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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Junge Richter und junge Rechtsanwälte

erfahren habe, auf welche Weise der Vormann den Anspruch erworben hat; ich
versuche hiermit, ihm die Vorteile seiner Arglist zu sichern, indem ich mein
formales Recht dazu mißbrauche, die Geltendmachung von Einreden zum Vor¬
teil meines Vormanns und zum Schaden des Schuldners zu verhindern.

Man wird zur Begründung dieser Ansicht vielleicht richtiger sagen, daß
ich gar nicht Eigentümer und Gläubiger geworden war, sondern bloßer Ein¬
ziehungsbevollmächtigter; aber keinesfalls hat die Rechtsprechung Anlaß, der¬
artig versteckte Geschäfte mit besondrer Vorliebe zu behandeln. Mag jedoch
die Begründung so oder anders zu geben sein; mit Recht bemerkt Bähr: "Das
Rechtsbewußtsein, der innere Sinn für Gerechtigkeit schafft das eigentliche Recht
der Praxis, hilft dieser in vielen Fällen über die Schwäche juristischer Theorien
hinweg. Bei unzähligen praktischen Entscheidungen fühlt man, daß sie mit
unzulänglichen Theorien arbeiten, aber sie kommen doch am rechten Ziel an."

Und schließlich ein anders gearteter Fall. Die Lage eines Geschäftshauses
an einer verkehrreichen Straße, eines vornehmen Wohnhauses an einem öffent¬
lichen Schmuckplatz ist unleugbar ein Vorteil, der den Wert des Hauses erhöht.
Andrerseits sind aber öffentliche Wege und Plätze Eigentum der Gemeinde, die
über dies ihr Eigentum frei verfügen kann; danach müßte die Gemeinde auch
berechtigt sein, die Straße oder den Platz beliebig zu verändern, auch gänzlich
zu verlegen, ohne Rücksicht darauf, daß die an der Straße gebauten Häuser
hierdurch mehr oder minder entwertet werden. Einer solchen Annahme ist
aber die Rechtsprechung entgegengetreten; sie hat gefolgert, daß die Gemeinde
durch Anlegung der Straße ihren Willen zum Ausdruck bringe, daß der Anbau
an der Straße erfolgen, daß diese mithin von dem andauerten Hauseigentümer
als Mittel für die Verwendung des Hauses zum Verkehr benutzt werden soll,
und daß sonach durch den Anbau an der Straße zwischen dem Anbauenden
und der Gemeinde ein Privatrechtsverhältnis geschaffen wird, das die Natur
eines Dienstbarkeitsverhältnisses hat, so zwar, daß der Hauseigentümer Ver¬
änderungen der Straße nicht hindern, wohl aber von der Gemeinde Ersatz für
die Nachteile verlangen kann, die ihm durch die Veränderung entstehn. So
hat hier die Rechtsprechung eine die Anforderungen des Rechtsverkehrs be¬
friedigende Lösung einer Frage gefunden, die überhaupt in keiner gesetzlichen
Bestimmung geregelt ist.

Es liegt auf der Hand, daß die soeben beschriebne Aufgabe des Richters
überaus schwierig ist. Er soll das Gesetz mit seinen Mängeln anwenden,
es aber möglichst den Anforderungen, die der Rechtsverkehr stellt, anpassen-
Da ist die Gefahr naheliegend, daß der Richter über die zulässige Anwendung
des Gesetzes hinausgeht und in das verfällt, was man in neuerer Zeit als
"freie Rechts'findung" bezeichnet. Das ist natürlich unzulässig; denn hiermit
würde der Richter sich selbst zum Gesetzgeber machen. Der Freiheit
des richterlichen Ermessens wird durch das Gesetz selbst ein weiter Spielraum
eröffnet, und indem er diese betätigt, wendet der Richter das Gesetz an. Der


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erfahren habe, auf welche Weise der Vormann den Anspruch erworben hat; ich
versuche hiermit, ihm die Vorteile seiner Arglist zu sichern, indem ich mein
formales Recht dazu mißbrauche, die Geltendmachung von Einreden zum Vor¬
teil meines Vormanns und zum Schaden des Schuldners zu verhindern.

Man wird zur Begründung dieser Ansicht vielleicht richtiger sagen, daß
ich gar nicht Eigentümer und Gläubiger geworden war, sondern bloßer Ein¬
ziehungsbevollmächtigter; aber keinesfalls hat die Rechtsprechung Anlaß, der¬
artig versteckte Geschäfte mit besondrer Vorliebe zu behandeln. Mag jedoch
die Begründung so oder anders zu geben sein; mit Recht bemerkt Bähr: „Das
Rechtsbewußtsein, der innere Sinn für Gerechtigkeit schafft das eigentliche Recht
der Praxis, hilft dieser in vielen Fällen über die Schwäche juristischer Theorien
hinweg. Bei unzähligen praktischen Entscheidungen fühlt man, daß sie mit
unzulänglichen Theorien arbeiten, aber sie kommen doch am rechten Ziel an."

Und schließlich ein anders gearteter Fall. Die Lage eines Geschäftshauses
an einer verkehrreichen Straße, eines vornehmen Wohnhauses an einem öffent¬
lichen Schmuckplatz ist unleugbar ein Vorteil, der den Wert des Hauses erhöht.
Andrerseits sind aber öffentliche Wege und Plätze Eigentum der Gemeinde, die
über dies ihr Eigentum frei verfügen kann; danach müßte die Gemeinde auch
berechtigt sein, die Straße oder den Platz beliebig zu verändern, auch gänzlich
zu verlegen, ohne Rücksicht darauf, daß die an der Straße gebauten Häuser
hierdurch mehr oder minder entwertet werden. Einer solchen Annahme ist
aber die Rechtsprechung entgegengetreten; sie hat gefolgert, daß die Gemeinde
durch Anlegung der Straße ihren Willen zum Ausdruck bringe, daß der Anbau
an der Straße erfolgen, daß diese mithin von dem andauerten Hauseigentümer
als Mittel für die Verwendung des Hauses zum Verkehr benutzt werden soll,
und daß sonach durch den Anbau an der Straße zwischen dem Anbauenden
und der Gemeinde ein Privatrechtsverhältnis geschaffen wird, das die Natur
eines Dienstbarkeitsverhältnisses hat, so zwar, daß der Hauseigentümer Ver¬
änderungen der Straße nicht hindern, wohl aber von der Gemeinde Ersatz für
die Nachteile verlangen kann, die ihm durch die Veränderung entstehn. So
hat hier die Rechtsprechung eine die Anforderungen des Rechtsverkehrs be¬
friedigende Lösung einer Frage gefunden, die überhaupt in keiner gesetzlichen
Bestimmung geregelt ist.

Es liegt auf der Hand, daß die soeben beschriebne Aufgabe des Richters
überaus schwierig ist. Er soll das Gesetz mit seinen Mängeln anwenden,
es aber möglichst den Anforderungen, die der Rechtsverkehr stellt, anpassen-
Da ist die Gefahr naheliegend, daß der Richter über die zulässige Anwendung
des Gesetzes hinausgeht und in das verfällt, was man in neuerer Zeit als
„freie Rechts'findung" bezeichnet. Das ist natürlich unzulässig; denn hiermit
würde der Richter sich selbst zum Gesetzgeber machen. Der Freiheit
des richterlichen Ermessens wird durch das Gesetz selbst ein weiter Spielraum
eröffnet, und indem er diese betätigt, wendet der Richter das Gesetz an. Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/386>, abgerufen am 22.07.2024.