sich wieder seiner polnischen Abstammung. "J^
selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben."
Das Theater als Kirche

soll ihm das Theater schaffen helfen. Aber wie sieht es um die Erfüllung
seines Wunsches aus? Seit Goethes Götz, Schillers Wallenstein und Tell
ist uns kein vaterländisches Drama großen Stils mehr beschert worden.
Einige Neuere haben mehr preußisch- als deutschpatriotische Stücke geschrieben,
aber diese haben sich die Bühne nicht erobert. Wagners Musikdramen,
wenigstens die Nibelungentrilogie, werden von manchen für echt deutsch er¬
klärt; andre jedoch bestreiten es,*) und jedenfalls bleibt ihre Wirkung schon
der schwer verständlichen Musik und der Kosten der Aufführung wegen auf
die Kreise der Vornehmen und Reichen beschränkt. Otto Ludwigs Erbförster
ist gewiß deutsch, aber was bedeutet er für die Bühne neben der Luftiger
Witwe und dem Weißen Rössel? Was unsre Bühne beherrscht, das sind die
französischen Ehebruch- und Dirnenstücke, die, wie wir von Schmidt ver¬
nommen haben, nicht einmal in Frankreich volkstümlich, sondern nur dem
Geschmack der dekadenten Weltstadtgesellschaft angepaßt sind, dann die be¬
rühmten Skandinavier und die nach diesen Vorbildern gearbeiteten Stücke
deutscher Autoren.

Lohnt es sich da noch, nach dem Keime der im Theater zu installierenden
Zukunftskirche zu suchen? Werden die dramatischen Produktionen an der
hohen Aufgabe, die man der Bühne zuweisen möchte, gemessen, so müssen
wir sie nach vier Stufen ordnen. Auf der ersten und niedrigsten stehn die
negativ wirkenden, die schlimme Leidenschaften erregen und falsche, verderbliche
Meinungen verbreiten. Eine Stufe höher finden wir die harmlosen, die
bloß unterhalten und erheitern und damit immerhin Dank verdienen. Auf
der dritten, bis jetzt höchsten treffen wir die Stücke von ästhetischem Wert
und von Gedankenreichtum. Sollte das Theater die Kirche ersetzen, so müßte
eine höchste vierte Stufe erklommen werden. Die Stücke dieser Stufe müßten
den Vorzügen derer der dritten noch den zugesellen, daß sie die neue Welt¬
anschauung und die neue Moral, die beide zusammen das Christentum ersetzen
sollen, in verständlicher und packender Weise lehrten. Ob nun auf dem
Boden des naturwissenschaftlich-materialistischen oder des idealistischen Monis¬
mus — nur um eine dieser beiden Weltanschauungen kann es sich handeln
überhaupt dramatische Poesie gedeihen kann (lyrische haben wir schon, nament¬
lich solche von pessimistischer Färbung), das muß erst die Zukunft lehren?
jedenfalls ist damit noch kein Versuch gemacht worden. Sehen wir nun zu,
auf welchen der drei andern Stufen die modernen Bühnenerzeugnisse unter¬
zubringen sind, so müssen wir natürlich mit denen Ibsens beginnen, weil er
der anerkannt größte Dramatiker der letzten Jahrzehnte ist. Seine nordisch-



*) Nachträglich lese ich in einem Abschnitt aus dem jetzt veröffentlichten Werke Loo^
Komo von Nietzsche: „Ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche
xs,r sxvöllöiK-s. ... So gewiß Wagner unter Deutschen bloß ein Mißverständnis ist, so gewiß
bin ichs und werde es immer sein." Er rühmt sich wieder seiner polnischen Abstammung. „J^
selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben."
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[0440] Das Theater als Kirche soll ihm das Theater schaffen helfen. Aber wie sieht es um die Erfüllung seines Wunsches aus? Seit Goethes Götz, Schillers Wallenstein und Tell ist uns kein vaterländisches Drama großen Stils mehr beschert worden. Einige Neuere haben mehr preußisch- als deutschpatriotische Stücke geschrieben, aber diese haben sich die Bühne nicht erobert. Wagners Musikdramen, wenigstens die Nibelungentrilogie, werden von manchen für echt deutsch er¬ klärt; andre jedoch bestreiten es,*) und jedenfalls bleibt ihre Wirkung schon der schwer verständlichen Musik und der Kosten der Aufführung wegen auf die Kreise der Vornehmen und Reichen beschränkt. Otto Ludwigs Erbförster ist gewiß deutsch, aber was bedeutet er für die Bühne neben der Luftiger Witwe und dem Weißen Rössel? Was unsre Bühne beherrscht, das sind die französischen Ehebruch- und Dirnenstücke, die, wie wir von Schmidt ver¬ nommen haben, nicht einmal in Frankreich volkstümlich, sondern nur dem Geschmack der dekadenten Weltstadtgesellschaft angepaßt sind, dann die be¬ rühmten Skandinavier und die nach diesen Vorbildern gearbeiteten Stücke deutscher Autoren. Lohnt es sich da noch, nach dem Keime der im Theater zu installierenden Zukunftskirche zu suchen? Werden die dramatischen Produktionen an der hohen Aufgabe, die man der Bühne zuweisen möchte, gemessen, so müssen wir sie nach vier Stufen ordnen. Auf der ersten und niedrigsten stehn die negativ wirkenden, die schlimme Leidenschaften erregen und falsche, verderbliche Meinungen verbreiten. Eine Stufe höher finden wir die harmlosen, die bloß unterhalten und erheitern und damit immerhin Dank verdienen. Auf der dritten, bis jetzt höchsten treffen wir die Stücke von ästhetischem Wert und von Gedankenreichtum. Sollte das Theater die Kirche ersetzen, so müßte eine höchste vierte Stufe erklommen werden. Die Stücke dieser Stufe müßten den Vorzügen derer der dritten noch den zugesellen, daß sie die neue Welt¬ anschauung und die neue Moral, die beide zusammen das Christentum ersetzen sollen, in verständlicher und packender Weise lehrten. Ob nun auf dem Boden des naturwissenschaftlich-materialistischen oder des idealistischen Monis¬ mus — nur um eine dieser beiden Weltanschauungen kann es sich handeln überhaupt dramatische Poesie gedeihen kann (lyrische haben wir schon, nament¬ lich solche von pessimistischer Färbung), das muß erst die Zukunft lehren? jedenfalls ist damit noch kein Versuch gemacht worden. Sehen wir nun zu, auf welchen der drei andern Stufen die modernen Bühnenerzeugnisse unter¬ zubringen sind, so müssen wir natürlich mit denen Ibsens beginnen, weil er der anerkannt größte Dramatiker der letzten Jahrzehnte ist. Seine nordisch- *) Nachträglich lese ich in einem Abschnitt aus dem jetzt veröffentlichten Werke Loo^ Komo von Nietzsche: „Ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche xs,r sxvöllöiK-s. ... So gewiß Wagner unter Deutschen bloß ein Mißverständnis ist, so gewiß bin ichs und werde es immer sein." Er rühmt sich wieder seiner polnischen Abstammung. „J^ selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/440>, abgerufen am 22.07.2024.